Der freie Mann muss verteidigt werden

  • Autor: Beecher Stowe, Harriet

Als der Abend dämmerte, begannen im Quäkerhaus die Vorbereitungen. Rachel Halliday packte die nötigsten Dinge für die Wanderer und verstaute sie sorgsam. Georg, Elisa und Harry saßen zusammen in der kleinen Schlafkammer. Beide hatten geweint. Sie hielten sich an den Händen. "Elisa, du bist ein so viel besserer Mensch als ich. Aber auch ich werde nun versuchen, wie ein Christ zu fühlen. Ich will die Bibel lesen und so handeln, wie es alle freien Männer tun." "Wenn wir erst in Kanada sind, werden wir weitersehen.", meinte Elisa. "Ich kann nähen, waschen und bügeln. Ich kann dir helfen. Die Hauptsache ist, dass wir zusammen sind." "Das finde ich auch.", bekräftigte Georg. "Wie kann man Trübsal blasen, wenn man eine Frau und ein Kind hat? Ich fühle mich so reich und stark. Dabei haben wir nichts, außer den Kleidern, die wir am Leibe tragen und unseren Händen, mit denen wir arbeiten können. Trotzdem bin ich dankbar und glücklich, denn ich habe euch. Ich werde arbeiten, für dich und Harry. Mein Herr hat viel Geld an mir verdient. Ihm bin ich nichts schuldig." "Denk nicht darüber nach, denn noch sind wir nicht in Sicherheit.", gab Elisa zu bedenken.

In diesem Moment klopfte es an ihre Tür und Simeon Halliday trat ein. Er wurde von Phineas Fletcher begleitet. Phineas Fletcher war ein großer, dürrer und rothaariger Mann. Er hatte einen schlauen und durchtriebenen Ausdruck im Gesicht, der nicht recht zu einem Quäker zu passen schien. "Hört mir zu!", sagte er zu Georg und Elisa, nachdem er die beiden begrüßt hatte. "Ich habe schlechte Neuigkeiten. In dem letzten Gasthaus, in dem ich schlief, hörte ich durch Zufall eine Unterhaltung, die sich um euch drehte. Zwei Männer sind euch auf der Spur. Sie wollen Georg zurück nach Kentucky schicken, damit sein Herr dort ein Exempel mit ihm statuieren kann. Elisa soll in New Orleans verkauft werden. Die beiden wollen sich den Gewinn teilen. Der Junge schließlich soll an den Händler zurückgehen, der ihn gekauft hat. Die beiden wissen von unserem Transport; auch von Jim und seiner lten Mutter, die uns ja auf dem Transport begleiten sollen. Ich weiß nicht, woher die beiden das alles wissen, aber sie haben die Gendarmen auf ihrer Seite. Ich habe nur wenige Stunden Vorsprung vor ihnen wenn sie zur verabredeten Zeit aufgebrochen sind. Wir müssen damit rechnen, dass sie uns heute Nacht überfallen. Was also sollen wir tun?"

Phineas schwieg. Die anderen wirkten wie erstarrt. Schließlich straffte Georg die Schulter und sagte: "Ich weiß, was ich zu tun habe." Er stand auf und begann, seine Pistolen zu prüfen. Simeon blickte zu Phineas hinüber. "Ich hoffe, dass uns das erspart bleibt." Georg drehte sich zu den beiden Quäkern um. "Bitte, leiht mir euren Wagen. Wir wollen niemanden in Gefahr bringen. Jim ist bärenstark. Lasst uns mit den Frauen und Harry zur nächsten Station fahren." "Du kennst den Weg nicht so gut wie ich.", warf Phineas ein. "Du magst ein guter Kämpfer sein, aber du brauchst auch einen tapferen Kutscher." Georg machte eine abwehrende Handbewegung. Simeon fiel ein. "Phineas ist klug und geschickt. Verlass dich auf ihn und denke daran, die Pistolen nicht zu früh zu ziehen." "Ich werde keinen Menschen angreifen.", antwortete Georg. "Alles, was ich verlange ist, dieses Land in Frieden verlassen zu dürfen. Mit meiner Frau und meinem Sohn. Sie haben meine Schwester in New Orleans verkauft. Ich weiß genau, was sie dort tun muss. Wie kann ich zulassen, dass meiner Frau das Gleiche geschieht? Wie kann ich meinen Sohn opfern? Ich verteidige mich und die meinen gegen das Unrecht, das uns in diesem Land widerfährt. Wir sind Menschen wie ihr und kein Stück Vieh, das einem anderen gehört und der damit tun und lassen kann, was er will. Könnt ihr mich deshalb verurteilen?"

Die beiden Quäker schüttelten den Kopf. "Ich hoffe, ich bin nie in einer Lage, wie der euren.", meinte Simeon. Und Phineas fügte hinzu: "Aber wenn es so wäre, dann wüsste auch ich, was zu tun ist." Simeon lächelte und drohte Phineas mit dem Finger. "Man merkt, dass du kein geborener Freund bist, wie wir uns Quäker nennen. Deine alte Natur kommt doch noch ab und zu zum Vorschein. Aber lass gut sein. Wir müssen überlegen, was zu tun ist." Phineas nickte ernst. "Vor Einbruch der Dunkelheit können wir nicht fahren. Wie gesagt, ich bin den Verfolgern um einige Stunden voraus. Bereitet alles so vor, dass wir in zwei Stunden aufbrechen können. Ich werde zu Michael Cross gehen und ihn bitten, uns mit einem schnellen Pferd zu begleiten. Er soll hinter uns reiten und uns warnen, wenn die Verfolger ankommen. Sein Pferd ist das Schnellste weit und breit, so dass er uns mühelos einholen kann. Ich werde Jim und seiner alten Mutter Bescheid geben, wann wir aufbrechen. So schlimm sieht es um uns noch gar nicht aus. Ich habe andere Flüchtlinge auch schon aus anderen Klemmen befreit." Er lächelte noch einmal aufmunternd in die Runde und ging.

Als das Essen bereitet war, begab man sich zu Tisch. Da klopfte es an der Tür und Ruth eilte herein. Sie brachte warme Socken für Harry und eine Tüte Kringel. "Ich wünsche euch eine sichere Fahrt. Leb wohl, Elisa. Leb wohl Georg." Sie schüttelte beiden herzlich die Hand und lehnte Rachels Einladung, zum Essen zu bleiben entschieden ab. "John ist bei dem Baby und ich habe einen Kuchen im Ofen. Ich muss zurück. Lebt wohl." Und sie huschte zur Tür hinaus. Nach dem Abendessen fuhr ein großer Planwagen vor. Phineas sprang vom Bock. Elisa, Georg und Harry traten an den Wagen heran, in dem Jim und seine Mutter saßen. Nun wurden die Frauen und Harry warm eingewickelt. Sie sollten es möglichst bequem haben, während die Männer ihre Pistolen in Reichweite legten. Als alle den richtigen Platz gefunden hatten, stieg Phineas wieder auf den Kutschbock. "Fahrt mit Gott, ihr Freunde!", riefen Rachel und Simeon. "Vielen Dank. Vergelt's euch Gott!", riefen Georg und Elisa. Phineas nahm die Zügel auf und der Wagen rumpelte in die schwarze Nacht hinaus.

Die Fahrt war unbequem und die Räder rasselten so laut, dass man sich unmöglich unterhalten konnte. Harry schlief bald ein und lehnte sich schwer gegen Elisa. Auch Jims Mutter und Elisa wurden müde und schliefen ein. Die Männer spähten in die Nacht und hielten die Ohren offen. Phineas pfiff sogar ein wenig vor sich hin. Gegen drei Uhr morgens hörte Georg einen galoppierenden Hufschlag. Er stieß Phineas an, der die Pferde zum Stehen brachte und horchte. Dann nickte er. "Das ist Michael. Sie sind uns auf den Fersen!" Das Geräusch kam rasch näher und bald sah man den Reiter, der mit einem ungeheuren Tempo heranpreschte. Vor dem Wagen parierte er das Pferd durch. "Sie sind direkt hinter mir. Acht bis zehn Mann. Sie sind betrunken und wollen Jagd auf die Neger machen.", keuchte Michael. Phineas reagierte sofort. "Wir müssen noch ein Stück weiter." Er gab den Pferden die Peitsche. "Komm mit!", rief er Michael zu.

Der Wagen raste dahin. Die Frauen wurden wach und schauten sich ängstlich um. Allmählich konnte man den Lärm der betrunkenen Reiterhorde hören. Der Morgen begann zu grauen. Als die Reiter den Planwagen auf einer Anhöhe vor ihnen entdecken, stießen sie ein Triumphgeheul aus. Elisa presste Harry an sich, während Jim und Georg die Pistolen nahmen. Plötzlich bog der Wagen scharf hinter einer steil aufragenden Felsklippe ein. Sie erhob sich als einzelner Ausläufer eines felsigen Geländes aus der Ebene und fiel ringsherum glatt ab. Phineas wusste genau, wohin er wollte. Er kannte diese Gegend von der Jagd. Er brachte den Wagen zum Stehen und rief nach Michael. "Fahr du weiter. Hier, binde dein Pferd fest. Fahre zur nächsten Station und hole Amariah und sein Leute. Beeil dich." Michael tat, was Phineas gesagt hatte. Während er sein Pferd am Wagen festband, holte Phineas die Fahrgäste aus dem Planwagen. "Schnell. Beeilt euch. Lauft, so schnell ihr könnt." Das musste Phineas den Fliehenden nicht zweimal sagen. Jim packte seine Mutter und trug sie. Phineas rannte mit Harry auf dem Arm voraus. Elisa und Georg folgten. Phineas Ziel war der Gipfel der Felsklippe. Michael fuhr mit dem Wagen davon. Die Flüchtlinge waren nun auf dem Gipfel angelangt und folgten einem schmalen Fußpfad, der durch eine Kluft führte. Die Kluft war nur eben mannsbreit; im Gänsemarsch mussten sie hier hindurch. Hinter der Kluft lag ein Querspalt, der mehr als meterbreit zu einer neuen Felsgruppe führte, die sich wiederum dreißig Fuß hoch erhob. Die Wände fielen steil ab wie die Wände einer Burg.

"Springt!", rief Phineas. Einer nach dem anderen sprang hinüber. Auf der anderen Seite bildeten mehrere lose Felsstücke eine Art Brustwehr, so dass sie vor den Blicken der Verfolger geschützt waren. "Geschafft!", schnaufte Phileas. Er spähte zurück in die Kluft und lauschte auf das Geschrei der Reiter, die inzwischen die Verfolgung zu Fuß aufgenommen hatten und die Klippe erstürmten. "Hier müssen sie einzeln durch. Und sie sind in bester Schussweite.", sagte Phineas. "Ja.", sagte Georg. "Habt Dank. Ab jetzt tragen wir das Risiko und übernehmen den Kampf." "Schon gut, Georg. Schaut doch. Sie überlegen sich, ob sie sich überhaupt hertrauen.", meinte Phineas und zeigte auf die Reiter, die im Morgenlicht schon gut zu sehen waren. Die Männer, die am Fuß der Klippe standen und heftig stritten waren niemand anderes als Tom Locker und Marks. Sie hatten zwei Gendarmen dabei und eine Horde von Trunkenbolden aus dem letzten Wirtshaus. Unter Einwirkung von genug Branntwein waren sie alle bereit gewesen, auf entflohene Sklaven Jagd zu machen.

"Die sind nicht dumm. Sie könnten uns hinter den Felsen auflauern und schießen.", sagte Marks zu Tom. Der lachte höhnisch. "Ach, was. Sklaven sind feige. Ich habe keine Angst." "Aber ich!", beharrte Marks. "Ich habe nur das eine Leben. Soll ich es für ein paar entlaufene Sklaven riskieren?" Bevor Tom antworten konnte, rief Georg: "Wer sind Sie und was wollen Sie?" Tom antwortete: "Wir suchen eine entlaufene Niggerbande. Georg Harris, Elisa Harris mit Sohn sowie Jim Selden und seine Mutter. Du bist doch Georg Harris. Du gehörst Mr. Harris in Shelby, Kentucky." Georg richtete sich auf. "Ich gehöre niemandem. Ja, ich bin Georg Harris. Und meine Frau und mein Sohn gehören zu mir. Wir sind freie Menschen auf Gottes freiem Erdboden. Auch Jim und seine Mutter sind bei uns. Wir haben Waffen dabei und werden sie auch benutzen, wenn es sein muss. Wenn Sie also heraufkommen wollen, sind Sie ein toter Mann. Ihr habt Recht und Gewalt auf eurer Seite. Eure Gesetze schützen euer Tun. Ihr dürft uns erniedrigen, uns verkaufen, uns sogar töten. Das ist ein schlechtes Gesetz. Wir sind freie Menschen, genauso wie ihr. Bis zum Tode werden wir für unsere Freiheit kämpfen."

Bei seiner flammenden Rede stand Georg frei auf der Felshöhe. Seine Silhouette hob sich gegen das Morgenrot ab. Kühnheit, Mut und Entschlossenheit sprachen aus seiner Haltung und aus seinen Worten. Die Reiter unten schwiegen. Nur Marks spannte ungerührt seine Pistole und schoss. Die Kugel pfiff knapp an Georg vorbei und streifte um ein Haar Elisas Wange. Elisa schrie, aber Georg beruhigte sie sofort. "In Kentucky gibt es das gleiche Geld für ihn. Egal, ob er tot oder lebendig ist.", sagte Marks. Tom nickte. "Ich gehe jetzt rauf. Ich habe keine Angst vor diesem Pack." Tom setzte sich in Bewegung und Georg machte seine Pistole bereit. Als Toms massige Gestalt an der Felsspalte zum Vorschein kam, schoss Georg. Er traf Tom in die Seite, aber statt umzufallen, sprang dieser mit einem Wutgebrüll direkt über die Spalte auf die Flüchtlinge zu. Phineas stieß ihn mit seinen kräftigen Armen so heftig zurück, dass Tom den Spalt hinunter stürzte. Im Fallen riss er lose Steine und kleine Sträucher mit sich und blieb stöhnend unten liegen. "Verflucht!", zischte Marks. "Es sind die reinsten Teufel." Er und seine Männer machten kehrt und eilten den Berg hinunter, allen voran die Gendarmen. "Hebt ihn auf.", befahl Marks. "Ich nehme mein Pferd und hole Hilfe." Er sprang in den Sattel und galoppierte davon.

"Du feiger Hund!", brüllte ihm einer seiner Männer nach. "Erst führst du uns hier her und jetzt machst du dich aus dem Staub." Die Männer kämpften sich zu Tom vor, der zwischen Sträuchern und Geröll auf dem Boden lag. Seine Schusswunde blutete stark. Er stöhnte. Vergeblich versuchten die Männer, Tom auf sein Pferd zu heben. Er war einfach zu groß und zu schwer. Schließlich ließen sie ihn am Boden liegen und ritten davon. "Ob er tot ist?", fragte Elisa besorgt. "Das hätte er verdient.", meinte Phineas. "Ach, nein.", Elisa schüttelte den Kopf. "Nach dem Tod kommt das Gericht. Seine Seele wird Schreckliches erdulden müssen." "Wir müssen ihn mitnehmen. Er stöhnt so schrecklich." Elisa sah Phineas an. Georg nickte. "Es ist unsere Christenpflicht, ihn zu verarzten."

Und so kam es, dass Michael, der bald mit dem Wagen und einigen anderen Männern zurückkam, die Flüchtlinge mit dem verletzten Verfolger vorfand. Phineas erzählte rasch, was geschehen war, dann hoben sie Tom Locker auf den Wagen, stiegen selber auf und fuhren zur nächsten Station. Dort ließen sie Tom bei einer alten heilkundigen Frau. Das Bett, in das sie ihn legten, war weißer und sauberer als jedes andere Bett, in dem er bisher gelegen hatte.