Die Schwanenfrau

  • Autor: Haltrich, Josef

[von Josef Haltrich]

Eine arme Frau hatte einen Sohn. Er war groß und stark und wollte in die Fremde gehen, um etwas zu verdienen. Der Sohn verdingte sich bei einem Herrn auf ein Jahr und sollte dessen Schafe hüten. Als er einmal zur Zeit der Ernte auf dem Felde war, sah er einen schönen weißen Vogel vor sich im Kornfelde sitzen. Also lief er hin, um ihn zu fangen. Der Vogel aber erhob sich langsam und flog in einen Wald. Der Junge lief ihm weiter nach, doch er konnte ihn nicht erreichen. Als er dann umkehren wollte, hatte er sich hoffnungslos im Wald verlaufen.

Schon fing es an dunkel zu werden, da sah er in der Ferne ein Licht. Er ging darauf los und kam in ein Schloss. Ein alter Mann saß am Feuer und kochte sich eine Suppe. Der Junge bat um Herberge und erzählte dem Alten, wie er in den Wald gekommen war. ,,Wenn du mir ein Jahr lang treu dienst", sagte der Alte, "will ich dir zu dem Vogel verhelfen!" Der Junge willigte gerne ein, denn er wollte diesen Vogel unbedingt haben.

Am folgenden Morgen sprach der Alte: ,,Jetzt gehe ich aus und kehre erst spät am Abend heim. Hüte das Haus, dafür bekommst du auch alle Schlüssel. Und ich erlaube dir, in alle Zimmer gehen, nur nicht in das letzte!" Der Junge folgte genau dem Gebot, und als der alte Mann abends heimkehrte, war er mit ihm zufrieden. Das Gleiche wiederholte sich Tag für Tag, und der Junge dachte schon gar nicht mehr an das verbotene Zimmer.

In der letzten Woche des Jahres packte den Jungen aber die Neugierde: ,,Du bist ein ganzes Jahr hier gewesen", sprach er zu sich selbst, "und du ziehst nun bald von dannen. Da solltest du schon wissen, was für Schätze in dem verbotenen Zimmer sind." Er ging zu der Türe und öffnete sie mit dem passenden Schlüssel. Die Tür ging auf und der Junge erblickte einen großen Saal und darüber den freien Himmel. In der Mitte war ein blauer Teich, in dem drei wunderschöne Jungfrauen badeten. Kaum hatten sie den Jungen erblickt, flogen alle drei, husch, als weiße Schwäne davon.

Als der alte Mann heimkam, fiel der Junge gleich vor ihm nieder und sprach: ,,Ach Herr, ich habe dein Gebot übertreten!" Der Alte erwiderte freundlich: ,,Weil du deinen Fehler aus freiem Willen gestehst und Reue zeigst, will ich dir verzeihen. Aber du musst mir jetzt noch ein weiteres Jahr treu dienen, wenn du den Vogel haben willst." Da fiel es dem Jungen wie ein Stein vom Herzen. Gerne willigte er ein, und von nun an hatte auch die Neugierde keine Gewalt mehr über ihn.

Als das Jahr vergangen war, trat der Alte zu ihm und sprach: "Jetzt folge mir!" Er führte ihn in das verbotene Zimmer. Da waren wieder die drei Jungfrauen und badeten, doch sie verwandelten sich erneut in weiße Schwäne und flogen davon. Der alte Mann fragte den Jungen, welche Jungfrau ihm am besten gefallen habe. ,,Die Jüngste!", sprach er rasch. ,,Wohlan, dann gehe heute Abend in jenes Zimmer dort. Du wirst drei Schachteln unter dem Bette finden. Bringe mir diejenige, welche hinten in der Ecke liegt."

Der Junge konnte den Abend kaum erwarten, eilte dann in das angewiesene Zimmer und holte die Schachtel. ,,Nimm jetzt die Schachtel", sagte der Alte, "und gehe damit nach Hause. Die auserwählte Jungfrau wird dir auf dem Fuße folgen. Aber schaue dich nicht um, bis du zu Hause bist, sonst wirst du die Jungfrau verlieren. Und hüte die Schachtel wie deinen Augapfel, denn deine Braut darf sie nicht bekommen, wie sehr sie dich auch bittet!" Der Junge versprach es.

Das Erste fiel ihm gar nicht schwer. Er sah auf dm Heimweg nicht ein einziges Mal zurück, obgleich er gern gewollt hätte. Denn für Neugierde hatte er ja schon einmal hart gebüßt, und daran dachte er jetzt.

Als er endlich daheim bei seiner Mutter war, wandte er sich rasch um und sah die Jungfrau. Sie hatte ein schneeweißes Kleid an und war schön wie der heitere Tag. Überglücklich fiel der Junge ihr um den Hals und küsste sie, und kurz darauf wurde die Verlobung gefeiert. Aber die Jungfrau war traurig und niedergeschlagen. Der Junge gab sich alle erdenkliche Mühe, sie zu erheitern, doch umsonst. ,,Ich werde alles tun, damit du fröhlich sein kannst", versprach er zuletzt. ,,Dann gib mir mein schönes Kleid, das in der Schachtel ist!", antwortete sie.

Da wurde der Junge bleich vor Schrecken. Er hatte ein Versprechen gegeben, was zu seinem Unglück führen sollte. Noch zögerte er, doch dann siegte die Liebe zu seiner Braut.

Kaum hatte er die Schachtel geöffnet, griff die Braut nach dem Kleid. Sogleich war sie ein Schwan und flog durch den Ofen zum Schornstein hinaus. Da spürte der Junge einen tiefen Schmerz. Er lief zu dem alten Mann in den Wald und bat unter Tränen: "Sage mir, wo ich meine Braut finden kann. Ich werde ihr bis an das Ende der Welt folgen, denn ich habe sie gar zu lieb!" Da sagte der Alte: ,,Sie ist weit weg auf einer Insel über dem Meer und wird von einem siebenhäuptigen Drachen bewacht. Es ist nicht leicht, dorthin zu gelangen. Wenn du es aber vollbringst, wird dich der Drache umbringen!" Der Junge ließ sich nicht abschrecken. Er nahm alle seine Kleider und Schuhe mit und wanderte sieben Jahre lang in einem fort.

Schon waren alle Kleider und Schuhe zerrissen, und das Meer war immer noch nicht zu sehen. Da fiel der Junge erschöpft auf einem Hügel nieder und gedachte, dort zu sterben. Mit einem Male hörte er in der Ferne einen großen Lärm, der immer näher kam. Dann sah er zwei mächtige Riesen, die miteinander stritten. Er fragte sie alsbald, was die Ursache sei. ,,Oh", sagte der eine Riese, ,,wir streiten um das Kostbarste auf der Welt, um einen Mantel, der unsichtbar macht." Der andere Riese fügte hinzu: "Und hast du auch noch meinen Hut hier, der dich überall hinbringt, und mein Schwert, das unbezwingbar macht, kannst du eine schöne Jungfrau erretten, die auf der Insel über dem Meer gefangen liegt." Der Junge schöpfte Hoffnung und sagte: ,,Nun, wenn es euch recht ist, will ich den Streit für euch entscheiden. Gebt Mantel, Hut und Schwert in meine Obhut, dann könnt ihr gerecht miteinander kämpfen. Wer den anderen zu Boden wirft, bekommt alles." Die einfältigen Riesen waren einverstanden und legten ihre Kostbarkeiten dem Jungen vor die Füße. Dann packten sie sich bei den Haaren und rangen, dass die Erde bebte. Der Junge ergriff schnell das Schwert, warf den Mantel um, setzte den Hut auf und sprach: ,,Wäre ich doch nur gleich auf der Insel!" Husch, war er fort, und die dummen Riesen hatten das Nachsehen.

Als der Junge auf die Insel kam, legte er Hut und Mantel ab, nahm das Schwert und ging auf die Drachenburg zu. Der Drache sonnte sich gerade vor den Toren, und die schöne Jungfrau musste ihn lausen. Auf einmal roch der Drache das nahende Menschenfleisch, da brauste er auf und ringelte sich vor Wut. Der Junge aber kam unerschrocken heran und hieb ihm alle sieben Häupter auf einmal ab. Dann eilte er ins Schloss, nahm die Schachtel mit dem Schwanenkleid an sich und warf sie ins Meer. Nun lief er zurück, um seine Braut zu holen. Die Jungfrau erkannte ihn auch gleich und war sehr froh, dass er sie mutig von dem grässlichen Drachen befreit hatte. Also kamen sie glücklich überein, miteinander Hochzeit zu halten.

Der Junge zog jetzt noch schnell den Hut des Riesen auf, der ihn gleich zu seiner armen Mutter brachte. Er führte sie wohlbehalten zur Drachenburg, und dann wurde endlich eine rauschende Hochzeit gefeiert. Von nun an herrschte der Junge über alles Land und alle Schätze, welche der Drache einst besessen hatte.