Der goldene Vogel

  • Autor: Haltrich, Josef

[von Josef Haltrich]

Es war einmal ein König, der baute eine so schöne Kirche, dass weit und breit keine schönere zu finden war. Da kam eines Tages ein Wandersmann aus weiter Ferne, der staunte lange über die schöne Kirche. Der König ging zu ihm und fragte, wie sie ihm gefalle. Der Wandersmann sprach: "Es ist die schönste Kirche, die ich je gesehen habe. Darin fehlt nur der goldene Vogel, dem Perlen aus dem Munde fallen, wenn er singt!" Da fragte der König, wo dieses Tier zu finden wäre. "Das weiß ich nicht", sprach der Wandersmann, "ich habe aber von ihm gehört!"

Der König hatte nun keine Ruhe mehr und dachte immer nur daran, wie er den goldenen Vogel bekommen könnte. Da kam der älteste von seinen drei Söhnen zu ihm und sagte: "Vater, ich will ausziehen und den goldenen Vogel suchen." Der König war froh, gab ihm das beste Pferd und ließ ihn ziehen.

Am Nachmittag rastete der Königssohn in der Nähe eines Waldes und machte sich ein Feuer an. Da kam ein Fuchs gelaufen und jammerte: "Ach, wie friere ich!" "So mache dir ein Feuer und wärme dich", sprach der Königssohn und nahm sein Essen hervor. Der Fuchs rief wieder: "Ach, wie hungert es mich!" "So suche dir was und sättige dich", sprach der Königssohn, und der Fuchs lief fort.

Der Königssohn stand nach dem Mahl auf und zog weiter. Nach einiger Zeit hatte er all sein Reisegut aufgezehrt und geriet auch in schlechte Gesellschaft. Er verkaufte sein Ross, machte Schulden und verdingte sich als Knecht in einem Wirtshaus.

Bald darauf machte sich der zweite Königssohn auf den Weg, um den goldenen Vogel zu suchen. Der König gab auch ihm ein stattliches Ross mit auf die Reise, doch es sollte ihm wie dem älteren Bruder ergehen. Als er sich am Waldrand ein Feuer gemacht hatte, kam wieder der Fuchs gelaufen und jammerte: "Ach, wie friere ich. Ach, wie hungert es mich!" "So mache dir Feuer und wärme dich. Und suche dir was, womit du dich sättigen kannst", sagte der Königssohn. Kaum war der Fuchs verschwunden, zog er weiter. Er geriet in schlechte Gesellschaft, brachte sein ganzes Geld durch, verkaufte sein Ross, machte Schulden und musste sich zuletzt als Kellner in einem Wirtshaus verdingen.

Einige Zeit später trat auch der Jüngste vor den König und sprach: "Vater, ich will ausziehen und den Vogel suchen!" "Wo denkst du hin", sprach der König, "wenn deine Brüder nichts ausgerichtet haben, wirst du es am wenigsten können." Der Sohn ließ aber nicht nach, bis der König endlich einwilligte. Dieses Mal gab er dem Sohn nur ein schlechtes Ross und wenig Geld mit, denn er dachte: "Es wird ihm nie und nimmer gelingen!"

Der Knabe ritt nun fort, doch sein Pferd sank schon draußen vor der Stadt zusammen. Er musste jetzt zu Fuß gehen, und kam erst am folgenden Tage zu dem Waldrand. Dort machte er sich Feuer. Da erschien der Fuchs und rief: "Ach, wie friere ich!" "So komm und wärme dich", erwiderte der Junge. Dann nahm er sein Essen hervor, und der Fuchs jammerte: "Ach, wie hungert es mich!" "So komm und sättige dich", sprach der Junge mitleidig. Der Fuchs kam zum Feuer, aß und schlief dann bis zum Morgen neben dem Jungen.

Als dieser erwachte und fortgehen wollte, sagte der Fuchs: "Deine Brüder haben sich meiner nicht erbarmt, und darum haben sie auch den goldenen Vogel nicht erwerben können. Weil du dich aber um mich gekümmert hast, will ich dir beistehen. Gehe nur weiter durch diesen Wald. Der ist noch sieben Tage lang, dann kommst du auf eine große Wiese. Am Ende der Wiese erblickst du ein großes Schloss. Dort gehe hinein, und du wirst sehen, was du zu tun hast." Zuletzt gab er dem Jungen noch eine silberne Flöte und sprach: "Wenn du in höchster Not bist und dir selber nicht helfen kannst, so blase darauf, und ich will kommen und dir beistehen!"

Nach sieben Tagen kam der Junge auf die Wiese und sah das Schloss. Dann erblickte er unter einem Baume eine schöne Jungfrau. Sie weinte, als sie ihn sah, und sprach: "Wie kommst du hierher? Mein Herr ist ein Drache mit sechs Häuptern. Er wird dich umbringen!" "Ich fürchte mich nicht und will mit ihm kämpfen!", rief der Junge.

Der Junge ging ins Schloss und sah ein großes Schwert an der Wand, nahm es und übte ein wenig damit. Da kam plötzlich der Drache daher und schnaubte Feuer, doch der Junge schwang geschickt das Schwert und hieb ihm alle sechs Häupter auf einmal ab. Nun war die Jungfrau sehr froh, umarmte ihn und wünschte, er solle doch bei ihr bleiben. Der Junge aber sagte, das könne nicht geschehen. Er müsse den goldenen Vogel suchen, ob sie das denn nicht wüsste. "Davon weiß ich nichts", sprach sie. "Gehe aber zu jenem Schlosse hinüber, denn dort wohnt meine jüngere Schwester. Vielleicht kann sie dir etwas sagen." Die Jungfrau gab ihm noch einen kupfernen Apfel und sprach: "Wenn du daran drehst, so fliege ich zu dir!"

So ging der junge Königssohn dann zum zweiten Schlosse, wo er wieder eine schöne Jungfrau fand, die ihn weinend ansah. "Wehe dir", sprach sie, "mein Herr ist ein neunhäuptiger Drache. Wenn er heimkehrt, wird er dich umbringen!" "Ich fürchte mich nicht und will mit ihm kämpfen!", rief der Junge und schwang sein Schwert in der Luft. Schon bald kam der Drache wie ein Gewitter herbeigefahren und schnaubte Feuer. Der Junge hob sein Schwert und schlug ihm auf einmal alle neun Häupter ab. Die Jungfrau war überglücklich, und wünschte, der tapfere Königssohn möge doch bei ihr bleiben. Er aber sprach: "Das geht nicht, ich muss den goldenen Vogel suchen. Kannst du mir sagen, wo er zu finden ist?" Die Jungfrau antwortete: "Gehe zu meiner jüngsten Schwester in jenes Schloss, dort am Fluss. Sie wird dir helfen!" Und sie gab ihm eine silberne Birne und sprach: "Wenn du sie drehst, so fliege ich zu dir!"

Als der Junge in das dritte Schloss kam, war da wieder eine wunderschöne Jungfrau. Sie weinte, als sie ihn sah, und sprach: "Was tust du hier? Mein Herr ist ein zwölfhäuptiger Drache, und er wird dich umbringen, wenn er heimkehrt." - "Ich fürchte mich nicht", sprach der Junge. "Zwei Drachen habe ich schon umgebracht, die konnten mir nichts anhaben." Er nahm sein Schwert und schwang es in der Luft. Bald darauf kam der Drache wie Donner und Sturm hereingefahren. Der Junge schwang das Schwert und schlug ihm elf Häupter auf einmal ab. Als er aber das zwölfte abschlug, waren die elf schon wieder nachgewachsen. Und als er die elf Häupter zum zweiten Male abhieb, war das zwölfte wieder nachgewachsen. So ging es den ganzen Tag, bis der Junge gegen Abend mit letzter Kraft alle zwölf Häupter zur gleichen Zeit abschlagen konnte.

Die Jungfrau war sehr erfreut und wünschte, der Königssohn solle doch immer bei ihr bleiben. "Das will ich gerne tun", erwiderte er, "aber zuvor muss ich den goldenen Vogel haben und meinem Vater bringen. Sage mir, wo der zu finden ist." Sie sprach: "Der Vogel kommt jedes Jahr einmal auf diesen Baum vor dem Fenster geflogen. Er singt aber nur einmal, am Neujahrsmorgen, ehe die Sonne aufgeht. Ich gebe ihn dir, denn er ist mein. Also warte nur, bis er kommt." Das ließ sich der Königssohn gerne gefallen, aber die Jungfrau hatte ihn so lieb, dass sie ihn nicht wieder ziehen lassen wollte.

Als der Neujahrsmorgen kam, stopfte sie ihm heimlich die Ohren im Schlafe zu. Der goldene Vogel kam und sang auch, doch der Junge hörte er nichts. Als dann die Sonne aufging, war der Vogel schon wieder fort. "Wo ist der Vogel? Er kommt ja gar nicht!", rief der Junge traurig, als er erwachte. "Er war schon da und hat gesungen", antwortete die Jungfrau. Sieh nur die Perlen unter dem Baume, die sind aus seinem Munde gefallen. Jetzt, da du verschlafen hast, musst du noch ein weiteres Jahr warten."

Was sollte der Junge nur tun? Er musste bleiben, und er war gar nicht mehr fröhlich wie zuvor. Als nun die Jungfrau sah, wie sehr sich der Junge nach der Heimat sehnte, wollte sie ihn nicht länger zurückhalten. Am nächsten Neujahrsmorgen weckte sie ihn rechtzeitig auf. Der Vogel kam, setzte sich auf den Baum und sang, und ringsum lag alles voller Perlen. Darauf lockte sie den Vogel auf ihre Hand, sperrte ihn in einen goldenen Käfig und überreichte ihn dem Königssohn.

Damit er aber schneller nach Hause kommen konnte, gab sie ihm ein Pferd, das sechs Füße hatte. Und sie schenkte ihm auch noch eine goldene Pflaume und sprach: "Wenn du sie drehst, so fliege ich zu dir." So zog der Königssohn nun auf seinem Pferd wie im Fluge heimwärts.

Am Abend gelangte er zu einem Wirtshaus, wo sein älterer Bruder als Kellner arbeitete. Er sah sehr schlecht aus, doch der Jüngste erkannte ihn und erzählte, dass er mit dem Goldenen Vogel auf dem Heimweg sei. "Ich würde gerne mit dir gehen", sprach der ältere Bruder, "aber ich habe große Schulden." "Ich will sie für dich begleichen", sagte der Jüngste und kaufte ihm sogar noch ein Pferd.

Am nächsten Morgen ritten sie froh gelaunt weiter, und kehrten am Abend in ein Wirtshaus ein. Hier war der älteste der Brüder Stallknecht und bekam gerade eine Tracht Prügel. Da erkannten sie ihren Bruder, und der Jüngste sprach: "Komm mit uns nach Hause, ich führe den goldenen Vogel heim." "Das möchte ich gerne", sagte der Älteste, "aber mein Herr will, dass ich noch drei Pferde abdiene, die ich ihm zugrunde gerichtet habe." "Lass mich nur machen" sagte der Jüngste. Am anderen Morgen bezahlte er die Schulden und kaufte ein Pferd für seinen Bruder. Jetzt konnten alle drei zusammen nach Hause reiten.

Als sie so ritten, sprach der Jüngste: "Unser Vater hat große Stücke auf euch gehalten, und nun wird er sehen, dass ich den goldenen Vogel bringe!" Da wurden die Brüder zornig und beredeten untereinander, den Jüngsten zu töten. Als dieser in der Nacht schlief, stachen sie ihm die Augen aus, hieben ihm Arme und Füße ab und warfen ihn in einen tiefen Brunnen. Dann nahmen sie sein schönes Ross und den Käfig mit dem goldenen Vogel, eilten zu ihrem Vater, und hielten einen großen Aufzug. "Siehe Vater", sprachen sie, "mit viel Arbeit und Gefahr ist es uns gelungen, den Vogel zu bekommen!" Da freute sich der Vater und ließ den Käfig gleich in die Kirche auf den Altar stellen.

Der Vogel ließ aber die Flügel traurig hängen und sang nicht. Auch das schöne sechsfüßige Ross ließ niemand in seine Nähe und noch weniger auf seinen Rücken kommen.

Der Verstümmelte aber lag im Brunnen und wusste sich nicht zu helfen. Da fiel ihm, als er sich ein wenig streckte, der kupferne Apfel aus der Tasche und drehte sich. Gleich flog die älteste der geretteten Jungfrauen in einem kupfernen Mantel herbei und fragte, was geschehen sei: "Sieh mich an", sprach er. "Morgentau ist gut für abgehauene Füße", rief sie und flog fort. Schon bald kam sie mit einer Hand voll Tau zurück und bestrich ihm die Beine, worauf seine Füße gleich frisch und gesund waren. Die Jungfrau holte nun die silberne Birne aus seiner Tasche, drehte sie und verschwand.

Nun flog die zweite Jungfrau in einem silbernen Mantel herbei und fragte, was es gebe. "Sieh mich an", sprach er. "Morgentau ist gut für abgehauene Arme", sprach sie und flog fort. Auch sie brachte eine Hand voll Tau und bestrich ihn damit, sodass die Arme und Hände im Nu frisch und gesund waren.

Kaum war die Jungfrau wieder fort, griff der Junge in seine Tasche, nahm die goldene Pflaume hervor und drehte sie. Sogleich flog die jüngste der Jungfrauen im goldenen Mantel herbei und fragte, was sie für ihn tun könne. "Du siehst es", sagte er "Morgentau ist gut für fehlende Augen", sprach sie. Sie flog fort, brachte eine Hand voll Tau und benetzte damit die Augenhöhlen. Sogleich hatte er frische und gesunde Augen und sah die Jungfrau in ihrer vollen Schönheit vor sich. Ehe er sich aber bedanken konnte, war sie fort.

Nun sah der Junge erst, wo er war. Nur wie sollte er aus dem tiefen Brunnen herauskommen? Er überlegte kurz und nahm die silberne Flöte aus seiner Tasche, die ihm der Fuchs gegeben hatte. Dann blies er darauf, und sogleich stand der Fuchs oben am Brunnen. "Was gibt es?", fragte er. "Ich kann nicht hinaus", erwiderte der Junge. Da sprang der Fuchs in den Brunnen und sagte: " Halte dich gut an meinem Schwanze fest." Wie das geschehen war, sprang der Fuchs hinaus, zog ihn mit und sprach: "Jetzt kannst du dir wieder selber helfen", und lief in den Wald zurück.

Da wanderte der Junge los und gelangte noch am Abend nach Hause. Der König freute sich gar nicht über seine Ankunft, weil er arm wie eine Kirchenmaus daherkam. Dann aber erzählte der Jüngste, wie er den goldenen Vogel und das sechsfüßige Ross erworben hatte, und wie die Brüder mit ihm umgegangen waren. Der alte König wollte das nicht glauben. Da sagte der Junge: "Ich will es beweisen. Eines steht doch fest! Wer den goldenen Vogel zum Singen bringt und das sechsfüßige Ross unbeschadet reitet, der muss es rechtmäßig erworben haben." "Ja, das ist gewiss", sprach der König.

Nun versuchten es zuerst die beiden älteren Brüder. Das Ross aber ließ sie nicht herankommen, und der goldene Vogel sang nicht einen einzigen Ton, als sie in die Kirche traten.

Jetzt versuchte es der Jüngste. Als das Ross ihn erblickte, wieherte es laut vor Freude und stand wie ein Lamm, bis er aufstieg. Dann ritt er eine Zeit lang hin und her. Darauf stieg er ab und ging zur Kirche. Kaum hatte er die Schwelle betreten, hob der Vogel seine Flügel und sang auf einmal so wunderschön, dass dem König die Augen vor Freude übergingen.

Er fiel seinen Jüngsten um den Hals und sprach: "Verzeihe mir, dass ich dich weniger als deine Brüder geachtet habe. Nimm die beiden, und mache mit ihnen, was du willst." "Dann will ich mich sogleich an ihnen rächen", sagte der Jüngste.

Er nahm den kupfernen Apfel hervor und drehte ihn. Sogleich flog die älteste der Jungfrauen herbei und hatte einen kupfernen Mantel an. Sie war sehr schön, und die Königin rief: "Ei, mein Sohn, du weißt gut zu wählen." Der Jüngste aber fasste die Jungfrau bei der Hand, führte sie zu seinem ältesten Bruder und sprach: "Das soll deine Frau sein, willst du?" Er war hoch erfreut und nahm an.

Jetzt drehte der Jüngste die silberne Birne, und es kam die Jungfrau im silbernen Mantel herbeigeflogen und war noch schöner. "Ei, nimm diese", rief die Königin, "denn sie zweifellos die Schönste." Der Jüngste aber nahm sie bei der Hand, führte sie zu seinem mittleren Bruder und fragte: "Willst du sie zur Gemahlin?" Da konnte dieser einfach nicht ablehnen.

Nun drehte der Königssohn die goldene Pflaume, und schon kam die jüngste der erretteten Jungfrauen herbeigeflogen. Sie trug einen goldnen Mantel, der mit Edelsteinen und Perlen vom goldenen Vogel geschmückt war. Die alte Königin wunderte sich sehr über diesen wahrhaft prächtigen Anblick. "Eine gute Wahl", sprach sie zu ihrem Jüngsten, "denn diese hier ist wahrlich unvergleichlich!" Der Jüngste nahm die Jungfrau nun selbst zu seinem Weibe, und sie lebten viele Jahre als Königspaar glücklich und zufrieden. Als aber nach langen Jahren die schöne Königin starb, verschwand auch das sechsfüßige Ross und der goldene Vogel aus der Kirche, und seitdem hat man beide nie mehr gesehen.