Die Nachbarfamilien

[von Hans Christian Andersen]

Man konnte wirklich glauben, dass im Dorfteiche irgendetwas am Werke sei. Alle Enten ruderten plötzlich ans Land, ob sie nun geruhsam auf dem Wasser lagen oder auf dem Kopfe standen, denn das konnten sie. Man konnte in dem feuchten Boden die Spuren ihrer Füße sehen, und ein gutes Stück weit hören, was sie schrieen. Eben war das Wasser noch blank wie ein Spiegel gewesen, sodass man jeden Baum, jeden Busch, das alte Bauernhaus mit den Löchern im Giebel und dem Schwalbennest darin sehen konnte. Besonders schön war aber der große Rosenbusch mit all seinen Blüten, der über die Mauer bis fast ins Wasser hinabhing. Das Ganze erschien wie ein Gemälde auf dem Wasser, aber alles auf dem Kopfe.

Doch als jetzt das Wasser in Unruhe geriet, lief alles ineinander, und das ganze Bild verschwand. Zwei Entenfedern, die den Enten beim Fliegen ausgefallen waren, schaukelten auf und nieder. Mit einem Male fingen sie an, fortzutreiben, als ob der Wind übers Wasser bliese. Dann lagen die Federn wieder stille. Das Wasser wurde wieder spiegelglatt, und man konnte deutlich darin den Giebel mit dem Schwalbennest und den Rosenstrauch sehen. Jede Rose spiegelte sich. Sie waren so prächtig und schön, doch sie wussten nichts davon, denn niemand hatte es ihnen gesagt. Die Sonne schien in ihre feinen Blätter hinein, die ganz voller Duft waren. Das war für die Rosen gerade so schön wie für uns, wenn wir in glückliche Gedanken versunken sind.

"Wie herrlich ist das Leben!", sagte jede Rose. "Das Einzige, was ich noch wünschen möchte, wäre, dass ich die Sonne küssen dürfte, weil sie so warm und klar ist. Ja, und die Rosen dort unten im Wasser möchte ich auch küssen. Sie gleichen uns so sehr. Ich möchte die süßen, kleinen Vögel dort unten im Neste küssen. Hoch oben, über uns, sind auch noch welche, und sie strecken die Köpfe heraus und piepen ganz leise. Auch haben sie noch gar keine Federn, wie ihr Vater und ihre Mutter. Oh ja, es sind gute Nachbarn, die wir über uns und unter uns haben. Wie herrlich ist doch das Leben."

Die kleinen Vögel oben und unten - unten war ja nur ein Spiegelbild im Wasser - waren Spatzen. Sie hatten sich in das leere Schwalbennest vom vorigen Jahre gesetzt. Dort lagen sie nun und fühlten sich zu Hause.

"Sind das Entenkinder, die dort schwimmen?", fragten die Spatzenjungen, als sie die Entenfedern auf dem Wasser dahintreiben sahen.

"Ihr sollt vernünftige Fragen stellen", sagte die Mutter. "Seht ihr nicht, dass es Federn sind, lebendiges Kleiderzeug, wie ich es habe und wie ihr es auch bekommen werdet? Wenn wir sie nur oben im Neste hätten, denn das wärmt. Ich würde aber gerne wissen, was die Enten so erschreckt hat. Es muss etwas aus dem Wasser gewesen sein, denn ich war es bestimmt nicht, obwohl ich freilich etwas laut ‚Piep' zu euch gesagt habe. Die dickköpfigen Rosen müssten es eigentlich wissen, aber sie wissen nie etwas. Sie sehen nur sich selbst an und riechen stark. Ich habe mit diesen Nachbarn nicht viel zu schaffen."

"Hört die süßen, kleinen Vögel da oben", sagten die Rosen. "Die Jungen wollen jetzt auch anfangen zu singen. Sie können noch nicht recht, aber es wird schon werden. Was muss das für ein Vergnügen sein! Es ist doch ganz hübsch, solche lustige Nachbarn zu haben."

Da kamen zwei Pferde im Galopp daher, denn sie sollten getränkt werden. Ein Bauernjunge saß auf dem einen. Er hatte alle seine Kleider ausgezogen bis auf seinen schwarzen Hut, der groß und breit war. Der Knabe pfiff, als sei er ein kleiner Vogel, und ritt in den Teich bis an die tiefste Stelle. Als er an dem Rosenstrauch vorbeikam, riss er eine der Rosen ab und steckte sie auf den Hut. So glaubte er recht geputzt zu sein und ritt wieder fort. Die anderen Rosen sahen ihrer Schwester nach und fragten einander: "Wo reist sie hin?", aber das wusste niemand.

"Ich möchte wohl auch in die Welt hinaus!", sagte die eine zur anderen. "Aber hier zu Hause in unserem eigenen Grün ist es doch genauso schön. Am Tage scheint die Sonne warm, und nachts strahlt der Himmel noch schöner! Da können wir durch die vielen kleinen Löcher sehen, die darin sind!"

Es waren die Sterne, die sie für Löcher hielten, denn die Rosen wussten es nicht besser.

"Wir bringen Leben ins Haus", sagte die Spatzenmutter, "und die Schwalben bringen Glück, sagen die Leute. Aber der Nachbar dort, der große Rosenbusch an der Mauer, setzt nur Feuchtigkeit an. Ich hoffe, er kommt bald fort, dann kann doch Korn dort wachsen. Rosen sind nur zum Ansehen und Riechen da, und man kann sie höchstens noch an den Hut stecken. Jedes Jahr, das weiß ich von meiner Mutter, fallen sie ab. Die Bauersfrau salzt sie ein, und sie bekommen einen französischen Namen, den ich nicht aussprechen kann. Und dann werden sie aufs Feuer gelegt, wenn es gut riechen soll. Seht, das ist ihr Lebenslauf! Sie sind nur für Augen und Nase. Nun wisst ihr es."

Als es Abend wurde und die Mücken in der warmen Luft tanzten und die Wolken sich rot färbten, kam die Nachtigall. Sie sang den Rosen vor, dass das Schöne in der Welt wie der Sonnenschein sei, und dass es ewig lebe. Aber die Rosen glaubten, dass die Nachtigall von sich selbst singe, und das konnte man ja auch glauben. Es fiel ihnen gar nicht ein, dass der Gesang ihnen gelten sollte. Aber sie wurden fröhlich dabei und dachten daran, ob nicht all die kleinen Spatzenjungen auch zu Nachtigallen werden könnten.

"Ich verstand sehr gut, was der Vogel sang", sagten die Spatzenjungen. "Es war nur ein Wort dabei, das ich nicht verstanden habe. Was ist ‚das Schöne'?" "Das ist gar nichts!", sagte die Spatzenmutter. "Das ist nur so ein Ausdruck. - Da oben auf dem Herrenhofe haben sie zwei Vögel mit grünem Halse und einer Krone auf dem Kopfe. Ihr Schwanz kann sich ausbreiten, bis er wie ein großes Rad aussieht. Es hat so viele Farben, dass einem die Augen wehtun. Pfauen werden diese Vögel genannt, und ihr Anblick ist "das Schöne". Man sollte sie nur ein wenig rupfen, dann sähen sie auch nicht anders aus, wie wir anderen. Ich hätte auf sie losgehackt, wenn sie nur nicht so groß wären!" "Ich will sie hacken!", sagte das kleinste Spatzenjunge. Es hatte noch nicht einmal Federn.

Im Bauernhof wohnten zwei junge Leute, die hatten einander sehr lieb. Sie waren fleißig und flink, und es war überall hübsch bei ihnen. Am Sonntagmorgen ging die junge Frau hinaus, nahm eine ganze Hand voll der schönsten Rosen, setzte sie in ein Wasserglas und stellte sie mitten auf die Kommode.

"Nun kann ich sehen, dass Sonntag ist!", sagte der Mann, küsste seine süße, kleine Frau, und sie setzten sich nieder. Dann lasen sie einen Psalm aus der Bibel und hielten einander bei den Händen. Die Sonne schien durchs Fenster auf die frischen Rosen und die jungen Leute.

"Es ist wirklich langweilig, immer wieder dasselbe sehen zu müssen!", sagte die Spatzenmutter, die aus dem Nest geradewegs in die Stube sah. Also flog sie davon. Dasselbe tat sie am nächsten Sonntag, denn jeden Sonntag kamen frische Rosen ins Glas, und immer blühte die Rosenhecke gleich schön. Die Spatzenjungen, die nun Federn bekommen hatten, wollten gerne mitfliegen, aber die Mutter sagte: "Ihr bleibt hier." Und so blieben sie im Nest. Die Mutter flog davon und fand sich plötzlich in einer Vogelschlinge aus Pferdehaaren wieder, die ein paar Knaben an einem Zweig festgebunden hatten. Die Pferdehaare zogen sich fest um ihr Bein, als ob sie es zerschneiden wollten. Das war ein Schmerz und ein Schreck! Die Knaben sprangen flink hinzu und griffen den Vogel grausam hart. "Es ist nur ein Spatz", sagten sie, aber sie ließen ihn nicht wieder fliegen. Die beiden Jungen nahmen ihn mit nach Hause, und jedes Mal, wenn der schrie, gaben sie ihm eins auf den Schnabel.

Im Bauernhof stand ein alter Mann, der konnte Seife für Bart und Hände machen, Seife in Kugeln und Stücken. Er war lustiger, alter Wandersmann. Als er den Spatz sah, mit dem die Knaben daherkamen, fragte er sie: "Wollen wir ihn schön machen?" Die Spatzenmutter überkam ein Grausen, als er das sagte. Der Alte nahm aus seinem Kasten, worin die herrlichsten Farben lagen, eine ganze Menge glitzerndes Schaumgold. Die Jungen mussten hineinlaufen und ein Ei herbeischaffen. Von diesem Ei nahm er nur das Weiße und bestrich damit den ganzen Vogel. Dann klebte er das Schaumgold darauf, und nun war die Spatzenmutter vergoldet. Aber sie dachte nicht an ihren Staat und zitterte an allen Gliedern. Der Seifenmann aber nahm ein rotes Läppchen, das er vom Futter seiner alten Jacke riss, schnitt das Läppchen zu einem gezackten Hahnenkamm und klebte ihn dem Vogel auf den Kopf.

"Nun sollt ihr sehen, wie der Goldvogel fliegt!", sagte er und ließ den Spatz los, der mit entsetzlichster Angst in dem hellen Sonnenschein davonflog. Nein, wie er glitzerte! Alle Spatzen, selbst eine große Krähe erschraken bei diesem Anblick. Aber sie flogen doch hinterher, denn sie wollten wissen, was das für ein vornehmer Vogel sei.

"Woher? woher?", schrie die Krähe. "Halte ein. Halte ein" riefen die Spatzen. Aber der vornehme Vogel wollte nicht. Erfüllt von Angst und Entsetzen flog die Spatzenmutter heim zu ihrem Nest. Sie war nahe daran, umzusinken, und noch immer eilten die Vögel herbei, kleine und große. Einige flogen dicht heran, um auf sie loszuhacken. "Da hast du! Da hast du!", schrieen sie alle zusammen.

"Seht nur, seht nur!" schrieen die Jungen, als die Mutter endlich das Nest erreicht hatte. "Das muss ein junger Pfau sein. Da sind alle die Farben, die den Augen weh tun, wie und die Mutter sagte. Das ist ‚das Schöne'!" Und dann hackten sie mit ihren kleinen Schnäbeln, sodass es ihr nicht möglich war, ins Nest zu schlüpfen. Die Spatzenmutter war ganz matt vor Angst. Sie konnte nicht einmal mehr "Piep" sagen, noch viel weniger "Ich bin eure Mutter". Die anderen Vögel hackten nun auch auf sie los, dass die Federn flogen, bis sie blutig in den Rosenstrauch niedersank.

"Das arme Tier!", sagten die Rosen. "Komm, wir wollen dich verbergen! Bette dein kleines Köpfchen auf uns!" Die Spatzenmutter breitete noch einmal die Flügel aus und faltete sie wieder fest an ihren Leib. Dann war sie gestorben, ausgerechnet bei der Nachbarfamilie, den frischen, schönen Rosen.

"Piep", sagten die Spatzenjungen im Neste, "wo mag nur unsere Mutter bleiben. Das ist ja gar nicht zu begreifen! Sollte es etwa eine List von ihr sein, dass wir nun selbst für uns sorgen müssen! Das Haus hat sie uns als Erbteil überlassen, aber wer von uns soll es alleine besitzen, wenn wir Familie bekommen?" Darauf sagte der Kleinste zu den anderen: "Ja, ich kann euch nicht hier behalten, wenn ich mir eine Frau und Kinder anschaffe!" "Ich bekomme wohl eher eine Frau und Kinder als du!", rief der Zweite. "Aber ich bin der älteste!", erwiderte ein Dritter. Der Streit wurde immer heftiger. Sie schlugen mit den Flügeln, hackten mit dem Schnäbeln, und bums wurde einer nach dem anderen aus dem Neste geworfen. Da lagen sie nun mit Wut im Herzen. Sie wendeten den Köpfe voneinander ab und blinzelten dabei mit den Augen. Das war so ihre Art zu trotzen.

Immerhin konnten sie schon ein wenig fliegen und übten nun etwas mehr. Zuletzt wurden sie darüber einig, dass sie "Piep" sagen und dreimal mit dem linken Fuße scharren wollten, wenn sie einander in der Welt begegneten. Daran wollten sie sich erkennen.

Das Junge, das im Neste zurückblieb, machte sich so breit wie es nur konnte. Es war ja nun Hauseigentümer. Aber die Freude dauerte nicht lange. In der Nacht leuchtete ein roter Feuerschein aus den Fenstern. Die Flammen schlugen unter dem Dache heraus, und das dürre Stroh loderte empor. So verbrannte das ganze Haus und der junge Spatz gleich mit. Zum Glück waren die jungen Leute aber mit dem Schreck davongekommen.

Als die Sonne am nächsten Morgen aufgegangen war, und alles erfrischt wie nach einem sanften Nachtschlaf dastand, war von dem Bauernhause kaum noch etwas übrig. Es waren nur noch schwarze, verkohlte Balken da, die sich mühsam an den Schornstein lehnten. Der Boden rauchte noch stark, aber der Rosenstrauch stand noch immer frisch und blühend da und spiegelte jeden Zweig und jede Blüte in dem stillen Wasser.

"Nein, wie hübsch sehen die Rosen doch vor dem abgebrannten Hause aus!", rief ein Mann, der vorüberkam. Das ist ein gar liebliches kleines Bild. Das muss ich haben!" Und der Mann zog ein kleines Buch mit weißen Blättern aus der Tasche und nahm seinen Bleistift zur Hand, denn er war ein Maler. Dann zeichnete er den rauchenden Schutt, die verkohlten Balken an dem einsam ragenden Schornstein, der sich mehr und mehr neigte, und ganz im Vordergrunde den großen, blühenden Rosenstrauch. Der war freilich wunderschön, und er trug ja auch die Schuld daran, dass das Ganze gezeichnet wurde.

Später am Tage kamen zwei von den Spatzen vorbei, die hier geboren waren. "Wo ist das Haus?", fragten sie, "Wo ist das Nest? - Piep, alles ist verbrannt, und unser starker Bruder ist mitverbrannt. Das hat er davon, dass er das Nest behielt. Die Rosen sind gut davongekommen! Sie stehen noch immer mit roten Wangen da. Trauern tun sie also nicht über das Unglück der Nachbarn! Ich spreche nicht mit ihnen!" Dann flogen sie davon.

Spät im Herbst gab es einen herrlichen Sonnentag. Man hätte fast glauben mögen, es sei mitten im Sommer. Im Hofe vor der großen Treppe beim Gutsbesitzer war es trocken und sauber. Dort spazierten die Tauben, die schwarzen, die weißen und die bunten, und glänzten im Sonnenschein. Die alte Taubenmutter plusterte sich auf und sagte zu den Jungen: "Steht in Gruppen! Steht in Gruppen!", denn es sollte was hermachen.

"Was ist denn nur das kleine Graue, das zwischen uns herumläuft?", fragte eine alte Taube, deren Augen rot und grün leuchteten. "Das kleine Graue, das kleine Graue!", rief eine andere Taube. "Das sind Spatzen, die guten Tierchen! Wir Tauben haben immer den Ruf gehabt, die frömmsten unter den Vögeln zu sein, darum sollten wir den Spatzen großzügig erlauben, mitzupicken! - Sie scharren doch so niedlich mit dem Füßchen."

Ja, sie scharrten dreimal mit dem linken Bein, aber sie sagten auch "Piep". Da erkannten sie sich! Es waren die drei Spatzen aus dem abgebrannten Haus. "Hier ist gutes Futter für alle!", riefen sie. Und die Tauben gingen umeinander herum, brüsteten sich und gaben nur etwas auf die eigene Meinung.

"Siehst du die fette Kropftaube", sagte die eine zur anderen Taube, "siehst du, wie sie die Erbsen herunterschluckt? Sie bekommt immer die besten Kurr, kurr. Siehst du, was sie für einen kahlen Kopf schon bekommt? Sieh nur das alte, boshafte Tier! Knurr, knurr!" Und dann schillerten alle Augen ganz rot vor Bosheit. "Steht in Gruppen! Steht in Gruppen. Das kleine Graue, das kleine Graue! Knurr, knurr!", ging es in einem fort, und so geht es wohl noch in tausend Jahren.

Die Spatzen fraßen gut und hörten gut, ja, sie stellten sich sogar mit in die Gruppen. Aber das sah nur wenig beeindruckend aus. Satt waren sie nun, deshalb gingen sie von den Tauben fort und sprachen sich untereinander aus. Dann hüpften sie unter dem Gartenzaun hindurch. Dort stand die Tür zum Gartenzimmer offen und einer hüpfte auf die Türschwelle. Er war übersättigt und deshalb besonders mutig: "Piep", sagte er, "das wage ich!" "Piep", sagte der andere, "das wage ich auch und noch etwas mehr!" Und so hüpfte er in die Stube. Es waren keine Leute darin, das sah der Dritte wohl, und deshalb flog er noch weiter in das Zimmer hinein und sagte: "Ganz oder gar nicht. Aber was ist das für ein merkwürdiges Menschennest. Nein, was ist das nur?"

Gerade vor den Spatzen blühten ja die Rosen. Sie spiegelten sich dort im Wasser, und die verkohlten Balken lehnten sich gegen den Schornstein! - Nein, was war das nur? Wie kam dies in die Stube des Gutsherrn? Die drei Spatzen wollten über die Rosen und den Schornstein fliegen, aber sie flogen gegen eine flache Wand. Das Ganze war ein Gemälde, ein großes, prächtiges Werk, das der Maler nach seiner kleinen Zeichnung angefertigt hatte. "Piep", sagten die Spatzen, "das ist nicht wirklich, das sieht nur so aus. Piep! Das ist das Schöne! Kannst du das begreifen, ich kann es nicht!" Und dann flogen sie fort, denn es kamen Menschen in das Zimmer.

Nun vergingen Jahr und Tag. Die Tauben hatten viele Male gekurrt, um nicht zu sagen geknurrt, die boshaften Tiere! Die Spatzen hatten im Winter gefroren und im Sommer lustig darauf los gelebt. Sie waren allesamt verlobt oder verheiratet oder wie man es sonst nennen will. Junge hatten sie auch, und ein jeder hatte natürlich die schönsten und klügsten. Einer flog hierhin, einer flog dorthin, und wenn sie sich trafen, so erkannten sie sich an ihrem "Piep" und dem dreimaligen Scharren mit dem linken Fuße.

Die älteste von den Spatzen war nun schon eine alte Jungfer. Sie hatte kein Nest und auch keine Jungen. Sie wollte aber gern einmal eine große Stadt sehen, und so flog sie nach Kopenhagen. Dort war ein großes Haus mit vielen Farben. Es stand dicht beim Schloss an dem Kanal, wo die Schiffe mit Äpfeln und Töpfen an den Ufern lagen. Die Fenster waren unten breiter als oben, und guckten die Spatzen hinein, so war jedes Zimmer mit allen möglichen Farben und Schnörkeln geschmückt, und mitten darin standen weiße Menschen. Die waren aus Marmor; einige auch aus Gips, aber für Spatzenaugen war das gleich. Oben auf dem Hause stand ein metallener Wagen mit metallenen Pferden davor, und die Siegesgöttin, ebenfalls aus Metall, lenkte sie. Das war Thorwaldsens Museum.

"Wie das glänzt, wie das glänzt", sagte das Spatzenfräulein. "Das wird wohl das Schöne sein, Piep. Dies hier ist doch viel besser als ein Pfau." Sie erinnerte sich noch an ihre Kindheit, wo der Pfau das Schönste war, was die Mutter kannte. Dann flog das Spatzenfräulein in den Hof hinab. Dort war es auch prächtig. Palmen und Zweige waren auf die Wände gemalt, und mitten im Hofe stand ein großer blühender Rosenstrauch. Der breitete seine frischen Zweige mit den vielen Rosen über ein Grab. Sie flog dorthin, denn es gingen noch mehrere Spatzen dort auf und ab. "Piep" und dazu ein dreimaliges Scharren mit dem linken Fuß - diesen Gruß hatte sie immerzu jedem geboten, aber niemand hatte ihn verstanden. Der Gruß war ihr bereits zur Gewohnheit geworden.

Heute jedoch waren da zwei alte Spatzen und ein Junger, die sagten auch "Piep" und scharrten mit dem linken Fuße. "Ei sieh da, guten Tag, guten Tag." Es waren die beiden alten Geschwister aus dem Spatzennest und ein Junger aus der Familie. "Welch ein Zufall, dass wir uns hier wiedersehen", sagten sie. "Es ist ein vornehmer Ort hier, aber viel zu fressen findet sich nicht. Das ist das Schöne, Piep."

Viele Leute kamen aus den Seitengängen, wo die prächtigen Marmorfiguren standen, und gingen zu dem Grabe hin, das den großen Meister barg, der den herrlichen Marmorbildern Form gegeben hatte. Alle, die kamen, standen mit leuchtendem Antlitz um Thorwaldsens Grab. Manche sammelten die abgefallenen Rosenblätter vom Boden auf und bewahrten sie. Viele Leute kamen von weither. Sie kamen aus England, Deutschland und Frankreich. Die schönste Dame von allen nahm aber eine von den Rosen und barg sie an ihrer Brust. Da glaubten die Spatzen, dass die Rosen hier das Regiment hätten und das ganze Haus um ihretwillen gebaut sei. Das erschien ihnen dann doch ein bisschen übertrieben.

Wenn die Menschen aber so viel Aufmerksamkeit für die Rosen übrig hatten, wollten sie als Spatzen auch nicht zurückstehen. "Piep", sagten sie und fegten den Boden mit ihren Schwänzen. Dann schielten sie mit einem Auge zu den Rosen hinauf, und es dauerte nicht lange, so waren sie davon überzeugt, dass es die alten Nachbarn waren. Und das waren sie auch. Der Maler, der den Rosenstrauch bei dem abgebrannten Hause gezeichnet hatte, bekam später die Erlaubnis ihn auszugraben. Er hatte ihn dem Baumeister des Museums gegeben, denn nirgends gab es herrlichere Rosen. Der Baumeister hatte ihn dann auf Thorwaldsens Grab gesetzt, wo er als Wahrzeichen des Schönen blühte und seine duftenden roten Blätter hergab, um als Erinnerung in ferne Länder getragen zu werden.

"Habt ihr eine Anstellung hier in der Stadt erhalten?", fragten die Spatzen. Und die Rosen nickten. Sie erkannten die grauen Nachbarn und freuten sich, sie wiederzusehen. "Wie schön ist es zu leben und zu blühen, alte Freunde bei sich zu sehen, und jeden Tag in freundliche Gesichter zu blicken! Hier ist es, als sei jeder Tag ein großer Festtag." "Piep", sagten die Spatzen, "ja, das sind die alten Nachbarn. Ihrer Herkunft vom Dorfteiche steht außer Frage! Piep, wie sie zu Ehren gekommen sind! Manche kommen ja auch im Schlafe dazu. Denn was an so einem roten Klumpen Schönes sein soll, weiß ich nicht! - Und da sitzt auch ein vertrocknetes Blatt, das sehe ich ganz genau!"

Dann zupften sie solange daran, bis das Blatt abfiel. So stand der Strauch nun frischer und grüner da, und die Rosen dufteten im Sonnenschein auf Thorwaldsens Grab, um diesen unsterblichen Namen mit ihrer Schönheit zu ehren.