Tom als König

  • Autor: Twain, Mark

Der nächste Tag im Palast stand im Zeichen von Audienzen. Tom empfing ausländische Gesandte. Auch wenn ihn zu Beginn der Glanz und das farbenfrohe Schauspiel faszinierten, so langweilte ihn der Hofstaat doch bald. Brav ließ er sich von Lord Hertford zuflüstern, was er im einen oder anderen Falle zu sagen hatte. Er mochte wie ein König wirken, doch er war ehrlich froh, als die Zeremonie endete.

Auch den Rest des Tages konnte er nicht unbeschwert verbringen. Er musste königlichen Arbeiten nachgehen und selbst während der zweistündigen Ruhephase machte man ihm noch höfische Vorschriften. Lediglich die vertraute Plauderstunde mit seinem Prügelknaben konnte er genießen.

Am dritten Tag im Königspalast änderte sich nicht viel am Tagesablauf, außer dass er sich ein wenig daran gewöhnt hatte. Seine selbstständige Unbeschwertheit fehlte ihm zwar, doch gleichzeitig vergaß er, dass man ihm der Freiheit beraubt hatte. Er kam immer seltener in Verlegenheit bei Begrüßungen und Huldigungen.

Der vierte Tag war schrecklich. Abends war das öffentliche Bankett geplant! Außerdem sollte an diesem Tag Lord Hertford zum Lordprotektor ernannt werden und andere wichtige Dinge standen auf dem Programm. Doch nichts erschreckte Tom so sehr, wie der Gedanke, vor vielen Hunderten von Augen speisen zu müssen. Er hörte schon das leise Flüstern über seine Fehler, falls er unglücklicherweise welche machen sollte.

Deshalb war Tom den ganzen Tag niedergeschlagen, obwohl sein Vormittag mit höfischen Pflichten ausgefüllt war. Am späten Vormittag stand er im Beisein von Lord Hertford am Fenster des großen Audienzsaals. Mit leerem Blick sah er nach draußen und verfolgte das bunte Treiben jenseits der Tore des Palastes. Oh wie wünschte er sich, er könnte ungebunden und frei mitmischen.

Plötzlich erkannte er grölende Menschen, die sichtlich zu den Ärmsten des Landes gehörten. Neugierig rief er: "Wenn ich nur wüsste, was dort los ist!"

Feierlich antwortet der Lord: "Ihr seid der König. Soll ich der Sache auf den Grund gehen?"

Tom gab begeistert seine Zustimmung und erkannte, dass König zu sein doch nicht so langweilig war, wie es manchmal den Anschein hatte. Bald darauf kam ein Bote zurück und meldete, dass ein Mann, eine Frau und ein Mädchen auf dem Weg zu ihrer Hinrichtung seien. Sie hätten Ruhe und Ordnung gestört.

Natürlich brach diese Nachricht Tom fast das Herz. Vor lauter Mitgefühl vergaß er, dass er ein König war und befahl: "Bringt sie zu mir!"

Sogleich lief sein Gesicht dunkelrot an vor Scham. Er wollte sich schon entschuldigen, als er bemerkte, dass niemand sich erstaut zeigte ob des Befehls. Wie die höfische Sitte es vorschrieb, verließ der Page bereits rückwärts gehend den Saal und Toms Brust schwoll vor Stolz fast an. Erstmals fühlte er sich wirklich wie ein König. Wie in den Büchern des Priesters, dachte er bei sich.

Ungeduldig setzte er sich auf den Thron und wartete auf die Ankunft der Verurteilten. Ein Sheriff und mehrere Soldaten betraten den Raum und verbeugten sich mit einem Kniefall vor ihm. Als sie zur Seite traten, erkannte er hinter ihnen die drei Verurteilten, die sich ebenfalls demütig vor ihm verneigten. Neugierig blickte er sie an und er war sich nicht sicher, ob er diesen Mann nicht schon einmal gesehen hatte. Als der Mann kurz den Blick hob, ihn aber sogleich ehrerbietig wieder senkte, erinnerte sich Tom wieder.

Ja, es handelte sich um den Fremden, der Giles Witt aus der Themse gezogen hatte und ihn somit vor dem Ertrinken gerettet hatte. Und das, obwohl es kalt und windig war. Eine tapfere Tat hatte er damals vollbracht. Schade, dass ein so guter Mann etwas so Schlimmes verbrochen hatte, das ihn nun das Leben kosten sollte.

Tom ließ die Frau und das Kind hinausführen, bevor er nachfragte, was der Mann denn verbrochen hätte. "Giftmord", antwortete der Sheriff. Da zeigte sich Tom betroffen und als er hörte, dass die Tat auch bewiesen sei, war für ihn klar, dass der Mann den Tod verdient hätte.

Doch plötzlich erwachte der Verbrecher aus seiner Lethargie und bettelte um Gnade. "Bitte, mein hoher Herr und König, lasst Gnade walten und befehlt, dass ich gehängt werde!" Diese Bitte kam Tom sehr eigenartig vor. Als er nachhakte, erfuhr er, dass man den Mann bei lebendigem Leib in siedendes Wasser werfen würde. Darüber war Tom derart entsetzt, dass er eine ganze Weile brauchte, bis er antworten konnte.

"Deine Bitte sei gewährt! Und wenn du hundert Menschen vergiftet hättest, so solltest du keinen so elendigen Tod sterben müssen", sagte er. Bei Lord Hertford fragte er nach, ob dieses Gebaren üblich wäre. Der Lord erzählte ihm, dass in Deutschland Falschmünzer sogar in siedendes Öl getaucht würden …" Tom hielt sich entsetzt die Ohren zu und befahl umgehend, das grauenvolle Gesetz zum Giftmord abzuschaffen.

Lord Hertford kam dieser Bitte nur zu gerne nach, denn auch ihm war diese Gräueltat schon lange ein Dorn im Auge. "Die Geschichte wird dem Königshaus noch lange dankbar sein für diese Entscheidung, Königliche Hoheit!", sagte er. Doch bevor der Sheriff die Gefangenen abführen konnte, ließ Tom sich die Tat genau beschreiben.

Der Sheriff stellte die Tat dar und Tom fragte gelegentlich nach. Am Ende war auch ihm klar, dass sich der Mann in einer schlechten Lage befand. Natürlich konnte man ihm nichts beweisen, doch alles sprach gegen ihn. Zuletzt forderte er den Mann auf, selbst noch etwas dazu zu sagen. "Mein König, ich habe keine Freunde, die bezeugen könnten, dass ich zu dieser Zeit gar nicht in der Nähe dieses Mannes war. In Wahrheit habe ich einen ertrinkenden Jungen gerettet …"

Tom stockte der Atem. "Genug! Wann genau wurde der angebliche Giftmord verübt!"

"Um zehn Uhr morgens oder einige Minuten später am ersten Tag im Jahr, Königliche Hoheit!"

"Dann lasst ihn sofort frei! Es ist mein Wille!"

Tom wollte gerade wieder rot werden, ob seines eigenmächtigen Handelns. Doch es ging ein Raunen durch den Saal. So ein selbstbewusster König konnte doch nicht verrückt sein. Er hatte so geschickte Fragen gestellt, die durchaus Beweis seiner Klugheit waren. Sofort erkannten die hohen Herren, dass der König wie sein Vater werden würde.

Kurz verweilte Tom bei dem beifälligen Gemurmel, bevor er selbstbewusst nach den Vergehen der Frau und des Mädchens fragte. Die beiden wurden schluchzend hereingeführt und man informierte Tom, dass sie sich dem Teufel verschrieben hätten. Dies war ein überaus schlimmes Vergehen, das mit dem Tod durch Strick geahndet wurde.

Tom schauderte bei dem Gedanken an eine solch schreckliche Tat, trotzdem fragte er genau nach. "An welchem Tag und zu welcher Zeit hat es stattgefunden?"

Man erzählte ihm, dass in einer Dezembernacht, Schlag zwölf Uhr, die beiden in einer verfallenen Kirche verweilten. Natürlich wäre ER - der Leibhaftige - auch dabei gewesen. Und verlässliche Zeugen hätten bemerkt, dass kurz darauf ein böser Sturm übers Land fegte und die ganze Gegend verwüstet hätte.

Tom hinterfragte auch hier geschickt und erfuhr, dass die Frau selbst auch zu Schaden gekommen war und er kam zu dem Schluss, dass die Frau entweder verrückt oder krank sein musste. "Wie alt ist das Kind?", fragte er.

"Neun Jahre alt", bekam er zur Antwort. Tom ließ sich informieren, dass ein Kind in diesem Alter sich nicht selbst verkaufen kann. Aber der Teufel könne sehr wohl ein Kind kaufen. Tom rief entrüstet: "Es ist doch sonderbar, dass das englische Gesetz dem Teufel etwas erlaubt, was es selbst seinen Untertanen verbietet!"

Die umherstehenden hohen Herren schmunzelten bewundernd. Die verurteilte Frau starrte Tom an. Er fragte sie, wie sie den Sturm denn genau herbeigezaubert hätten. "Sie zogen sich die Strümpfe aus", antwortete der Sheriff.Tom fand das unglaublich und verlangte ungestüm, die Frau möge sich sofort die Strümpfe ausziehen und ihm ein Unwetter herbeizaubern.

Unwillkürlich wichen die abergläubischen Anwesenden zurück. Die Frau blickte ihn verwirrt an. Tom erklärte er, sie hätte nichts zu befürchten, wenn sie nur seinem Wunsch nachkäme. "Dann sei dir alle Schuld erlassen und deinem Kind auch", versprach er.

Die Frau erklärte ihm flehend, dass sie keine solche Macht ausüben könnte. Von Herzen gerne würde sie den Befehl ausführen, schon um ihr Kind zu retten, doch sie hätte keine höheren Kräfte. Tom antwortete: "Ich glaube dir. Wäre meine Mutter an deiner Stelle, sie hätte für ihr Kind alles nur Mögliche getan. Du bist frei, liebe Frau. Nun kannst du die Strümpfe ausziehen, du hast nichts zu befürchten."

In Tränen aufgelöst befolgte die dankbare Frau den Befehl. Sie zog sich und ihrem kleinen Mädchen Schuhe und Strümpfe aus. Und sicher hätte sie des Königs Großmut mit einem Unwetter belohnt - wäre es in ihrer Macht gestanden. Doch nicht einmal die kleinste Wolke wollte aufziehen.