Warten und Hoffen

  • Autor: Dumas, Alexander

Es war ungefähr sechs Uhr abends; das Licht der Herbstsonne fiel mit goldenen Strahlen auf das blau schimmernde Meer. Auf den Wellen glitt eine leichte Jacht dahin. Am Bug standen der Graf von Monte Christo und Maximilian Morel.

"Ist das die Insel Monte Christo?", fragte der junge Kapitän und deutete auf eine düstere, kegelförmige Felsformation.

"Ja, mein Freund", antwortete der Graf.

"Ich habe Ihnen mein Versprechen gegeben, einen Monat zu warten, aber nun will ich sterben. Meine Trauer um Valentine schmerzt jeden Tag noch mehr."

In der Zwischenzeit hatte die Jacht angelegt und Monte Christo hieß dem jungen Mann ihm zu folgen. Als er ihn in eine Grotte führte, sagte er: "Warten Sie noch ab."

Obwohl Maximilian sterbenstraurig war, staunte er nicht schlecht. Er fand Teppiche zu seinen Füßen und ihn umgaben wunderbare Düfte. Hunderte von Kerzen verströmten ein märchenhaftes, magisches Licht. Monte Christo forderte seinen Gast auf, sich auf einem weichen Kissen niederzulassen.

Dann sagte er zu ihm: "Sie wollen sterben, mein Freund. Der Tod ist entweder unser Freund, der uns wiegt, wie eine Mutter ihr Kind, oder unser Feind, der uns die Seele aus dem Leib reißt. Aber wenn Sie nun das Leben verlassen, Morel, dann haben Sie so vieles nicht erlebt. Ich biete Ihnen ein Vermögen…"

"Graf, lassen Sie mich bitte gehen!"

"Nun gut, Maximilian, wie Sie wollen. Aber warten Sie noch einen kleinen Moment."

Der Graf stand auf, holte ein Kästchen, öffnete es und bot Morel auf einem goldenen Löffel eine grünliche, salbenartige Substanz an. Morel nahm sie in den Mund und bedankte sich.

Allmählich wurde das Licht auf eine unbegreifliche Weise bleich. "Ich fühle, dass ich sterbe", murmelte Morel, "noch einmal vielen Dank!" Es war ihm, als ob der Graf wüchse. Riesenhaft öffnete dieser eine Tür, sogleich erstrahlte der Saal. Auf der Schwelle erschien eine wunderschöne Frau.

"Ein Engel", murmelte Morel. "Der Himmel öffnet sich! Valentine, oh, Valentine!"

Sie stürzte auf ihn zu.

Monte Christo lächelte. "Er träumt", sagte er, "aber er wird bald erwachen. Von nun an sollt ihr euch nie mehr trennen. Ich habe euer beider Leben gerettet, ich hoffe Gott wird es mir anrechnen."

Valentine ergriff die Hand von Monte Christo und drückte sie an ihre Lippen. Er murmelte: "Sagen Sie mir, dass ich Sie glücklich gemacht habe. Sie ahnen nicht, wie sehr ich diese Gewissheit brauche!"

"Oh ja, ich danke Ihnen", rief Valentine. "Fragen Sie Haydee, die mich seit unserer Abreise aus Frankreich begleitet hat und für mich wie eine Schwester ist."

"Haydee wie eine Schwester? So sind Sie sich eng verbunden? Darf ich Sie um eine große Gunst bitten, Valentine? Kümmern Sie sich zusammen mit Morel um Haydee, denn sie wird nun ganz allein auf der Welt sein!"

"Allein auf der Welt?", wiederholte eine Stimme im Hintergrund. "Und warum?"

Monte Christo fuhr herum. Da stand Haydee und schaute den Grafen mit ihren dunklen Augen an.

Er antwortete: "Weil du frei bist, meine Tochter, und weil ich dir all deine Reichtümer und den Fürstentitel deines Vaters zurückgebe."

"Also willst du mich verlassen?"

"Du bist jung, du bist schön, vergiss mich, und werde glücklich!"

"Wenn du stirbst, werde auch ich sterben!"

"Wie?", rief Monte Christo, "würdest du denn glücklich sein können, wenn ich bei dir bliebe?"

"Ich bin jung, ich liebe das Leben, aber ohne dich ist es mir nichts wert."

"Du liebst mich also?"

Haydee wandte sich Valentine zu, jetzt lächelte sie: "Er fragt, ob ich ihn liebe, Valentine - sage ihm, ob du Maximilian liebst!"

Da öffnete Edmond Dantes seine Arme und mit einem Aufschluchzen sank Haydee an seine Brust.

"Ja, ich liebe dich", sprach sie.

"Du geliebter Engel. Ich wollte mich selbst bestrafen, für das, was ich meinen Feinden angetan habe. Doch Gott will es nicht. Haydee, wer weiß, deine Liebe wird mich vielleicht vergessen lassen, was ich vergessen muss."

Seinen Arm um den Hals des Mädchens schlingend, drückte er Valentine die Hand und verschwand.

Es verging ungefähr eine Stunde, bis Morel erwachte. Er war mit Valentine allein und konnte sein Glück kaum fassen. Der Graf und Haydee hatten die Insel verlassen und das junge Paar fand eine Nachricht vor:

"Mein lieber Maximilian: ein Boot liegt für Sie vor Anker. Jacopo wird Sie nach Livorno bringen, wo Herr Noirtier seine Enkelin erwartet, um eure Ehe zu segnen. Alles, was sich in der Grotte befindet, mein Freund, und mein Haus in Paris, sind Hochzeitsgeschenke von Edmond Dantes, für den Sohn des Reeders Morel.

Wenn Sie sich fragen, warum ich sie im Glauben ließ zu sterben; man muss die Nähe des Todes gespürt haben, um zu wissen, wie schön das Leben ist. Lebt also und seid glücklich, geliebte Kinder. Und vergesst nie: die menschliche Weisheit besteht aus zwei Worten: Warten und Hoffen! Euer Freund Edmond Dantes, Graf von Monte Christo."

Die beiden jungen Leute traten aus der Grotte, überflutet vom Tageslicht. Auf der dunkelblauen Linie des Horizontes, dort, wo der Himmel aus dem Meer stieg, erblickten sie ein weißes Segel das sich von der Insel Monte Christo entfernte.