Das fehlende Staatssiegel

  • Autor: Twain, Mark

Am selben Tag, nachmittags so gegen fünf Uhr, erwachte König Heinrich VIII. aus seinen schweren Träumen. "Mein Ende ist nahe", murmelte er, "mein schwacher Pulsschlag spricht für sich." Seine Augen blickten kraftlos aber böse auf und er flüsterte: "Jedoch soll der Herzog von Norfolk noch vor mir gehen, soviel sei gewiss!"

Als bekannt wurde, dass der König erwacht war, wollte der Lordkanzler Seine Majestät sprechen. Er trat ein und kniete an der Bettstatt nieder. "Mein König, ich habe alles veranlasst, das Todesurteil über den Herzog von Norfolk ist gefällt. Nun erwartet das Parlament, dass Ihre Majestät persönlich das Siegel unter das Urteil setzen."

"Helft mir!", stieß der König aus, bevor ihm die Stimme gleich wieder versagte. Bleich und nach Luft schnappend befahl er, das große Siegel zu holen. "Nach diesem Moment habe ich mich gesehnt. Beeilt Euch! Zwar fühle ich mich nicht mehr in der Lage, selbst ins Parlament zu gehen. Aber lasst andere diese seligmachende Tat ausführen."

"Das Siegel, Majestät, habe ich vor zwei Tagen in Eure Obhut gegeben. Ihr wolltet es bewahren, bis zur eigenhändigen Versiegelung des Todesurteils des Herzog von Norfolk", sagte der Lordkanzler.

Der König erinnerte sich, wusste aber nicht mehr, was er mit dem Großen Siegel gemacht hatte. Schon seit Tagen ließ sein Gedächtnis nach. Er wurde unruhig. Endlich kam Lord Hertford zu Hilfe und erinnerte, dass er das Große Siegel doch unlängst dem Prinzen von Wales gegeben habe, welcher es für ihn aufbewahren sollte …"

Hocherfreut rief der König: "Ja, ich erinnere mich. Schnell, lasst es herbringen!"

Lord Hertford eilte davon, kam nach wenigen Minuten unverrichteter Dinge wieder zurück. Verstört teilte er seinem König mit, dass die Krankheit der Verwirrung den Prinzen immer noch belaste und er sich nicht erinnern könne, das Große Siegel erhalten zu haben.

Der König stöhnte auf. "Quält meinen armen Sohn nicht. Es bricht mir das Herz vor Mitleid. Könnte ich ihm nur diese Last abnehmen und ihm Frieden schenken." Mit diesen schweren Gedanken schlummerte er ein. Als er wieder erwachte, blickte er mit leerem Ausdruck in den Augen um sich. Den Blick auf den Lordkanzler gerichtet, der an seinem Bett kniete, wurde der König zornig: "Weshalb seid Ihr noch hier! Kümmert Euch sofort um die Hinrichtung dieses Verräters. Sonst wird euer Hut morgen nutzlos sein, weil ihm der Kopf fehlt, auf den er gesetzt werden könnte."

Der Lordkanzler erhob sich zitternd und erwiderte, er warte immer noch auf das Große Siegel.

Der König polterte los: "Seid Ihr ohne Verstand, Mann! In der Schatzkammer liegt das Kleine Siegel, das für meine Reisen vorbehalten ist. Nehmt dies, wenn das andere sich in Luft aufgelöst hat. Und tretet mir nicht eher unter die Augen, als dass der Herzog von Norfolk sein Leben gelassen hat."

Fluchtartig verließ der Lordkanzler die Gemächer des Königs. Und die eiligst zusammengerufene Gerichtskommission verlor keine Zeit, den Beschluss über den Tod des Herzogs von Norfolk für den nächsten Morgen zu besiegeln.