Hendon kommt zu Hilfe

  • Autor: Twain, Mark

Auf leisen Sohlen verließ der Einsiedler den Raum. Im Halbschatten wachte er mit gewetztem Messer über seinem Gast, ohne die Augen von ihm zu lassen. Stunden vergingen, der Erzengel gab sich seinen Träumen hin, als er plötzlich merkte, dass der kleine König die Augen geöffnet hatte. Entsetzt blickte der Knabe auf das Messer.

"Hast du dein Gebet gesprochen, Sohn Heinrichs des Achten?", fragte der Greis mit einem teuflischen Grinsen auf dem Gesicht. Der Knabe wand sich in seinen Fesseln auf dem Bett. "Sprich dein letztes Gebet!", riet ihm der Alte. Den kleinen König schauderte vor Entsetzen. Er bäumte sich auf und versuchte, sich zu befreien. Doch der bösartige Greis meinte nur: "Nun, bereite dich auf dein Sterben vor."

Der arme Knabe stöhnte und als er erkannte, dass er nicht freikommen würde, kullerten ihm Tränen übers Gesicht. Aber der Alte hatte kein Mitleid. Als der Morgen hereinbrach und es heller wurde, sagte er mit erregter Stimme: "Ich wünschte, dieser Anblick würde länger andauern. Du Sohn des Kirchenzerstörers … ja, schließe deine Augen, wenn du dich fürchtest!"

Als von draußen Stimmen erklangen, fiel dem Alten das Messer aus der Hand. Schnell bedeckte er den gefesselten Knaben mit einem Schaffell und stand auf. Vor der Hütte lärmte jemand: "Hey, macht auf! Beeilt Euch. Im Namen des Teufels!"

Das war Musik in den Ohren des kleinen Königs, denn er erkannte die Stimme von Miles Hendon. Der Einsiedler ging zähneknirschend aus der Schlafkammer und öffnete die Tür. Hendon sagte: "Ich grüße Euch, Ehrwürden! Wo ist mein Junge?"

"Von was für einem Jungen sprecht Ihr, lieber Freund?"

"Vernarrt mich nicht. Meine Laune ist zu schlecht für derartige Scherze. In der Nähe eurer Behausung traf ich die Männer, die ihn entführt haben. Sie gestanden mir die Wahrheit, denn sonst hätte ich sie zu Kleinholz zerhackt. Seine Spuren führen bis zu eurer Hütte. Deshalb - gesteht … wo ist der Knabe?"

Der alte Mann erfand eine Geschichte, dass sich die Balken bogen. Den königliche Lumpenknaben habe er mit einem Auftrag fortgeschickt. Bald müsse er wieder hier sein.

Doch Hendon glaubte ihm natürlich nicht. "Der Junge hätte sich nie schicken lassen von Euch. Vorher hätte er euren langen Bart zerzaust für eine solche Zumutung. Er würde von niemandem einen Auftrag entgegennehmen."

"Von mir schon, denn ich bin ein Erzengel."

Miles Hendon fluchte gewaltig. "Natürlich, einem Erzengel muss sogar ein König gehorchen. Still, was höre ich da."

Im Nebenraum versuchte der kleine König verzweifelt, sich bemerkbar zu machen. Er zitterte und musste feststellen, dass niemand ihn hörte. Gerade wollte er laut aufstöhnen, als der Einsiedler sagte: "Ach was, das ist der Wind."

Doch Hendon ließ sich nicht blenden. Er wollte dem außergewöhnlichen Geräusch nachgehen. Doch das Stöhnen des Königs wurde vom Schaffell verschluckt. So bekam der Einsiedler seine Chance, Hendon wegzuführen. Der kleine König hörte noch, wie die Beiden fortgingen. Nun herrschte wieder beängstigende Stille.

Nach einer Ewigkeit hörte er wieder Schritte und Stimmen. Draußen kamen Männer auf Pferden und er hörte, wie Hendon sagte: "Er muss sich verirrt haben in diesem ungemütlichen Wald. In welche Richtung soll er gegangen sein?"

Der Erzengel erwiderte: "Ich gehe mit Euch." Der kleine König hörte noch, wie Hendon dem Alten das Maultier seines Jungen anbot. Sein Maultier! Er konnte nur noch ergeben darüber nachdenken, dass er nunmehr seinen einzigen Freund auf Erden verloren hatte. Und der Einsiedler würde zurückkehren

Ob dieses Gedankens bäumte sich der kleine König noch einmal wild auf und konnte in seiner Verzweiflung das Schaffell abwerfen. Just in dem Moment ging die Tür auf, der Schreck fuhr ihm in alle Glieder und er meinte schon, das Messer blitzen zu sehen

Doch vor ihm standen Hugo und John Canty! Erleichtert fühlte er, wie seine Entführer ihn von den Fesseln befreiten, ihn rechts und links unterfassten und durch den Wald schleiften.