Von der Königstochter, die aus ihrem Schlosse alles in ihrem Reiche sah

[von Josef Haltrich]

Eine schöne Königstochter wohnte in einem Schlosse, das hoch oben ein Zimmer mit zwölf Fenstern hatte. Aus jedem Fenster sah sie ihr ganzes Reich. Aus dem ersten Fenster war der Blick aber nur verschwommen, auch nicht bis in alle Winkel reichend. Aus dem zweiten Fenster sah sie schon etwas mehr, aus dem dritten noch mehr und so fort, bis sie zuletzt im zwölften Fenster alles ganz deutlich erkannte, sodass in ihrem Reiche über und unter der Erde nichts verborgen blieb.

Die Königstochter hatte aber verkünden lassen, dass sie den zum Gemahl nehmen werde, der sich so verbergen kann, dass sie ihn nicht findet. Wer es aber versucht und von ihr gefunden wird, der müsse dafür sein Leben lassen. Schon siebenundneunzig Jünglinge hatten ihr Leben gewagt. Die Königstochter hatte alle gefunden und ihre Häupter auf Pfähle stecken lassen. Da wollte sich dann lange niemand melden.

Endlich kamen aber drei Brüder daher. Der Älteste versuchte als Erster sein Glück und kroch in ein Loch, wo weißer Kalk war. Die Königstochter sah ihn aber schon im ersten Fenster, rief ihn hervor, und ließ ihm das Haupt abschlagen. Der Zweite verkroch sich im Keller des Schlosses, doch die Königstochter sah ihn gleich wieder aus dem ersten Fenster. Sie rief ihn hervor, ließ ihn enthaupten und sein Haupt zu den anderen stecken.

Als nun der Jüngste sich meldete und vortrat, bat er zunächst um einen Tag Bedenkzeit und um die Gnade, sich nicht nur einmal sondern dreimal verstecken zu dürfen. Die Königstochter bewilligte ihm das gerne, denn sie glaubte nicht daran, dass es ihm gelingen könne.

Nun hatte der Junge seinen Tag Bedenkzeit und zerbrach sich den Kopf, wo er sich verstecken könnte, doch es fiel ihm nichts ein.

Da nahm er seine Büchse und ging auf die Jagd, um sich ein wenig zu zerstreuen. Zuerst kam ihm ein Rabe vor die Flinte, der aber rief: "Schieße nicht, denn ich werde mich erkenntlich zeigen!" Da ging der Junge weiter und kam schon bald an einen See. Dort überraschte er einen großen Fisch und wollte ihn schon schießen. Der Fisch aber rief: "Schieße nicht, und du wirst es nicht bereuen!" Der Junge setzte seine Büchse wieder ab und ging weiter. Da sah er plötzlich einen hinkenden Fuchs. Schnell riss er die Büchse hoch und schoss, ehe der Fuchs es sich noch überlegen konnte. Der Schuss ging aber daneben und der Fuchs rief : "Komm lieber her und zieh mir den Dorn aus meinem Fuß!" Der Junge eilte hin und tat es, denn er wollte sich den Fuchs jetzt schnappen. "Lass es gut sein", sprach der Fuchs, "ich werde dich auch belohnen." Der Junge glaubte es und ließ ihn laufen. Nun hatte er aber nichts geschossen und auch kein geeignetes Versteck gefunden.

Am nächsten Tag ging der Junge verzweifelt in den Wald zum Raben und sprach: "Ich habe dich leben lassen. Gib mir doch ein Rat, wohin ich mich verkriechen soll, dass die Königstochter mich nicht sieht." Der Rabe dachte lange, lange nach. Endlich sprach er: "Ich hab's!" Er brachte ein Ei aus seinem Nest, zerlegte es vorsichtig in zwei Teile, schloss den Jungen hinein und machte das Ei wieder zu. Dann legte er das Ei in sein Nest und setzte sich darauf.

Als nun die Königstochter mit der Suche begann, konnte sie im ersten, zweiten, dritten und vierten Fenster nichts entdecken. Da erschrak sie nicht wenig und ging weiter. Auch im fünften, sechsten, siebenten, achten, neunten und zehnten Fenster sah sie nichts, doch im elften erblickte sie endlich, was sie suchte. Sogleich ließ sie den Raben erschießen und das Ei holen. Der Junge kletterte traurig aus dem zerbrochenen Ei und die Königstochter sprach: "Das war dein erster Versuch. Fange es beim nächsten Mal gescheiter an!"

Der Junge wusste weder ein noch aus. Da ging er an den See, rief dem Fisch und sprach: "Ich habe dich doch leben lassen. Sage mir jetzt, wo ich mich verbergen soll, dass die Königstochter mich nicht sieht!" Der Fisch überlegte lange und sprach: "Ich hab's! Du bist in meinem Bauche gut verborgen."

Der Fisch verschluckte ihn sogleich und tauchte bis auf den tiefsten Grund des Sees. Die Königstochter sah nun wieder durch alle Fenster bis zum elften, doch umsonst. Da ging sie an das zwölfte Fenster, und erblickte das Versteck. Sie ließ den Fisch gleich fangen und töten, worauf der Junge aus seinem Versteck hervorkommen musste. "Es bleibt dir noch ein letzter Versuch", sagte die Königstochter, "dann wartet der Pfahl auf dein Haupt."

Der Junge wusste nun bei seinem Leben nicht, wo er sich vor der Königstochter noch verbergen konnte. Verzweifelt ging er in den Wald und sah den Fuchs umherschleichen. "Hör mich an", rief der Junge, "ich habe dich leben lassen. Jetzt rate mir, wo ich mich verstecken soll, dass die Königstochter mich nicht findet." Der Fuchs schüttelte seinen Kopf und sprach: "Hm, das ist ein schweres Stück, aber folge mir!" Sie gingen zu einer Quelle, wo der Fuchs zuerst eintauchte. Er wurde alsbald ein Marktkrämer und Tierhändler. "Jetzt tauche du hinein!", rief er. Der Junge tat es und wurde sogleich ein niedliches kleines Meerhäslein. Dann zog der Kaufmann mit seiner Ware in die Stadt.

Schon bald kam alles Volk zusammen, um das schöne Meerhäslein zu sehen, so auch die Königstochter. Es gefiel ihr so sehr, dass sie es kaufte. Der Kaufmann hatte dem Meerhäslein aber gesagt, es solle der Königstochter unter den Zopf kriechen, wenn sie zum Fenster gehe. Kurz darauf war es für die Königstochter Zeit, nach dem Jungen Ausschau zu halten. Sie trat zum ersten Fenster, sah nichts und warf es zu, dass es schepperte. Sogleich trat sie ans zweite und sah nichts. Da schlug sie es auch zu, dass die Scherben flogen. So machte sie es auch bei den anderen Fenstern, bis hin zum elften. Als sie dann das zwölfte Fenster zuschlug, bebte das ganze Schloss, und das Glas zersprang in tausend Stücke.

In ihrem Zorn packte sie nun das Meerhäslein unter ihrem Zopf, warf es zu Boden und rief: "Fort mit dir, aus meinen Augen!" Da lief das Tierchen zum Kaufmann zurück, und beide eilten zur Quelle, wo sie eintauchten. Der Kaufmann verwandelte sich in den Fuchs zurück, das Meerhäslein in den Jungen. Dieser dankte dem Fuchs und sprach: "Der Rabe und der Fisch waren nicht so schlau wie du. Das muss ich dir lassen." Der Fuchs freute sich über dieses Lob und lief fröhlich davon.

Der Junge aber ging nun wieder in das Schloss, wo die Königstochter schon ungeduldig wartete. Nun wurde die Hochzeit gefeiert und der Junge zum König ausgerufen. Seiner Gemahlin erzählte er aber nie, wo er sich zuletzt versteckt und wer geholfen hatte. Die Königstochter blieb also in dem Glauben, er habe alles selber getan und behandelte ihn fortan mit großem Respekt.