Der geheime Garten

  • Autor: Burnett, Frances Hodgson

1. Nur Mary und eine Schlange
2. Alleinsein macht wütend
3. Mary fährt durchs Moor
4. Martha
5. Das Weinen auf dem Flur
6. Mary findet einen Schlüssel
7. Die Suche nach dem verborgenen Tor
8. Ein aufregender Tag
9. Mary lernt Dickon kennen
10. So sicher wie ein Vogel in seinem Nest
11. Mary trifft Mr. Craven
12. Colin
13. Stark sein
14. Robin baut ein Nest
15. Mary sagt "Nein"
16. Colins Anfall
17. So schnell wie möglich
18. Dickon kommt zu Besuch
19. Es ist soweit
20. Ben Weatherstaff sieht über die Mauer
21. Zu viert im Garten
22. Colin überwindet sich
23. Lachen
24. Spannender Regentag
25. Besuch im Garten
26. Vater und Sohn

 

 

1. Nur Mary und eine Schlange

Die Einwohner von Misselthwaite sagten, sie hätten noch niemals so ein unansehnliches Kind wie Mary gesehen. Sie war hager, hatte gelbliche Haare und gelbe Haut, weil sie in dem Land, in dem sie geboren war, oft krank gewesen war. Hier in Misselthwaite sollte Mary aufwachsen, in dem Herrenhaus ihres Onkels.

Mary war in Indien geboren worden. Ihr Vater war damals Regierungsbeamter dort und ihre Mutter war eine sehr schöne Frau gewesen, die von Mary nicht das Geringste wissen wollte. Sie hatte es vorgezogen, sich auf Festlichkeiten mit schillernden Persönlichkeiten zu umgeben. Deswegen übergab Marys Mutter sie direkt nach der Geburt an eine indische Kinderfrau, einer Ayah mit dem Auftrag, Mary so gut wie möglich von ihr fern zu halten.

Das tat die Ayah dann auch: Mary war ein hässliches Baby, das oft krank war und viel schrie, so wurde ihr Anblick der Mem Sahib, wie Marys Mutter in Indien genannt wurde, erspart. Auch als Mary älter wurde bekam sie ihre Mutter nicht zu sehen, da sie schlecht erzogen, schwach und tollpatschig geworden war.

Im Haus ihrer Eltern gab es Diener und mit ihnen um sich herum wuchs Mary heran. Sie fand schnell heraus, dass die Diener alles taten, was sie verlangte, weil sie vermeiden wollten, dass sie laut würde und somit ihre Mutter störte. So kam es, dass Mary mit sechs Jahren ein kleiner herrschsüchtiger Tyrann geworden war.

Sie trieb viele Lehrerinnen, die ihr das Lesen und Schreiben beibringen sollten, in den Wahnsinn mit ihrer unausstehlichen Art. Es kamen immer neue Lehrerinnen, aber nach einiger Zeit gaben sie wieder auf. Da Mary jedoch neugierig darauf war, wie man Bücher las, lernte sie es doch mit der Zeit.

Aufgebracht wachte sie eines heißen Morgens, sie war ungefähr neun Jahre alt, in ihrem Bett auf.

Als sie neben ihrem Bett nicht ihre Ayah sondern eine andere Dienerin erblickte, wurde sie noch aufgebrachter. "Wo ist meine Ayah? Ich will, dass meine Ayah zu mir kommt. Du sollst weggehen!", sagte sie zu der Frau, die sie noch nie gesehen hatte.

Die Dienerin wich mit aufgerissenen Augen zurück und stotterte, dass die Ayah nicht kommen könne. Wütend schlug Mary um sich und strampelte mit den Beinen, sodass die Dienerin noch mehr Angst vor ihr bekam.

Dieser Morgen und auch der ganze Tag kamen Mary ganz seltsam vor. Irgendwie war heute alles anders als sonst. Viele indische Dienstboten schienen nicht da zu sein und alle die Mary sah, schlichen mit ängstlichen, grauen Gesichtern im Haus herum. Keiner wollte Mary sagen, wo ihre Ayah war und warum sie nicht zu Mary kam. Sie war ganz allein.

Ärgerlich ging sie in den Garten und gab vor, ein Blumenbeet zu bepflanzen. Dabei wurde sie immer wütender, sie fluchte vor sich hin und knirschte mit den Zähnen, als sie ihre Mutter mit einem blonden jungen Mann auf der Veranda bemerkte.

Sie sprachen leise miteinander. Den Mann, der eher wie ein Junge aussah, kannte Mary. Jemand hatte erzählt, dass er ein Offizier sei, der eben erst aus England gekommen sei. In den seltenen Momenten, in denen Mary ihre Mutter, Mem Sahib, gesehen hatte, war es immer so gewesen, dass Mary sie anstarren musste. So war es auch an diesem Tag. Sie war schlank und groß und trug immer edle Kleider. Ihre Haare schienen aus Seide zu sein, die sich zart lockte, ihre großen Augen strahlten und ihre Nase war klein und zart und schien immer ein bisschen verächtlich gerümpft zu sein. Ihre sonst so strahlenden Augen waren heute weit aufgerissen, ängstlich sahen sie den jungen Offizier an. Mary hörte, wie Mem Sahib ihn fragte, ob es wirklich so schlimm sei, woraufhin dieser antwortete, dass sie bereits vor zwei Wochen hätte fliehen sollen.

Mary verstand nicht, was genau die Beiden meinten, als plötzlich aus den Behausungen der Diener ein schreckliches, lautes Aufheulen zu hören war. Mary zitterte am ganzen Körper. Sie hörte ihre Mutter entsetzt fragen, was das gewesen sei. "Gerade ist einer von den Dienern gestorben", sagte der Offizier.

"Warum haben sie nicht erwähnt, dass die Seuche auch unter Ihrer Dienerschaft ausgebrochen ist?"

Mem Sahib sagte unter Tränen, dass sie es nicht gewusst hätte. Danach verschwanden beide im Haus.

Mary begriff: Die Cholera war ausgebrochen und nun starben unzählige Menschen. Ihre Ayah war tot. Am nächsten Tag waren drei weitere Diener gestorben, viele rannten entsetzt fort.

Mary versteckte sich den ganzen nächsten Tag in ihrem Zimmer und weil alle beschäftigt waren mit ihren Nöten, wurde sie schlicht vergessen. Niemand vermisste sie oder dachte auch nur an sie.

Sie weinte bis sie einschlief und wenn sie aufwachte weinte sie wieder bis sie erschöpft war und einschlief.

Um sie herum wurde es mit der Zeit immer stiller. Einmal trank sie im verlassenen Esszimmer Wein, der auf dem Tisch stand und wurde danach schrecklich müde. Sie schleppte sich in ihr Zimmer, schaffte es kaum noch auf das Bett und schlief sofort ein.

Als sie wieder aufwachte, hörte sie keinen einzigen Laut mehr im Haus, keine Schritte, keine Stimmen. Sollte die Cholera nun vorüber sein, fragte sich Mary. Wer sollte denn jetzt für sie sorgen, ihre Ayah war ja tot, überlegte sie außerdem.

Traurig wurde sie bei dem Gedanken an die Ayah nicht, sie weinte nicht um sie und würde sie auch nicht vermissen, sie hatte noch nie jemanden so sehr gemocht, dass sie ihn vermisst hätte. Sie freute sich sogar darauf, dass sie nun endlich von jemand anderem neue Geschichten würde erzählt bekommen. Die alten Geschichten der Ayah kannte sie schon in und auswendig und mochte sie nicht mehr hören.

Verärgert dachte sie daran, dass man sie vergessen hatte, nur weil eine Krankheit umging. Sie überlegte sich, dass Leute, die Cholera hatten, ziemliche Egoisten waren. Jetzt war alles ruhig und bestimmt würde bald jemand kommen, um nach ihr zu sehen.

Während sie also wartete, hörte sie etwas über den Boden rascheln und entdeckte direkt vor ihr eine kleine Schlange. Das Tier sah sie aus funkelnden Augen an, aber Mary hatte keine Angst. Sie wusste, dass diese Schlange ungefährlich war. "Nur ich und die Schlange, sonst ist niemand hier" , sagte sie zu sich selbst.

In diesem Moment hörte sie Schritte von Männern, die in das Haus kamen. Die Männer unterhielten sich. "Es ist schade um diese hübsche Frau. Wenn sie wirklich, wie erzählt wurde, ein Kind gehabt hat, wird es auch tot sein. Ich habe allerdings nie ein Kind gesehen, das ihres war."

Kurze Zeit später öffneten die Männer die Tür zu Marys Zimmer und sahen sie, wie sie mitten im Raum stand.

Sie sahen ein schlecht gelauntes, hässliches Kind, das Hunger hatte und niemanden, der sich um es gekümmert hatte. Wütend fragte Mary, nachdem sie den Männern gesagt hatte, wer sie war, warum sie hier vergessen worden sei und warum niemand zu ihr käme. Sie sei eingeschlafen, als alle die Cholera gehabt hätten und sei gerade erst aufgewacht.

"Armes Kind, es sind alle tot. Keiner ist übrig geblieben", antwortete einer der Männer. Mary erfuhr, dass ihre Eltern und fast alle Diener gestorben waren und die, die noch gelebt hatten, so schnell wie möglich das Haus verlassen hatten.

Mary begriff: Keiner war mehr da außer ihr und der kleinen Schlange mit den funkelnden Augen.

 

 

 

2. Alleinsein macht wütend

Die Tatsache, dass Mary ihre schöne Mutter immer so gern angeschaut hatte, als sie noch lebte, bedeutete aber nicht, dass sie Mary nun fehlte. Sie hatte sie ja kaum gekannt und deswegen war ihre Mutter ihr auch nicht ans Herz gewachsen. Mary vermisste sie nicht.Sie machte, was sie immer getan hatte: Sie dachte nur an sich selbst.

Nach dem Tod ihrer Eltern war sie in das Haus eines englischen Pfarrers gebracht worden, aber Mary wusste, dass sie dort nicht würde bleiben können. Hier wollte sie auch gar nicht bleiben.

Die fünf Kinder des Pfarrers stritten sich ständig um dieses oder jenes Spielzeug und das nervte Mary gewaltig. An solche Dinge war sie nicht gewohnt. Sie hasste es, dass es immer unordentlich war in dem Haus dieser Familie und schaffte es, dass nach ein oder zwei Tagen kein einziges der fünf Kinder mehr mit ihr spielen wollte, weil sie schrecklich fies und unfreundlich zu ihnen war.

Den Rest gab es ihr, dass Basil, eines der Kinder, ihr am zweiten Tag den Spitznamen "trotzige Mary" gab und alle Kinder sie damit aufzogen. Sie tanzten um sie herum, lachten und sangen. Mary raste vor Wut.

Basil war es auch der Mary gehässig sagte, dass sie schon am Ende der ersten Woche "in die Heimat" fahren würde, um dort bei ihrem Onkel, Archibald Craven, zu wohnen und dass er und alle anderen sich darüber freuten.

Mary wusste nicht, wo diese Heimat sein sollte und fauchte zurück, dass sie diesen Onkel ja gar nicht kenne.

"In England ist deine Heimat natürlich, du dummes Mädchen!", schimpfte Basil daraufhin wütend. "Aber es ist kein Wunder, dass du nichts weißt, Mädchen wissen ja nie etwas! Vater und Mutter sagen, dass dein Onkel in einem großen unheimlichen Haus lebt, das auf dem Land steht. Niemand mag ihn, weil er nämlich böse ist und keinen sehen will.Er hat einen Buckel und ist überhaupt der fürchterlichste Mensch!"

"Das glaube ich dir nicht.", erwiderte Mary.

Aber als Mary allein war dachte sie doch lange über das nach, was Basil gesagt hatte.

Basils Mutter, Mrs Crawford erzählte ihr am Abend, dass sie in ein paar Tagen mit einem Schiff nach England zu ihrem Onkel fahren würde, sagte sie nichts. Sie fühlte sich wie versteinert.

Das Ehepaar Crawford hatte Mitleid mit Mary, aber sie wussten nicht, wie sie mit diesem trotzigen Kind umgehen sollte, um sie dazu zu bringen, etwas freundlicher und offener zu werden.

Nach einer langen Reise unter der Obhut der Frau eines Leutnants, die ihre Kinder nach England bringen wollte, kam Mary einige Tage später in England an. Dort wurde sie von Mrs. Medlock, der Haushälterin ihres Onkels abgeholt um weiter nach Misselthwaite zu fahren. Sie hatte strenge, blaue Augen und rote Wangen, außerdem war sie sehr kräftig.

Mary mochte sie nicht, aber da sie eigentlich nie jemanden mochte, war das nichts Außergewöhnliches. Und andersherum war es genauso: Anscheinend hielt Mrs. Medlock auch nicht gerade viel von Mary.

In dem Hotel, in dem Mary und Mrs.Medlock sich getroffen hatten, unterhielt sich Mrs. Medlock mit der Frau des Leutnants. Die Beiden dachten wohl, dass Mary nicht zuhörte, denn sie stand etwas abseits und schaute hinab auf den regen Londoner Verkehr. Dennoch hörte sie jedes einzelne Wort.

"Es ist furchtbar, sehen Sie sich einmal dieses kleine, jämmerliche Wesen an!", sagte Mrs. Medlock gerade.

"Man erzählt sich, dass ihre Mutter sehr schön gewesen sein soll, aber ihre Tochter scheint ja nicht gerade viel von ihrer Schönheit abbekommen zu haben, hab ich nicht recht, Madame?"

"Vielleicht gibt es sich, wenn sie älter wird", entgegnete die Frau. "Es ist ein Pech, dass sie so unfreundlich dreinschaut und noch dazu so gelb ist."

Während Mary noch am Fenster stand und zuhörte, überlegte sie, wie es wohl bei ihrem Onkel werden würde. Das Herrenhaus interessierte sie sehr, aber vor allem fragte sie sich, wie wohl ein Buckel aussehen mochte. Sie hatte noch nie einen gesehen und stellte die Vermutung an, dass so etwas in Indien womöglich nicht vorkomme.

Seit sie so ganz allein und umgeben von Fremden war, kamen ihr Gedanken in den Sinn, die sie früher nie gehabt hatte. Sie hatte plötzlich den Wunsch zu jemandem zu gehören, weil ihr auffiel, dass jedes andere Kind Vater und Mutter hatte und sie nie jemandem etwas bedeutet hatte.

Mary wusste nicht, dass sie ein verzogenes Mädchen war, das unfreundlich auf jeden wirkte. Sie dachte, dass alle anderen Leute unangenehm waren.

Nach einer Übernachtung im Hotel, fuhren Mary und Mrs. Medlock am nächsten Tag weiter nach Yorkshire. Mary hielt sich so weit wie möglich von ihrer Begleiterin entfernt, weil sie nicht wollte, dass die Leute dächten, sie gehöre zu dieser Frau.Im Zug war Mary verärgert und in sich zurückgezogen. Sie trug ein schwarzes Kleid und ihre dünnen Haare hingen unter ihrem schwarzen Hut. Sie sah noch gelber als sonst aus.

"Noch nie habe ich ein solch hässliches Kind gesehen", dachte Mrs. Medlock und beobachtete Mary eine Weile, die ganz reglos und stumpfsinnig dreinschauend dasaß.

Schließlich unterbrach Mrs. Medlock die Stille: "Ich glaube, du musst etwas über deinen Onkel erfahren. Weißt du irgendetwas über ihn?"

"Nein", sagte Mary.

"Das ist ein seltsames Haus, in das du einziehen wirst. Es ist ein großes Gutshaus und Mr.Craven ist sehr stolz darauf. Es steht am Rande des Moores und ist sechshundert Jahre alt. Hundert Zimmer gibt es dort, aber die meisten sind immer verschlossen. Um das Haus herum ist ein großer Park."

Mary wollte ihr Interesse nicht zeigen, aber sie hatte sehr genau zugehört. Als Mrs. Medlock sie nun fragte, was sie davon halten würde, antwortete sie mürrisch: "Nichts."

Mrs. Medlock wunderte sich über dieses seltsame kleine Mädchen, erzählte aber trotzdem noch, dass ihr Onkel einen krummen Rücken habe und er deswegen so eigenwillig geworden sei. Bis zu dem Tag an dem er geheiratet habe, sei er ein schlecht gelaunter junger Mann gewesen, der von seinem großen Besitz nichts gehabt habe, weil er ihn nicht genießen konnte. Als seine Frau dann gestorben sei, wäre Mr. Craven seltsamer als je zuvor geworden.

Mary horchte auf. Ihr buckliger Onkel hatte also geheiratet und die Frau war gestorben. Ohne darüber nachzudenken rief sie: "Oh, sie ist gestorben?"

"Ja, das ist sie und seitdem möchte dein Onkel niemanden mehr sehen außer seinen alten Diener Pitcher. Mr. Craven ist die meiste Zeit fort, aber wenn er in Misselthwaite ist, schließt er sich im Westflügel ein. Du wirst ihn niemals zu Gesicht bekommen. Und überhaupt darfst du nicht erwarten, dass jemand mit dir sprechen wird. Du musst dich schon selbst beschäftigen und auf dich allein aufpassen. In die meisten Zimmer darfst du nicht gehen und du darfst auch nicht herumschnüffeln. Das hat dein Onkel verboten. Gärten, in denen du spielen kannst, gibt es draußen genug.", schloss Mrs. Medlock ihren Vortrag.

Trotzig warf Mary ihr ein:" Hab sowieso nicht vor, da herumzuschnüffeln!" an den Kopf. Aber innerlich war ihr ganz elend zumute. "Ziemlich trübe Aussichten.", dachte sie als sie aus dem Zugfenster in den Regen sah.

 

 

 

3. Mary fährt durchs Moor

Irgendwann auf der langen, monoton dahinratternden Zugfahrt war Mary eingeschlafen. Nun wurde sie unsanft von Mrs. Medlock geweckt: "Wir haben noch eine lange Wagenfahrt vor uns, wir müssen uns beeilen!", sagte diese, während sie Mary rüttelte. Mary stand auf , konnte kaum die Augen offen halten und wartete, bis Mrs. Medlock alle Koffer beisammen hatte. Aus Indien war sie es gewohnt, dass andere die Arbeit taten und sie selbst nichts tun musste.

Vor dem Bahnhof stand eine hübsche Kutsche, die die Beiden schon erwartete. Sie ließ sich in die dicken, gemütlichen Kissen fallen, die in der Kutsche auf den Polstern lagen. Müde war sie nun nicht mehr. Sie schaute aus dem Fenster und sah eine Landschaft, wie sie noch nie eine gesehen hatte.

"Ist das ein Moor?", fragte sie Mrs. Medlock. "Warte es ab und sieh aus dem Fenster, allerdings wirst du nicht viel erkennen können, da es schon dunkel ist", gab Mrs. Medlock zur Antwort. Viel konnte Mary nicht mehr von der Umgebung erkennen. Ein paar einsame Häuser hatte sie gesehen, Hecken und Bäume und eine Kirche.

Dann ging die Kutsche plötzlich langsamer, so als wenn die Pferde einen Hügel hinauffahren würden. Und es waren auch keine Hecken und Bäume mehr zu erkennen. Mary sah überhaupt nichts mehr, als sie aus dem Fenster sah, nur noch dichte Finsternis.

"Das müsste das Moor sein", sagte Mrs Medlock.

Mary hörte den Wind durch trockene Sträucher rauschen und dachte, das müsse das Meer sein und fragte verunsichert bei Mrs.Medlock nach. Aber die erzählte ihr, dass es hier meilenweit nur wildes Land gäbe, auf dem wilde Ponys und Schafe lebten und dass hier nichts wachse außer Ginster und Heidekraut.

Nach einer endlosen Fahrt, wie Mary schien, sahen sie in der Dunkelheit ein weit entferntes Licht, auf das sie noch zwei Meilen weit durch eine Allee aus riesigen Bäumen hinzufuhren. Dann hielten sie vor dem unvorstellbar großen Haus, das eine schwere Eichentür hatte, die mit dicken Nägeln beschlagen war.

In dem Haus war es finster. Überall in der Eingangshalle hingen Gemälde, die verschiedene kriegerische Figuren und Ahnen darstellten. Mary wollte lieber nicht hinsehen. Der Diener Pitcher hatte sie empfangen, jedoch nicht mit Mary gesprochen. Als wenn sie gar nicht da wäre, sagte er zu Mrs.Medlock, dass sie Mary auf ihr Zimmer bringen solle, weil Mr. Craven sie nicht sehen wolle.

Schon wurde Mary durch Korridore und Flure geführt, hier und dort ein paar Stufen und dann stand sie in dem Zimmer, das ihres war und das einzige, in dem sie sich aufhalten durfte.

 

 

 

4. Martha

Sie schlug am nächsten Morgen die Augen auf und sah zuallererst ein Hausmädchen auf dem Boden knien. Sie war dabei, so leise wie möglich, Asche vor dem Kamin aufzufegen. Ohne etwas zu sagen, beobachtete Mary das Mädchen und sah sich das Zimmer im Tageslicht an. Sie fand es seltsam, so einen Raum hatte sie noch nie gesehen: Seidentapete mit Jagdbildern an den Wänden. Jäger, Pferde, Damen, Bäume und Burgen tummelten sich auf der Tapete.

Als sie aus dem Fenster sah, entdeckte sie eine karge, eintönige Landschaft ohne auch nur einen Baum.

"Was ist das?", fragte sie und zeigte aus dem Fenster.

Freundlich lächelnd antwortete das Mädchen: " Das ist das Moor, magst du es?"

"Ich hasse es", antwortete Mary. "Magst du es denn?", wollte sie von dem Zimmermädchen wissen.

Da erzählte das Mädchen, das Martha hieß, begeistert von dem Moor. Dass es so schön sei, wenn die Heide und der Ginster blühten und dass es überhaupt nicht kahl sei, sondern voll von süß duftenden Blumen. Sie strahlte und bekräftigte, dass sie das Moor liebe und niemals von ihm fortgehen wollen würde.

Mary war erstaunt, solche Dienerinnen hatte es in Indien nicht gegeben. Diese hatten kaum einmal zu einem "Ja" oder "Nein" den Mund auftun dürfen. Mary hatte ihrer Ayah, wenn sie wütend gewesen war, sogar ins Gesicht geschlagen. Dieses Zimmermädchen sah aus, überlegte Mary, als ob sie vielleicht zurückschlagen würde, wenn Mary ihr eine Ohrfeige gäbe.

"Du bist ein komisches Zimmermädchen", sagte Mary von oben herab. Aber Martha lachte nur und stimmte zu.

"Sollst du meine Dienerin sein?", fragte Mary hochmütig.

"Ich arbeite für Mrs. Medlock", gab Martha zurück, "und sie ist bei Mr. Craven angestellt. Ich soll ein Auge auf dich haben, aber das wird bestimmt kaum nötig sein."

"Aber wer zieht mich dann an?", wollte Mary wissen.

Erstaunt sah Martha sie an. "Kannst du das denn nicht selbst?"

Mary verneinte. In Indien habe ihre Ayah sie angezogen.

"Also dann ist es aber höchste Zeit, dass du es lernst. In Indien scheinen viele Dinge ganz anders zu sein, wahrscheinlich, weil es dort viele schwarze und wenig weiße Menschen gibt", sagte Martha gelassen.

Martha hatte zuerst geglaubt, Mary müsse schwarz sein, da sie aus Indien kam. Nun erzählte sie der empörten Mary dies und sagte, dass sie, als Mary noch geschlafen habe, unter ihre Bettdecke geguckt und dann enttäuscht festgestellt habe, dass Mary kein bisschen schwarz sonder eher gelb aussähe.

Mary raste vor Wut und beschimpfte Martha. Die Eingeborenen Indiens waren für sie nur Diener, Menschen, auf die andere mit Verachtung hinunter sahen. Martha starrte sie nur an und das machte Mary noch wütender und zugleich hilflos. Sie fing an zu weinen, weil alles hier so weit entfernt von dem war, was sie kannte und sie sich plötzlich so verlassen und einsam fühlte.

Martha kam zu ihr ans Bett, beugte sich über sie und beruhigte sie. Sie fühlte Mitleid mit Mary und wollte sie trösten. "Ich wusste nicht, dass dich ärgern würde, was ich gesagt habe. Du musst doch nicht so sehr weinen." Mary beruhigte sich tatsächlich schnell durch die freundliche Stimme, die in dem fremden Yorkshire Akzent zu ihr sprach.

Nachdem Martha Mary aufgefordert hatte, zum Frühstück aufzustehen, bot sie ihr an, ihr beim Anziehen zu helfen. Mary stellte sich hin und wartete, dass Martha ihr die neuen Kleider überzog. Das hatte Martha nicht einmal bei ihren vielen kleinen Geschwistern erlebt. Ihre neuen Schuhe sollte Mary versuchen, allein anzuziehen, bestimmte Martha, als Mary ihr ihre Füße hinhielt.

Martha erzählte sehr viel von ihrem Leben in der Moorhütte und ihren Geschwistern. Zuerst hörte Mary nicht zu, sie war es nicht gewohnt so unterhalten zu werden. Aber da Martha immer weiter plauderte, konnte sie den Redeschwall irgendwann nicht mehr ignorieren.

So erfuhr Mary, dass Martha elf Geschwister hatte und ihr Vater wenig Geld verdiente, was aber der Fröhlichkeit und Lebenslustigkeit der Familie keinen Abbruch zu tun schien. Einer von Marthas Brüdern, Dickon, weckte Marys Interesse ganz besonders.

Martha erzählte, dass Dickon ein Pony habe, das ihm überall hin folgte, weil er es, als es noch ein Fohlen war mit Brotstücken und Grasbüscheln gefüttert habe. Er dürfe das Fohlen sogar reiten. Dickon liefe stundenlang durch das Moor, das Pony im Schlepptau.

Mary war schwer beeindruckt. Sie hatte auch schon immer ein Tier haben wollen. Obwohl sie es nicht wahr haben wollte, ging dieser Dickon ihr nicht aus dem Kopf. Der Gedanke an ihn war es auch, der sie nach dem Frühstück hinaus in die Gärten trieb, unwillig zwar, nicht zuletzt, weil das Wetter nicht gerade zu einem Spaziergang einlud. Aber irgendwie war sie doch neugierig geworden auf das Moor.

Bevor sie das Zimmer verlassen hatte, hatte Martha ihr noch eine Anweisung gegeben: "Alle Gärten, bis auf einen, sind geöffnet. In den einen, der verschlossen ist, darfst du nicht hinein. Seit zehn Jahren ist dort niemand mehr gewesen."

"Warum?", fragte Mary.

"Es war der Garten von Mr. Cravens Frau. Nachdem sie gestorben war, hat er den Garten abgeschlossen und den Schlüssel vergraben."

An diesem regnerischen Tag lernte Mary die Gärten des Anwesens kennen. Die einzelnen Gärten waren durch Mauern getrennt wie es in dieser Gegend üblich war. Sie schienen gar kein Ende zu nehmen. Wie viele Gärten Mary auch durchstreifte, -Obstgärten, Blumengärten und Gemüse-und Kräutergärten, es schloss sich immer noch einer an.

Beim Durchqueren der Gärten dachte Mary ununterbrochen an den geheimnisvollen verschlossenen Garten. Hinter jeder mit Efeu bewachsenen Gartenmauer vermutete sie ihn und war fast enttäuscht, wenn sie ein offenes Tor darin erblickte. Sie suchte diesen Garten und ging von Tor zu Tor, als sie plötzlich in einem Baum hinter einer Mauer ein kleines Vögelchen mit einer roten Brust entdeckte.

Er fing an, sein schönstes Winterlied zu singen, als er Mary sah. Mary merkte, wie dieses Lied etwas in ihr berührte und das war ein ganz neues Gefühl für sie. Sie wurde traurig, weil ihr plötzlich bewusst wurde, dass sie einsam war. Hier war alles neu für sie. Dieses riesige Haus mit den vielen verschlossenen Türen, umringt vom nackten Moor und großen, kahlen Gärten, zeigte ihr, wie allein sie war.

Aber der Vogel mit seinem schönen Gesang machte, dass ihr mürrischer Ausdruck im Gesicht einem Lächeln wich. Sie hörte zu, bis der Vogel fort flog und dachte, dass er vielleicht den geheimen Garten kennen könnte. Würde sie ihn wohl noch einmal wiedersehen? Schon wieder waren ihre Gedanken ganz auf den geheimen Garten gerichtet. Sie verstand einfach nicht, warum ihr Onkel, den sie vielleicht niemals zu Gesicht bekommen würde, den Schlüssel vergraben hatte, wo er doch seine Frau so sehr geliebt hatte. "Wahrscheinlich würde ich ihn nicht leiden können und er mich genauso wenig.", dachte Mary über ihren Onkel.

Auf einmal fiel ihr etwas ein:Es konnte doch sein, dass der Baum, auf dem der Vogel gerade noch gesessen hatte, sich in dem geheimen Garten befand! Als sie um den Garten herumgelaufen war, hatte sie kein Tor gesehen.v

Im Gemüsegarten fand sie einen alten Mann bei der Arbeit. Da er sie nicht beachtete, sprach sie ihn an: "Ich war in den Gärten."

"Warum auch nicht?", antwortete der Alte mürrisch.

"Zu dem einen Garten gibt es kein Tor", sagte Mary.

"Welchen meinst du?", fragte der Mann mit brüchiger Stimme und stockte einen Moment in seiner Arbeit.

"Auf der anderen Seite der Mauer. Dort sind Bäume und ein kleiner Vogel saß dort und sang."

Überraschenderweise lächelte der Gärtner nun und sah überhaupt nicht mehr böse und mürrisch aus. Mary war verwundert, wie ein Lächeln das Gesicht eines Menschen verändern konnte. Das war ihr vorher noch nie aufgefallen.

Jetzt pfiff der alte Gärtner ein paar sanfte, leise Töne. Wieder war Mary überrascht, dass so ein schlecht gelaunt aussehender Mann eine solch liebevolle Melodie pfeifen konnte. Plötzlich konnte Mary ein zartes Rauschen in der Luft hören und im nächsten Moment flog der kleine Vogel auf sie zu und setzte sich auf die Erde vor den Füßen des Gärtners.

Der alte Mann sprach wie mit einem kleinen Kind mit dem Vogel und dieser schien keinerlei Angst zu haben. Er legte seinen Kopf schief und schaute den Gärtner aus seinen kleinen Augen an.

Mary war überwältigt: "Kommt er immer, wenn du nach ihm pfeifst?"

"Ja, genau. Ich kenne ihn schon so lange er fliegen kann. Er blieb einmal bei mir, als er zu schwach war, um zum Nest zurück zu fliegen. Daher sind wir befreundet. Wenn er sich einsam fühlt, kommt er oft herüber zu mir.

Der Gärtner erzählte ihr, dass es ein Rotkehlchen sei, welches die freundlichste und neugierigste Art der Vögel sei. Er wäre ein sehr schlauer Vogel und wüsste auch, dass er und Mary in diesem Moment von ihm sprächen.

Mary fühlte sich von dem Rotkehlchen beobachtet. Sie hatte das Gefühl, es wollte herausfinden, wer sie sei. Sie fühlte sich außerdem mit ihm verbunden, weil sie sich genauso einsam fühlte wie der Vogel.

Das sagte sie vor dem Gärtner laut heraus und fragte ihn danach, wie er heiße. "Ben Weatherstaff", antwortete er und fügte hinzu: "Ich bin auch einsam, außer wenn der Vogel bei mir ist."

"Ich hatte noch nie irgendwelche Freunde", gab Mary zu.

"Wir haben einiges gemeinsam. Wir sehen beide mürrisch aus und sind es auch. Wir sind wahrscheinlich auch beide gleich unfreundlich."

Die Erkenntnis über ihr mürrisches Aussehen war neu für Mary. Sie hatte noch nie darüber nachgedacht. Und für unfreundlich hatte sie sich selbst auch nicht gehalten.

Sie fragte den Vogel, ob er nicht ihr Freund werden wollte und pfiff für den Vogel ebenso vorsichtig und schön, dass nun Ben Weatherstaff erstaunt war. Wie Dickon mit den Tieren spricht, genauso hätte Mary gerade geklungen, sagte dieser. Er kannte Dickon und meinte, jeder würde ihn kennen.

Mary hätte so gern noch mehr gewusst, über den Vogel, Dickon und den geheimen Garten, aber in diesem Moment flog der Vogel über die Mauer des Gartens, der kein Tor hatte. "Dort lebt es", ließ Ben sie wissen.

"Ich möchte das Tor finden, es muss doch irgendwo ein Tor geben!", drängte Mary den Gärtner.

Ben Weatherstaff wies sie zurecht und sagte, dass es zehn Jahre her sei, dass jemand in diesem Garten gewesen sei. Sie ginge das nichts an. Sie solle spielen gehen. Damit wendete er sich wieder seiner Arbeit zu.

 

 

 

5. Das Weinen auf dem Flur

Tag für Tag ging Mary nun in die Gärten, es gab sonst auch nichts, womit sie sich hätte beschäftigen können. Sie bemerkte nicht, dass sie vom rauen Wind, der vom Moor her blies, rote Wangen bekam und sie jeden Tag ein bisschen kräftiger wurde.

Eines Morgens wachte sie auf und hatte zum ersten Mal in ihrem Leben einen knurrenden Magen. Sie hatte den Haferbrei sonst jeden Morgen beiseite geschoben, aber heute aß sie ihn bis ihre Schüssel leer war.

Martha, die immer während Marys Frühstück deren Zimmer säuberte, sah dass Mary aufgegessen hatte und lobte sie. Mary wunderte sich über sich selbst und meinte, heute habe ihr der Brei gut geschmeckt. "Das kommt von der Moorluft, die macht hungrig", sagte Martha. Sie solle nur immer nach draußen gehen, dann würde sie ein wenig zunehmen und nicht mehr so gelb aussehen.

Wenn Mary in den Gärten war, spielte sie nicht, wie andere Kinder in ihrem Alter es vielleicht getan hätten. Sie sah sich nur um, sonst gab es nichts, was sie tun konnte. Manchmal sah sie Ben Weatherstaff, aber er war so in seine Arbeit vertieft, dass er sich nicht mit ihr beschäftigte.

Eine bestimmte Mauer fiel Mary auf und an dieser spazierte sie oft entlang. Hier war der Efeu besonders dicht und es war nichts beschnitten, wie an den anderen Mauern. Als Mary wieder einmal vor dieser Mauer stand und den wild wuchernden Efeu betrachtete, hörte sie auf einmal ein leises Zirpen. Sie sah nach oben und entdeckte das Rotkehlchen, das sie mit schiefgelegtem Kopf ansah.

"Da bist du ja!", freute Mary sich und der Vogel antwortete ihr mit einem fröhlichen Zwitschern. Er hüpfte aufgeregt zwitschernd die Mauer entlang und schien sich auch zu freuen, Mary zu sehen. Es kam Mary so vor, als wenn er ihr etwas erzählen wollte. Mary hüpfte hinter ihm her und trällerte und tat so, als ob sie fliegen würde.

Plötzlich schwang der Vogel sich auf, setzte sich auf die Baumkrone jenseits der Mauer und sang aus voller Kehle. Da erinnerte Mary sich daran, dass der Vogel genau dies bei ihrer ersten Begegnung getan hatte und dachte, dass dies der geheime Garten sein müsste, nur von einer anderen Seite gesehen. Das Rotkehlchen musste darin wohnen! Mary wollte den Garten unbedingt sehen.

Sie lief an der Gartenmauer entlang um den Garten herum und bemerkte, dass der Baum, in dem der Vogel immer noch saß, auch von dieser Seite aus gut zu sehen war. "Das ist der verbotene Garten, ich bin mir sicher.", dachte Mary. Sie lief noch einmal die Mauer ab und suchte das Tor zum Garten, aber es schien einfach keines zu geben.

"Es muss doch ein Tor geben. Es ist sehr seltsam. Vor zehn Jahren sind hier Menschen hinein und hinaus gegangen und Mr. Craven hat dann den Schlüssel vergraben, also muss es doch ein Tor geben!", überlegte Mary.

Das Geheimnis um den Garten, der kein Tor hatte, ließ Mary nicht los. Es beschäftigte sie so sehr, dass sie vergaß, dass sie eigentlich gar nicht in Misselthwaite wohnen mochte. Sie gewöhnte sich auch an Martha und daran ihr zuzuhören, denn sie plauderte viel.

Eines Abends fragte Mary Martha nach dem Grund dafür, dass Mr. Craven den Garten hasste, aber Martha wich ihr aus und sprach über den fürchterlichen Wind, der um das Haus fegte. Als Mary nicht locker ließ, sagte Martha, dass sie nicht über solche Sachen mit Mary sprechen dürfe. Mrs. Medlock habe es ihr verboten. Es gäbe viele Dinge, über die nicht gesprochen werden dürfe, weil Mr. Craven es verboten habe.

"Aber der Garten hat wirklich Mr. Cravens Frau gehört. Sie hat dort Blumen gepflanzt und sie haben sich zusammen um ihn gekümmert.Die Beiden verbrachten oft ganze Tage in dem Garten, lasen und redeten, und ließen meist nicht einmal einen Gärtner hinein.

Es gab dort einen alten Baum, an dem Mr. Cravens Frau Kletterrosen hochzog. Sie hatte dort einen Sitzplatz oben im Baum. Eines Tages brach der Ast und am nächsten Tag starb sie, weil die Verletzungen so schwer waren. Mr. Craven ist vor Traurigkeit fast wahnsinnig geworden. Seit diesem Tag ist niemand mehr in den Garten hinein gegangen und er erlaubt auch nicht, dass jemand davon spricht."

Nach dieser Erklärung aus Marthas Mund schwieg Mary. Es war das vierte Mal seit sie nach Misselthwaite gekommen war, dass sie ein Gefühl bekam, was sie vorher nicht gekannt hatte. Erst war das Rotkehlchen ihr Freund geworden, dann war sie im Wind gerannt, bis sie warm wurde. Als drittes hatte sie zum ersten Mal Hunger gespürt. Und nun fühlte sie zum ersten Mal Mitleid mit einem Menschen.

Der Wind pfiff unaufhörlich um das Anwesen während Mary über das eben Gehörte nachdachte. Aber plötzlich war ihr, als wenn sie durch den Wind noch ein anderes seltsames Geräusch hörte. Es hörte sich so an als ob ein Kind weinte. Im Haus schien irgendwo ein Kind zu weinen.

"Hörst du das, Martha? Da weint jemand", sagte Mary.

Den Blick, den Martha ihr zuwarf, konnte Mary nicht deuten, es lag etwas seltsames in ihm. "Da weint niemand. Es ist der Wind", beeilte Martha sich zu sagen.

"Doch, jetzt ist das Weinen noch lauter geworden, ganz bestimmt weint dort jemand", widersprach Mary.

Da lief Martha zur Zimmertür, warf sie zu und schloss ab.

Martha versuchte, Mary zu beschwichtigen, in dem sie darauf bestand, dass es der Wind gewesen war, der geheult hatte. Oder es müsse eine Küchenhilfe gewesen sein, die schon den ganzen Tag Zahnschmerzen gehabt hätte, behauptete sie. Aber Mary glaubte ihr nicht, Martha benahm sich plötzlich ganz anders und Mary war sich sicher, dass irgend jemand in dem großen Haus geweint hatte.

Als sie am nächsten Tag aus dem Fenster sah, musste sie feststellen, dass es wie aus Eimern regnete. Sie wusste nun überhaupt nicht, was sie tun sollte. In ihrem Zimmer gab es kein Spielzeug und Bücher hatte sie auch keine. Martha erwähnte eine Bibliothek, in die Mary aber leider nicht hinein dürfe. Mary beschloss, diese Bibliothek heimlich zu suchen.

Als Martha weg war, schlich sie sich in den Korridor vor ihrer Zimmertür und begann ihren Rundgang. Es würde niemand bemerken, weil sich außer Martha niemand um sie kümmerte und sie nur pünktlich zu den Mahlzeiten in ihrem Zimmer zu sein brauchte.

Es war beeindruckend. Unzählige Türen befanden sich auf dem Korridor, an den ein anderer Flur anschloss. Hier ging es eine Treppe hinauf und Mary war auf dem nächsten Korridor angelangt. Auch hier befanden sich sehr viele Türen und an den Wänden hingen Gemälde, aus denen seltsam gekleidete Menschen auf Mary herab schauten. Mary fragte sich, wer all diese Menschen waren.

Als sie weiter durch die Gänge streifte, kam sie in eine Galerie, in der Porträts von Kindern zu sehen waren und sie fühlte sich ganz komisch beim Betrachten der Bilder. So, als wäre vor ihr noch nie jemand hier gewesen. So, als wäre außer ihr niemand in diesem großen, dunklen Haus. "Es gibt doch aber so viele Zimmer, es muss doch mal jemand hier gelebt haben.", dachte Mary.

Sie hatte noch keine einzige der unzähligen Türen geöffnet, bis sie im zweiten Stock auf die Idee kam, es einfach einmal auszuprobieren. Sie hatte damit gerechnet, dass das Zimmer abgeschlossen sein würde, aber der Türknauf ließ sich ohne Widerstand drehen und die Tür öffnete sich. Mary stand in einem Schlafzimmer.

Nun wollte Mary mehr Zimmer sehen und machte sämtliche Türen auf. In einem Raum entdeckte sie eine Vitrine, in der viele kleine, handgeschnitzte Elefanten standen. Mit ihnen spielte Mary eine Weile. Als sie keine Lust mehr hatte, mit ihnen zu spielen, stellte sie sie wieder in die Vitrine und wanderte weiter durch die Flure.

Bis auf eine Maus, die für ihre Jungen ein Nest in einem der Samtkissen eines Sofas gebaut hatte, war sie niemandem begegnet und hatte nicht einmal ein Geräusch gehört. Alles schien wie ausgestorben.

Mary beschloss, ihre Wanderung durch die Korridore zu beenden und in ihr Zimmer zurückzukehren. Das stellte sich als nicht ganz einfach heraus. Sie verlief sich ein paar Mal, bis sie endlich den richtigen Flur gefunden hatte, auf dem ihr Zimmer lag.

Aber als sie den langen Korridor herunter ging, hatte sie auf einmal das Gefühl, hier vielleicht doch nicht richtig zu sein. "Bin ich etwa schon wieder in die falsche Richtung gegangen?", murmelte sie vor sich hin, als plötzlich ein gellender Schrei die Stille zerriss. Mary hörte, wie ein Kind herzerweichend jammerte.

Heute war es viel näher, als am Abend, an dem sie das Weinen zum ersten Mal gehört hatte. Marys Herz pochte laut. Sie stand vor einem Wandteppich, auf den sie ihre Hand legte. Sie erschrak und zuckte zusammen, denn der Teppich gab nach. Dahinter befand sich ein Korridor, der von dem Wandteppich verdeckt worden war.

Als Mary in den Flur sah, entdeckte sie Mrs. Medlock, die mit einem Schlüsselbund in der Hand wutschnaubend auf sie zukam.

"Was tust du hier?", fuhr sie Mary an.

"Ich hab mich verlaufen",sagte Mary."Ich fand den Weg zu meinem Zimmer nicht und ich hörte jemanden weinen."

"Gar nichts hast du gehört und jetzt gehst du schnurstracks in dein Zimmer!", sagte Mrs. Medlock zornig und fasste Mary fest am Arm und schleifte sie in ihr Zimmer. "Hier wirst du bleiben, sonst werde ich dich einsperren!", bestimmte sie und schlug die Tür zu.

Wütend mit den Zähnen knirschend und bleich vor Ärger hockte Mary vor dem Kamin. Sie wusste es, es hatte jemand geweint. Sie hatte es heute schon zum zweiten Mal gehört und sie war fest entschlossen, herauszufinden, was es damit auf sich hatte.

Sie hatte heute schon vieles geschafft, sie hatte etwas zum Spielen gefunden, die geschnitzten Elefantenfiguren. Und sie hatte die Maus mit ihren Kindern in dem Samtnest gesehen. Sie würde schon noch dahinterkommen, was das Weinen zu bedeuten hatte.

 

 

 

6. Mary findet einen Schlüssel

Ein paar Tage lang hatte es unaufhörlich geregnet, aber als Mary an diesem Morgen aus dem Fenster sah, war der Himmel über dem Moor blau und strahlend. "So ist das im Moor", sagte Martha, die hinter Mary stand, fröhlich. "Der Frühling kommt und dann bleibt der Sturm für eine Weile weg."

Mary hatte gedacht, dass es in England immerzu regnete und war erstaunt, als Martha ihr sagte, dass in Yorkshire der Frühling sehr sonnig sei und das Moor bald schon voll von blühenden Blumen sein werde. Martha schwärmte von herumflatternden Schmetterlingen und singenden, hoch in die Lüfte steigenden Lerchen.

"Wenn du siehst, wie schön das Moor im Frühjahr ist, läufst du bestimmt auch den ganzen Tag draußen herum, wie Dickon", sagte Martha. Das traute Mary sich gar nicht zu, denn sie war noch nie von morgens bis abends irgendwo herumgelaufen.

"Bis zu unserer Hütte sind es fünf Meilen", erzählte Martha. "Ich weiß nicht einmal, ob du es bis dorthin schaffen würdest, weil du noch nie in deinem Leben deine Beine richtig benutzt hast."

"So eine Hütte würde ich gern einmal sehen", sagte Mary.

Martha sah sie prüfend an und stellte fest, dass Mary längst nicht mehr so verdrießlich wie am Anfang aussschaute. Sie beschloss, ihre Mutter zu fragen, ob Mary mit ihr zur Hütte kommen dürfe.

Sie hatte heute nämlich ihren freien Tag und teilte Mary mit, dass sie sich sehr auf diesen Nachmittag mit ihrer Familie freute. "Meine Mutter weiß immer einen Ausweg. Vielleicht redet sie mit Mrs. Medlock, die sehr viel von ihr hält. Vielleicht darfst du dann tatsächlich bald einmal mitkommen", meinte Martha.

"Ich kenne deine Mutter nicht, aber trotzdem mag ich sie sehr gern. Genauso ist es mit Dickon", erwiderte Mary.

"Das verstehe ich gut",sagte Martha voller Stolz. "Mich würde interessieren, was Dickon wohl über dich sagen würde."

Jetzt sah Mary wieder schlecht gelaunt wie eh und je aus. "Er mag mich bestimmt nicht. Keiner mag mich."

"Magst du dich selbst denn?", wollte Martha wissen.

"Ich weiß es nicht, na ja, also eigentlich nicht" , antwortete Mary zögernd.

Ein leichtes Lächeln huschte über Marthas Gesicht.

Nachdem Mary gefrühstückt hatte und Martha zur Hütte gegangen war, ging Mary schnell in den Garten. Sie fühlte sich einsam wenn sie wusste, dass Martha nicht im Haus war. Sie rannte zehn Mal um den Springbrunnen im Garten, danach ging es ihr besser.

Als sie in den ersten Gemüsegarten kam, entdeckte sie Ben Weatherstaff. Er hatte scheinbar auch bessere Laune, weil die Sonne schien, denn er sprach Mary gleich an.

"Merkst du was? Es wird Frühling, riech mal", sagte er und Mary schnupperte.

"Ich rieche etwas frisches, feuchtes und kräftiges."

"Das ist die gute Erde", zufrieden grub er weiter. "Mir macht es Spaß, sie umzugraben, damit alles wachsen kann."

Mary wollte wissen, was denn aus der Erde herauskäme. Erstaunt darüber, dass Mary dies alles nicht wusste, sagte er ihr die Namen der Blumen: Krokusse und Schneeglöckchen.

Mary hatte in Indien nie etwas langsam wachsen gesehen. Wenn dort der Regen fiel, war alles am nächsten Tag schon grün gewesen. Ben erklärte ihr, dass das hier sehr viel langsamer ginge, an einem Tag hier ein Blättchen, am nächsten Tag vielleicht das nächste dort...Sie solle es beobachten. Das wollte Mary tun.

Mit einem Mal hörte sie das Flügelrauschen des Rotkehlchens und freute sich. Es kam ganz nah an Marys Füße heran und hüpfte aufgeregt.

"Kennt es mich noch?", fragte Mary.

"Natürlich kennt er dich noch, er kennt alles in den Gärten ganz genau."

"Gibt es in dem Garten, in dem es lebt, auch noch Pflanzen und Blumen im Boden?", wollte Mary wissen.

Ben Weatherstaffs Gesicht verschloss sich wieder, er wollte nicht über den geheimen Garten sprechen. "Frag Robin, so nenne ich den Vogel. Er ist der Einzige, der sich dort aufhält" sagte Ben nur.

Seitdem Mary auf der Welt war, also zehn Jahre lang, war niemand mehr in dem geheimen Garten gewesen. Mit diesem Gedanken ging Mary weiter.

Robin kam ihr hinterher und machte auf sich aufmerksam. Er zwitscherte, hopste und plusterte sich auf, die Brust weit vorgestreckt. Mary konnte ganz nah an ihn herangehen. Es war aufregend, der Vogel schien ihr vollkommen zu vertrauen. Plötzlich flog er zu einem Beet, an dem Erde aufgeworfen war. So als hätte ein Hund nach etwas gegraben.

Robin ließ sich dort nieder und es sah so aus, als wenn er Mary auffordern wollte, näher zu kommen. Als sie auf das Beet zuging, entdeckte sie etwas in der frisch aufgeworfenen Erde. War es ein Ring? Mary griff nach dem Ring und als sie ihn aus dem Boden zog, erkannte sie, dass es ein alter Schlüssel war, den sie in der Hand hielt.

Benommen sah Mary den Schlüssel an. "Er hat hier viele Jahre lang gelegen. Es könnte der Schlüssel zum geheimen Garten sein!"

 

 

 

7. Die Suche nach dem verborgenen Tor

"Wenn dies der Schlüssel zu dem geheimen Garten ist", überlegte Mary, "dann weiß keiner, dass ich ihn nun habe. Und wenn ich das Tor fände und in den Garten hinein könnte, wüsste niemand, wo ich bin." Der Gedanke gefiel Mary. Sie wollte außerdem herausfinden, was mit den Rosensträuchern geschehen war, und welche Pflanzen dort noch wuchsen.

Sie war ganz aufgeregt. Seit zehn Jahren würde sie der erste Mensch sein, der den Garten wieder betrat. Es war vielleicht etwas Seltsames in dieser Zeit mit dem Garten geschehen. Wie würde er wohl aussehen?

Sie war nun an der Mauer des Gartens und sah sich die Efeuranken, von denen sie bewachsen war, ganz genau an. Aber sie konnte beim besten Willen nichts anderes erkennen als grüne Blätter und schwere Ranken.

Am nächsten Morgen war Martha wieder da. Sie war über Nacht in der Hütte geblieben und war um vier Uhr aufgestanden, gut gelaunt durch das Moor gelaufen und pünktlich und frisch aussehend bei der Arbeit.

Sie erzählte Mary, wie sie mit ihrer Mutter Brot und Küchlein gebacken hatte und wie sie alle am Abend beim Feuer zusammengesessen hatten und Martha Geschichten von Mary erzählte. "Alles wollten sie wissen über dich. Über das Schiff, mit dem du hergekommen bist und über die Eingeborenen in Indien. Sie konnten es gar nicht glauben, dass du dort so bedient worden bist, dass du dir nicht einmal deine Strümpfe alleine anziehen kannst."

Mary versprach Martha noch ein paar spannende Geschichten zu erzählen, bevor sie das nächste Mal zu ihrer Familie ging. Sie wollte von Elefanten, auf denen man reiten konnte berichten und von Männern, die auf Tigerjagd gingen, damit Marthas Familie etwas Spannendes zu hören bekommen würde. Martha freute sich: "Das wäre toll!"

"Ich habe ein Geschenk für dich", sagte Martha. "Mutter hat es für dich von einem vorbeifahrenden Händler gekauft." Sie zog ein Springseil unter ihrer Schürze hervor.

"Ein Geschenk? Für mich?", fragte Mary erstaunt und starrte auf das Seil. "Was ist das?"

"Kennst du etwa kein Springseil?", fragte Martha lachend und führte ihr bereitwillig vor, wie man Seil springt.

Das ist wirklich sehr nett von deiner Mutter. Glaubst du, ich kann es schaffen, auch so zu springen wie du?", fragte Mary.

Sie müsse es einfach ausprobieren, meinte Martha. Ihre Mutter habe gesagt, dass Seil springen das Beste für Mary wäre, davon würde sie kräftig werden.

Beim Üben stellte Mary fest, dass sie keine kräftigen Arme und Beine hatte und auch nicht besonders geschickt war. Aber es machte ihr so großen Spaß, dass sie gar nicht mehr aufhören wollte. Sie hüpfte draußen im Garten weiter, nachdem sie sich umständlich bei Martha bedankt hatte,die Lachen musste, weil Mary dabei so steif und verlegen wirkte.

Im Garten traf sie Ben Weatherstaff, der sich wunderte, dass Mary Seil sprang. "Du bist ja doch ein Kind!", rief er, weil er sie nie hatte spielen sehen. "Du bekommst sogar langsam rote Wangen." Robin tanzte um Ben herum und beobachtete Mary eindringlich.

Mary hüpfte und sprang bis sie ganz außer Atmen war und eine Pause machen musste. Mary hielt an der Mauer, hinter der der geheimnisvolle Garten lag. Sie bemerkte, dass das Rotkehlchen ihr gefolgt war. Es saß auf der Mauer und begrüßte sie zwitschernd.

Was jetzt folgte, erinnerte sie an die Geschichten von Zauberei, die ihr ihre Ayah in Indien oft erzählt hatte. Ein geheimnisvoller Windhauch wehte durch den Gartenweg, der kräftig genug war, um die Efeuranken zu zersausen. Direkt vor ihren Augen riss er plötzlich ein paar Zweige zur Seite, die Mary blitzschnell packte und festhielt.

Als sie die Zweige zur Seite bog, sah sie etwas aus Eisen. Sie zitterte vor Aufregung. Sie hatte das Schlüsselloch des Gartentores gefunden! Sofort zog sie den Schlüssel hervor, steckte ihn in das Schloss und nahm beide Hände, um ihn herumzudrehen. Es funktionierte: Der Schlüssel ließ sich drehen.

Vorsichtig sah Mary sich um. Es hatte sie niemand gesehen. Hierher schien niemals jemand zu kommen. Sie holte tief Luft und presste sich an das Tor, das sehr langsam nachgab. Als der Spalt groß genug war, dass sie hindurchpasste, ging Mary durch das Tor und machte es von innen wieder zu.

Mary konnte ihr Glück kaum fassen. Es verschlug ihr vor Freude und Aufregung den Atem. Sie hatte es geschafft. Sie war in dem geheimen Garten.

 

 

 

8. Ein aufregender Tag

Vor Marys Augen befand sich nun der geheimnisvolle Garten, er wirkte wie verwunschen. Überall rankten sich Kletterrosenzweige, an den Bäumen streckten sie sich ineinander verschlungen empor. Teilweise wucherten sie über den Boden, weil kein Platz mehr an den Bäumen war. Von den Zweigen der Bäume wehten die Ranken wie Vorhänge. Hier und da hatten sie sich von Baum zu Baum ineinander verflochten und bildeten Hängebrücken.

Was Mary am meisten beeindruckte, war die Stille, die hier herrschte. Selbst das Rotkehlchen saß ganz still oben auf seinem Baum und beobachtete Mary.

"Kein Wunder, dass es hier so still ist. Der Garten schweigt, weil ich seit zehn Jahren der erste Mensch bin, der hier ist."

Sie wollte gern wissen, ob die Pflanzen, die es hier noch gab, am Leben waren, aber leider konnte sie es nicht feststellen. Ben Weatherstaff hätte es gekonnt, aber sie sah nur braune und graue Knospen und Zweige.

Mary fühlte sich ganz feierlich und war glücklich, dass sie nun endlich den Garten gefunden hatte und immer wieder zu ihm zurückkehren konnte. So oft sie wollte, konnte sie nun das Tor aufschließen und in ihre eigene kleine Welt besuchen, die ihr soviel bedeutete.

Mit ihrem Springseil hüpfte sie durch den Garten und sah sich alles genau an. An einer Stelle sah sie, dass dort einmal ein Blumenbeet gewesen sein musste. Beim Näherkommen entdeckte sie kleine grüne Spitzen, die sich aus der schwarzen Erde schoben.

Sofort fielen ihr die Namen der Blumen ein, die Ben ihr genannt hatte. "Vielleicht wachsen hier Krokusse, Schneeglöckchen oder Narzissen.", sagte sie zu sich selbst. "Dann könnten an anderen Stellen auch Blumen wachsen." Sie beugte sich über das Beet und sog den erdigen Geruch ganz tief ein. Sie liebte den Geruch.

Vorsichtig ging sie weiter , um zu sehen, ob es noch andere Blumen gab. Es gab noch Leben in diesem Garten, das freute Mary sehr. Sie entdeckte jede Menge lebendiger Stauden und war ganz aufgeregt.

Sie fing an, Gräser an einigen Stellen zu entfernen, an denen sie Triebe entdeckt hatte. Sie wollte, obwohl sie noch niemals Gartenarbeit verrichtet hatte, diesen Trieben Platz zum Wachsen verschaffen. Sie nahm sich vor, jeden Tag wiederzukommen und Unkraut zu entfernen und zu graben. Sie hatte so viel Spaß an dieser Arbeit, dass sie gar nicht mehr aufhören wollte und ziemlich viel schaffte.

Gegen Mittag fiel ihr plötzlich ein, dass es schon längst Zeit zum Essen war. Sie sah noch einmal auf die kleinen grünen Blätterspitzen, denen sie Platz zum Atmen gegeben hatte und fand, dass sie schon viel kräftiger und gesünder aussahen. Sie war hoch zufrieden und sagte zu den Rosensträuchern und Bäumen, dass sie nachmittags wieder herkommen würde.

Mit glühenden Wangen, leuchtenden Augen und einem riesigen Appetit saß sie am Mittagstisch und verdrückte eine so große Portion, dass Martha sie lobte und sich freute. Sie wollte gleich ihrer Mutter erzählen, wie gut Mary das Seilspringen tat.

Beim Essen fiel Mary ein, dass sie beim Graben im Garten eine Wurzel aufgefallen war, die wie eine weiße Zwiebel ausgesehen hatte. Sie fragte Martha möglichst unauffällig danach. "Das sind Knollen. Aus ihnen wachsen Blumen, zum Beispiel Narzissen und Oseterglocken.", erklärte Martha. "Dickon hat jede Menge Lilienzwiebeln in unserem Garten eingepflanzt."

Mary erfuhr, dass Dickon sehr viel über Blumen wusste. Außerdem erzählte Martha, dass Blumenzwiebeln sich selbst helfen, in dem sie sich in der Erde selbst vermehren, sogar dann, wenn sich niemand um sie kümmerte. Mary war erleichtert, in ihrem Garten war Leben.

Sie wollte gerne einen Spaten haben und sprach mit Martha darüber. Diese wunderte sich etwas über Marys ungewöhnlichen Wunsch. Aber als Mary sagte ihr, dass sie sich in dem großen Haus einsam fühlte und gern einen kleinen Garten anlegen wollte. Martha war sofort überzeugt, dass dies das Richtige sei. Auch ihre Mutter hätte zu ihr gesagt, dass man Mary ein Stück Land zum Bepflanzen geben sollte.

Es beeindruckte Mary, dass Marthas Mutter, ohne sie zu kennen, mit ihren Vorschlägen immer ins Schwarze traf. Sie musste so ganz anders sein als Marys Mutter in Indien.

"Ich habe eine Idee, wie du zu deinem Spaten kommst, Mary", sagte Martha. "Wenn du Druckbuchstaben schreiben kannst, denn die kann Dickon lesen, dann diktiere ich dir einen Brief an ihn. Er kann in Thwaite ein Gartenset und Blumensamen für dich besorgen. Es gibt dort einen kleinen Laden, in dem ich einen Spaten, eine Harke und eine Spitzhacke, die zusammen zwei Shilling kosten, gesehen habe."

"Das ist ja so toll!" rief Mary. "Das Geld habe ich. Ich bekomme jede Woche einen Shilling von Mrs. Medlock. Bis jetzt wusste ich nicht, wofür ich das Geld brauchen könnte. Und Druckbuchstaben kann ich bestimmt schreiben."

Martha holte schnell Papier und einen Stift. Voller Vorfreude begann Mary zu schreiben, was Martha ihr diktierte:

"Mein lieber Dickon,

ich hoffe, dir geht es im Moment so gut wie mir. Miss Mary möchte gern ein Blumenbeet anlegen und wir dachten, dass du nach Thwaite gehen könntest, um dort Gartengeräte und Samen zu kaufen. Such die schönsten aus und welche, die leicht aufzuziehen sind. Es ist nämlich das erste Mal, dass Mary ein Blumenbeet anlegen will und in Indien ist alles ganz anders. Grüße an alle Zuhause,

deine Schwester, die dich lieb hat,

Martha Phoebe Sowerby"

Das Geld wollten die Beiden einem Freund von Dickon mitgeben, dem Metzgersjungen, der mit seinem Karren weit herum kam. Martha sagte, dass Dickon die Sachen selbst vorbeibringen würde, nachdem er sie gekauft hätte. Mary brauchte sie nicht abzuholen.

Verlegen und aufgeregt stellte Mary fest, dass sie Dickon dann zu sehen bekommen würde."Ich dachte, ich würde ihn bestimmt nie kennen lernen", sagte sie zu Martha.

"Möchtest du das denn nicht?" fragte Martha. Sie hatte bemerkt, dass Mary ziemlich begeistert aussah.

"Doch, schrecklich gern", antwortete Mary.

"Ach, wie konnte ich vergessen, dir zu sagen, dass ich mit Mutter gesprochen habe! Ich habe sie gefragt, ob du einmal mitkommen kannst zu unserer Hütte", fiel Martha ein. "Mutter sagte, du solltest Mrs. Medlock selbst fragen, ob du mitfahren darfst, sie erlaubt es dir bestimmt."

Mary konnte gar nicht fassen, dass heute all die aufregenden Dinge nacheinander geschahen. Sie stellte sich vor, wie sie am helllichten Tag über das Moor fahren und die Hütte mit den zwölf Kindern sehen würde. Ihr gefiel die Vorstellung. Sie würde Dickon sehen und Marthas Mutter.

Mary und Martha saßen noch eine Weile zusammen und beide waren eine Zeit lang ziemlich still.

Aber dann fiel Mary ein, dass sie auch heute wieder das unheimliche Weinen auf dem Flur gehört hatte. Sie fragte Martha, ob das Mädchen in der Küche heute wieder Zahnschmerzen gehabt hätte.

Martha zuckte ein bisschen zusammen. "Wie kommst du denn jetzt darauf?", fragte sie.

"Als ich heute auf dich gewartet habe, habe ich die Tür aufgemacht und bin ein Stück den Flur hinunter gegangen. Da habe ich wieder das Schreien gehört, zum dritten Mal schon. Es ist heute kein Wind, es kann also nicht der Wind gewesen sein."

"Du darfst nicht herumlaufen und lauschen. Wenn Mr. Craven davon erfährt wird er schrecklich böse. Ich weiß nicht, was er dann mit dir machen wird" erwiderte Mary nur und dann verschwand sie aus Marys Zimmer, weil Mrs. Medlock angeblich nach ihr geläutet habe.

"Das ist wirklich das seltsamste Haus, das man sich nur vorstellen kann", sagte Mary, müde von den Anstrengungen dieses Tages.

 

 

 

9. Mary lernt Dickon kennen

Jeden Tag in dieser Woche ging Mary in den geheimen Garten. Sie genoss die Sonne, die jeden Tag schien und das Gefühl, dass niemand wusste, wo sie war. Die Mauern um den Garten beschützen sie und sie fühlte sich geborgen hier.

Sie hatte sich auch an den Wind gewöhnt, sie liebte es inzwischen, draußen zu sein. Auch das Seilspringen gelang ihr immer besser, sie schaffte schon hundert Sprünge.

Voller Energie grub sie ihren Garten um und zupfte Unkraut aus. Endlich hatte sie etwas gefunden, dass sie voll und ganz erfüllte. Sie konnte gar nicht genug von der Gartenarbeit bekommen.

Immer, wenn sie morgens in den Garten ging, konnte sie sicher sein, neue Blumentriebe zu finden. Sie entdeckte so viele neue Triebe, wie sie nie gehofft hatte zu finden. Sie stellte sich vor, wie schön der Garten erst sein musste, wenn all diese Blumen blühten.

In dieser Woche traf sie oft auf Robin, der ihr Freund geworden war. Auch Ben Weatherstaff lernte sie langsam immer besser kennen. "Du tauchst auch immer auf, wenn man es am wenigsten erwartet, wie Robin", sagte er eines morgens zu Mary. Eifrig grub er und schwieg eine Weile. Aber da er freundlich dreinschaute, wagte Mary, ihn anzusprechen.

"Was würdest du säen, wenn du einen eigenen Blumengarten hättest?", fragte sie ihn.

"Duftende Blumen, vor allem Rosen", antwortete er.

"Magst du Rosen?", wollte Mary wissen.

Ben Weatherstaff zog erst noch eine Unkrautwurzel aus dem Boden und warf sie beiseite, ehe er antwortete. "Ja, ich mag sie. Habe bei einer jungen Dame als Gärtner gearbeitet, die eine Menge Rosen hatte. In einem Garten, den sie sehr liebte. So liebte, wie sie auch Kinder und Rotkehlchen liebte. Habe gesehen, wie sie sich zu den Rosen hinunter beugte und sie küsste." Ben riss mit zusammengekniffenem Gesichtsausdruck noch mehr Unkraut aus dem Boden. "Zehn Jahre her ist das jetzt."

"Wo ist denn die Dame jetzt?" Mary war zu neugierig geworden, als dass sie hätte aufhören können, weiter zu fragen.

"Der Pastor sagt, sie sei im Himmel", meinte Ben und stieß seinen Spaten kräftig in die Erde.

"Und die Rosen? Was ist aus ihnen geworden? Sind sie gestorben?", Mary wollte es jetzt genau wissen.

"Weiß nicht, blieben sich selbst überlassen. Früher habe ich mich um die Rosen gekümmert, sie beschnitten und ihre Wurzeln bearbeitet. Verwildert werden sie wohl sein, aber der Boden war gut, einige leben bestimmt noch", erwiderte Ben.

Mary war aufgeregt, sie musste einfach noch mehr wissen. "Wie kann man sehen, ob noch Leben in den Rosen ist. Wenn keine Blätter an ihnen sind und grau und braun aussehen?"

"Man muss den Frühling abwarten und die Zweige ansehen. Wenn hier und da braune Knötchen zu finden sind, dann beobachte, wie diese nach einem warmen Regen aussehen." Erst jetzt wurde Ben stutzig. "Sag mal, warum interessierst du dich plötzlich so für Rosen?"

Mary wurde rot und sagte schnell, dass sie Garten spielen wolle, sie hätte doch nichts und niemanden und auch sonst nichts zu tun.

So ganz schien Ben ihr diese Ausrede nicht abzunehmen, aber er gab Mary weiterhin bereitwillig Auskunft. Sie konnte ihm all ihre Fragen stellen und er beantwortete sie in seiner brummigen Art. Ehe Mary ging fragte sie ihn noch, ob er in diesem Jahr die Rosen der Dame schon bearbeitet hätte und das ging Ben zu weit. "Nein. Habe steife Gelenke. Und außerdem sollst du nicht so viele Fragen stellen. Genug für heute! Geh spielen!"

Da er so schroff geworden war, sah Mary ein, dass es keinen Sinn hatte, länger zu bleiben. Sie hüpfte mit ihrem Springseil davon. Sie dachte dabei daran, dass sie, obwohl Ben so brummig war, sie ihn richtig liebgewonnen hatte.

Sie beschloss, den Weg bis zum Wald entlang zu hüpfen und zu sehen, was es dort gab. Da hörte sie plötzlich ein merkwürdiges Pfeifen. Als Mary in die Richtung ging, aus der das Pfeifen kam, staunte sie, als sie einen Jungen unter einem Baum sitzen sah. Er lehnte sich an den Stamm und spielte auf einer Holzflöte.

Eigenartig sah er aus. Ungefähr zwölf Jahre mochte er sein. Er hatte eine Stupsnase und bemerkenswert runde Augen, solche runden Augen hatte Mary noch nie gesehen. Seine Wangen waren so rot wie Kirschen. Um ihn herum waren zwei Kaninchen, ein Fasan und ein Eichhörnchen und es schien, als wären sie gekommen, um seinem Flötenspiel zuzuhören.

Der Junge sah Mary und sagte, dass sie sich nicht bewegen solle, sonst würden die Tiere fliehen. Also stand Mary da wie angewurzelt.

Der Junge hörte auf zu flöten, stand auf und kam ganz langsam und vorsichtig auf Mary zu. Die Tiere begriffen, dass die Vorstellung zuende war und zogen sich unerschrocken in den Wald zurück.

"Ich bin Dickon", stellte sich der Junge vor. "Du musst Mary sein."

"Hast du Marthas Brief bekommen?", fragte Mary.

"Ja, ich habe dir auch deine Gartengeräte und Samen mitgebracht. Komm, wir setzen uns auf den Baumstumpf und sehen uns alles an."

Dickon holte ein kleines Päckchen aus seiner Jackentasche, nachdem sie sich gesetzt hatten. Er zeigte Mary die Samen und erklärte, welche Blumen aus ihnen wachsen würden.

Lächelnd drehte er seinen Kopf und fragte, woher Mary das Rotkehlchen kennen würde, das sie beide riefe.

"Es ruft uns?" Mary war erstaunt.

"Ja", sagte Dickon, als gäbe es keinen Grund, sich zu wundern. "Es ruft nach einem Freund. Da drüben im Busch sitzt es und hat Lust, sich ein wenig zu unterhalten. Bist du sein Freund?"

Mary war ein bisschen verunsichert. "Ich glaube schon. Ich kenne es und es kennt mich auch ein wenig, denke ich."

"Es kennt dich nicht nur, es liebt dich" sagte Dickon lachend. "Gleich wird es mir alles über dich erzählen. Du bist sein Freund. Vögel gehen Menschen, die sie nicht leiden mögen aus dem Weg und dieser Vogel lässt dich ganz nah an sich heran."

"Kannst du alles, was Vögel sagen, verstehen?" Mary war verwundert. Dickons Gesicht schien nur noch aus einem lachenden Mund zu bestehen, weil er so breit lächelte. "Ich glaube schon. Ich lebe zusammen mit ihnen im Moor. Ich beobachte sie, wenn sie aus ihren Eiern schlüpfen, sie flügge werden und zu singen anfangen."

Dann redete Dickon wieder über Blumensamen. Er beschrieb, wie die Blumen aussehen würden, die aus ihnen wachsen würden. Außerdem erklärte er ihr, wie sie sie pflanzen, gießen und beobachte sollte.

"Wo ist denn dein Garten? Ich säe die Samen auch gerne für dich aus", schlug Dickon vor.

Das hatte Mary nicht erwartet. Sie hatte Angst. Sie wollte ihren Garten nicht verlieren, sie hatte sich doch vorgenommen, niemandem von ihm zu erzählen.

Sie schwieg und wurde abwechselnd blass und wieder rot. Dickon war verwirrt. "Du hast doch einen kleinen Garten, oder wollen sie dir keinen geben?", wollte er wissen.

"Ich weiß nicht, ob ich du ein Geheimnis für dich behalten kannst", sagte Mary und presste ihre Hände zusammen. "Es ist ein großes Geheimnis und wenn es herauskäme, müsste ich würde ich bestimmt tot umfallen."

Erstaunt sah Dickon sie an. Fröhlich antwortete er, dass er Geheimnisse immer bewahre. Wenn er zum Beispiel die Geheimnisse der Tiere nicht für sich behalten würde, wo sich ihre Nester und Bauten befänden, würden sie nicht sicher leben können.

"Der Garten, in dem ich immer bin, gehört nicht mir. Ich habe ihn gestohlen", beeilte Mary sich zu sagen. "Keiner will ihn haben, niemand kümmert sich um ihn und niemand geht hinein." Plötzlich wurde sie trotzig wie früher: "Keiner darf ihn mir wegnehmen, weil ich mich um ihn kümmere, was sonst keiner tut. Egal, ob ich ihn gestohlen habe oder nicht."

Dickon verstand Mary. Er wollte den Garten sofort sehen und Mary führte ihn hinein. "Das ist der geheime Garten. Außer mir möchte niemand, dass er lebt." Dickon sah sich genau um. "Ja, der Garten ist wie ein schöner, seltsamer Traum", sagte er schließlich.

 

 

 

10. So sicher wie ein Vogel in seinem Nest

Sehr wachsam betrachtete Dickon alle Pflanzen und Bäume in dem Garten. Er war dabei noch behutsamer, als Mary es gewesen war.

"Dass ich diesen Garten tatsächlich einmal sehen darf, hätte ich nie gedacht", sagte er leise.

"Du wusstest von ihm?", fragte Mary und hatte dabei zu laut gesprochen. Dickon erinnerte sie daran, dass sie leise sein mussten, wenn sie nicht von jemandem gehört werden wollten.

Dann berichtete er flüsternd, dass Martha ihm einmal von einem Garten erzählt hatte, den niemand betreten würde. Dickon habe sich immer vorgestellt, wie er wohl aussehen würde, dieser geheimnisvolle Garten.

Er besah sich die wuchernden Rosenranken und stellte fest, dass dies der sicherste Nistplatz in ganz England sein müsse, mit unzähligen Ranken und Zweigen zum Nisten und vor allem ohne ungebetene Besucher.

"Meinst du, die Rosen werden jemals wieder blühen? Ich befürchtete, sie seien alle tot", meinte Mary.

"Es sind bestimmt nicht alle tot", gab Dickon flüsternd zurück.

Er zeigte ihr einen Baum, dessen Rinde mit Flechte und Rinde dicht bewachsen war. Er schien uralt zu sein, aber er trug einen dichten Vorhang aus Zweigen und Ranken. Dickon sagte, es müsse einiges trockenes Holz weggeschnitten werden, aber es wären auch viele junge Triebe vom letzten Jahr da. Er zeigte Mary einen grünlich braunen Zweig. "Das ist ein neuer Zweig", sagte er. Ehrfürchtig nahm Mary den Zweig in die Hand.

Beide waren nun ganz aufgeregt und voller Tatendrang. Sie gingen von einem Busch zum anderen und Dickon zeigte Mary, wie man vertrocknete Zweige abschnitt. Sie gruben Wurzeln aus, lockerten die Erde auf und sorgten dafür, dass die Wurzeln Luft bekamen.

Als sie an die Stelle kamen, an der Mary schon Tage zuvor Unkraut entfernt hatte, staunte Dickon: "Sieh mal Mary!", sagte er und deutete auf die gesäuberte Stelle. "Wer hat das wohl gemacht?" "Das war ich", antwortete Mary und Dickon lobte sie. Sie habe es so gut gemacht als wäre sie ein Gärtner. Und das obwohl sie gar keine Ahnung vom Gärtnern habe. Beim Sprechen hatte er wieder dieses große Grinsen im Gesicht.

Er lief hin und begutachtete Marys Arbeit ganz genau. Er freute sich, hier würden bald Narzissen, Krokusse, Schneeglöckchen und Osterblumen wachsen. "Es wird wunderschön aussehen. Und das ist dein Verdienst. Dafür, dass du noch ein kleines Mädchen bist, hast du wirklich viel geschafft" lobte Dickon Mary noch einmal.

"Ich bin schon kräftiger geworden. Ich werde überhaupt nicht mehr müde vom Graben" erwiderte Mary.

Zufrieden sah Dickon sich im Garten um. "Hier gibt es eine ganze Menge zu tun", stellte er fest.

"Kannst du nicht wiederkommen und mir dabei helfen?", bat Mary ihn.

"Immer. Egal, ob die Sonne scheint oder es regnet. Wann du es willst, werde ich da sein", antwortete er mit fester Stimme.

Nachdenklich rieb sich Dickon über seinen rothaarigen Kopf. "Trotzdem kommt es mir so vor, als wenn noch jemand außer dem Rotkehlchen hier gewesen ist, seit der Garten verschlossen ist. Hier wurden in den letzten Jahren immer mal wieder Zweige gestutzt. Aber das Tor war doch verschlossen und der Schlüssel vergraben. Ich verstehe das nicht."

Während Mary Dickon ansah, dachte sie, dass sie diesen Morgen nie in ihrem Leben vergessen würde. "Ich hab dich gern, Dickon. Du bist wirklich so nett wie Martha es gesagt hat. Du bist der Fünfte, den ich mag. Ich dachte nicht, dass ich jemals so viele mögen würde."

Lustig und begeistert sah Dickon jetzt aus. "Fünf hast du gern? Welche vier anderen sind es, die du magst?"

"Deine Mutter, Martha", zählte Mary auf, "Robin, das ist das Rotkehlchen und Ben Weatherstaff."

Dickon musste sich sehr beherrschen, um nicht lauthals zu lachen. Er hielt sich die Hand vor den Mund. "Du bist wirklich das merkwürdigste Mädchen, das ich je gesehen habe. Und ich weiß, dass du mich auch für einen komischen Jungen hältst." Mary wunderte sich über sich selbst, als sie sich plötzlich vorbeugte und Dickon gerade heraus fragte, ob er sie denn möge.

Herzlich erwiderte er, dass er sie sehr gern möge, so wie Robin sie mochte. "Dann sind es auch schon zwei, die für mich sind", stellte Mary zufrieden fest.

Es gab ihr so viel Auftrieb, dass sie noch eifriger und fröhlicher arbeitete. Als die große Glocke im Hof zum Mittagessen läutete, wurde sie traurig.

"Jetzt muss ich wohl gehen", meinte sie. "Du gehst jetzt bestimmt auch nach Hause um zu essen, oder?" Sie wollte am liebsten den ganzen Tag ohne Unterbrechung weiter arbeiten.

Dickon lachte und zog zwei dicke Butterbrote, die in ein Tuch gewickelt waren, aus seiner Jackentasche. "Ich muss nicht zum Essen. Ich habe mein Mittagessen immer bei mir. Mutter steckt mir morgens immer etwas in die Tasche. Geh du schnell und iss. Ich will noch ein etwas weitermachen, bevor ich nach Hause laufe."

Mary wollte gar nicht fort von Dickon. Sie ging langsam auf das Tor zu, drehte dann noch einmal um und kam auf ihn zu.

"Du wirst aber doch nichts verraten, egal was passiert?", fragte sie.

"Wenn ein Vogel mir sein Nest zeigt, ich würde es niemals verraten. Du bist hier so sicher wie der Vogel in seinem Nest", erwiderte er.

Mary wusste, dass er Recht hatte.

 

 

 

11. Mary trifft Mr. Craven

Ein wenig zu spät kam Mary zum Mittagessen. Martha wartete bereits auf sie.

"Ich habe Dickon getroffen", erzählte Mary.

"Das habe ich mir schon gedacht. Er ist also wirklich gekommen", freute Martha sich. "Und? wie findest du ihn?"

"Er ist schön", antwortete Mary aus tiefer Überzeugung. Etwas verwundert, aber trotzdem zufrieden sah Martha Mary an.

"Was feststeht, ist, dass er der beste Junge auf der ganzen Welt ist. Dass er besonders hübsch ist, ist mir nie aufgefallen. Er hat eine Stupsnase."

"Ich mag seine Nase und auch seine runden Augen. Sie sind so blau wie der Himmel über dem Moor", sagte Mary.

Martha grinste in sich hinein.

Mary hatte ein wenig Angst, dass Martha schwierige Fragen stellen würde, aber sie tat es nicht, denn sie interessierte sich nicht für Gartenarbeit. Sie sagte nur, Mary solle Ben Weatherstaff nach einem Stück Garten fragen, auf dem Mary die Blumen pflanzen könne. Ben wäre gar nicht so schlimm, wie er aussähe und vor allem könne er tun und lassen was er wolle, weil er schon lange hier arbeite und Mr. Craven ihm vertraue.

Nach dem Mittagessen hatte Mary es sehr eilig, denn sie wollte zurück in den Garten. Aber Martha hielt sie fest. "Ich muss dir etwas sagen. Mr. Craven möchte dich sehen." Mary wurde blass. "Ich dachte, er wolle mich niemals sehen. Das sagte Pitcher doch, als ich hier ankam."

"Mrs. Medlock meint, dass er dich sehen will, weil meine Mutter ihm in der Stadt begegnet ist und mit ihm gesprochen hat. Ich glaube, sie hat ihm gesagt, dass er dich unbedingt kennen lernen müsse, bevor er morgen wieder für eine Weile wegfährt", erklärte Martha.

Mary war froh, dass ihr Onkel ab Morgen wieder fort sein würde. Vielleicht würde er bis zum Herbst oder Winter nicht wieder da sein. Dann hätte sie genug Zeit, um den verbotenen Garten zu beobachten, wie er wieder zum Leben erwachte. Wenn er es dann herausfinde und ihr den Garten wegnehmen würde, hätte sie zumindest diese Zeit für sich gehabt.

Mrs. Medlock kam ins Zimmer, gerade als Mary von Martha wissen wollte, warum Mr. Craven sie wohl sehen wollte.

"Martha, zieh Mary ihr bestes Kleid an. Du musst dich dringend noch kämmen, Mary. Du siehst ganz zersaust aus", wies Mrs. Medlock an. "Mr. Craven möchte, dass ich Mary jetzt zu ihm bringe."

Mary bekam ein flaues Gefühl im Magen, sie wurde schlagartig ganz blass. Ihr Herz schlug bis zum Hals. Sie merkte, dass sie steif und trotzig wurde, denn sie fühlte sich hilflos. Sie ließ sich wortlos anziehen und bürsten und folgte Mrs. Medlock schweigend durch die Flure.

Mary war sich sicher, dass Mr. Craven und sie sich gegenseitig nicht ausstehen können würden und deswegen gab es auch nichts, was sie hätte noch sagen können.

Mrs.Medlock führte Mary in einen Teil des Hauses, den Mary nicht kannte. Dann klopfte sie an eine der Türen und als in diesem Zimmer ein "Herein" gesagt wurde,gingen sie hinein.

Mary sah den Mann vor dem Kamin sitzen. "Das ist Miss Mary, Sir", stellte Mrs. Medlock Mary vor. "Sie können gehen. Lassen Sie sie hier. Ich werde klingeln, wenn ich Sie brauche", sagte Mr. Craven.

Nun stand Mary allein und hilflos vor Mr. Craven und wusste nicht, was sie jetzt tun sollte. Verlegen rieb sie sich die Hände und blieb einfach stehen. Er hatte gar keinen Buckel, stellte Mary fest. Seine schwarzen Haare waren durchzogen von weißen Strähnen.

Mr. Craven wandte sein Gesicht jetzt Mary zu.

"Komm näher", sagte er.

Als Mary zu ihm trat, sah sie, dass er nicht hässlich war. Aber er hatte einen unendlich traurigen Ausdruck im Gesicht, der verhinderte, dass es hübsch war. Er sah sie an und Mary konnte in seinem Gesicht sehen, dass er nicht wusste, was er mit Mary anfangen sollte.

"Wie geht es dir?", fragte er unbeholfen.

"Gut", antwortete Mary.

"Passt du gut auf dich auf?"

"Ja!"

Bekümmert rieb er sich die Stirn und stellte fest:"Du bist zu dünn."

"Ich habe aber schon zugenommen", erwiderte Mary steif.

Es kam Mary so vor, als ob Mr. Craven sie mit seinen traurigen schwarzen Augen gar nicht wirklich sehen konnte. Er schien etwas anderes vor Augen zu haben und über etwas anderes nachzudenken.

"Ich habe dich ganz vergessen. Eigentlich wollte ich eine Kinderfrau oder eine Erzieherin für dich anstellen, aber ich habe mich gar nicht mehr an dich erinnert", sprach er.

"Bitte", Mary hatte einen dicken Kloß im Hals, der es ihr schwer machte zu sprechen. "Bitte! Ich bin schon zu groß für eine Kinderfrau. Und eine Erzieherin möchte ich auch nicht."

Er sah Mary mit starrem Blick an.

"Das hat Mrs. Sowerby auch gemeint", sagte er teilnahmslos.

Mary fasste sich ein Herz. "Ist das Marthas Mutter?" stotterte sie.

"Ja, ich glaube schon."

"Sie muss es wissen, denn sie weiß alles über Kinder. Sie hat nämlich zwölf Stück."

"Was möchtest du denn tun?", fragte Mr. Craven.

Mary versuchte ihre Stimme so fest wie möglich klingen zu lassen und erwiderte, dass sie gerne draußen spielen würde. Wenn sie draußen wäre und den Wind vom Moor spüre, fühle sie sich kräftig.

Mr. Craven sah, dass Mary sich vor ihm fürchtete und wurde umso betrübter. Er sagte ihr, dass sie keine Angst zu haben brauchte. Er sei doch ihr Beschützer, auch wenn er diese Aufgabe nicht besonders gut mache. Er versprach ihr, dass sie draußen spielen könnte, wann immer und wo immer sie wollte.

Mary konnte es nicht fassen. Sie war so aufgeregt, dass sie alle Vorsicht vergaß, als Mr. Craven sie fragte, ob sie noch irgendetwas haben wolle, vielleicht eine Puppe oder Bücher. Mary fragte in ihrem Eifer, ob sie wohl ein bisschen Erde haben dürfe.

Mr. Craven war tatsächlich ein wenig irritiert. "Was meinst du damit?", fragte er.

"Ich könnte Samen aussäen und den Blumen beim Wachsen zusehen", antwortete Mary und stockte, als sie sah, wie Mr. Craven sie anstarrte. Er wischte sich schnell über die Augen, stand auf und wanderte im Zimmer auf und ab.

"Erde", sagte er zu sich selbst. Er schien sich an irgendetwas zu erinnern. Dann blieb er vor Mary stehen und blickte sie fast freundlich an. "Du kannst so viel Erde haben, wie du willst. Du erinnerst mich an jemanden, der die Erde liebte und alles, was auf ihr wächst. Wenn du einen Garten siehst, den du haben möchtest, kannst du ihn dir einfach nehmen", sagte er.

Als er dies zu ihr gesagt hatte, griff er nach der Glocke und läutete nach Mrs. Medlock. "Du musst jetzt gehen, ich bin müde. Auf Wiedersehen. Ich werde den ganzen Sommer fort sein."

Zu Mrs. Medlock sagte Mr. Craven, dass Mary, bevor sie Unterricht bekommen würde, erst noch kräftiger werden sollte. Sie solle Mary, so oft wie möglich draußen herumlaufen und sie dabei in Ruhe lassen. "Sie braucht frische Luft und Freiheit und viel Bewegung. Wenn es geht, soll Mrs. Sowerby dann und wann kommen und nach Mary sehen. Mary soll auch zwischendurch einmal zu der Hütte fahren", wies er Mrs. Medlock an.

Insgeheim war Mrs. Medlock froh, dass sie sich nicht allzu viel um Mary zu kümmern brauchte.

Mary rannte glücklich in ihr Zimmer zurück und überbrachte Martha freudig die guten Nachrichten. Sie konnte es kaum glauben. Sie durfte ihren Garten haben, bekam noch keine Erzieherin und durfte zum Häuschen der Sowerbys fahren. Feierlich sagte sie zu Martha: "Mr. Craven ist wirklich ein netter Mann, aber sein Gesicht ist sehr traurig und seine Stirn ist voll von tiefen Falten."

Mary beeilte sich nun, in den Garten zu laufen. Sie hoffte, Dickon würde noch da sein. Aber als sie ankam, fand sie alle Gartengeräte ordentlich zusammengepackt vor. Dickon war nirgends zu sehen. Dafür fand sie ein Stück Papier, das an einem Rosenbusch befestigt war. Dickon hatte es für sie hiergelassen. So gut er konnte, hatte er etwas darauf geschrieben. Außerdem war eine Zeichnung zu sehen.

Mary erkannte nach einer Weile, dass Dickon einen Vogel in seinem Nest gezeichnet hatte. Darunter stand: "Ich kumme widder."

 

 

 

12. Colin

Erst als Mary abends in ihrem Zimmer war, merkte sie, dass Dickon ihr mit dem Bild eine Botschaft geschickt hatte. Es war sein Versprechen, dass er das Geheimnis um den Garten gut bewahren würde.

Mitten in der Nacht wurde Mary von laut gegen ihr Fenster schlagenden Regentropfen geweckt. Der Wind heulte und rauschte durch die Kamine des Hauses. Mary setzte sich im Bett auf. Sie fühlte sich gar nicht gut.

Eine Stunde lang lag sie wach im Bett, als sie plötzlich wieder das unheimliche Weinen hörte, das vom Flur her kam.

"Das ist nicht der Wind", flüsterte sie. Ihre Tür war aufgegangen, so dass die das bitterliche Weinen noch deutlicher hörte.

Sie fasste einen Entschluss. Heute Nacht würde sie endgültig herausfinden, woher das Weinen kam und wer oder was dahintersteckte.

Sie hatte keine Angst, auch nicht vor Mrs. Medlock. Sie hatte einen Plan und den verfolgte sie nun. Sie sprang auf, zog ihre Hausschuhe an und trat auf den Korridor.

Sie lauschte dem Weinen und folgte diesem unheimlichen Geräusch durch die Flure. Bald entdeckte sie eine Tür, die einen Spalt offen stand, durch den ein Lichtschimmer auf den Flur fiel.

Es war eindeutig. Hinter dieser Tür weinte jemand kläglich. Das hörte Mary deutlich. Entschlossen betrat sie das Zimmer und entdeckte in einem Bett liegend einen Jungen, der vor sich hin jammerte.

Der Junge hatte ein zartes Gesicht mit scharfen Zügen. Riesige Augen hatte er. Sein lockiges Haar fiel ihm in die Stirn. Er sah krank aus und schien zu weinen, weil er müde oder verärgert war. War das alles nur ein Traum? Oder erlebte Mary all das wirklich? Sie war sich nicht sicher.

Mary ging so nah an den Jungen heran, dass er sie schließlich bemerkte. Seine riesenhaften Augen starrten sie weit aufgerissen an.

"Wer bist du?",flüsterte er."Ein Geist?"

Mary war genauso erschrocken und sagte:"Nein, bist du vielleicht einer?"

Sie starrten sich gegenseitig an. Mary fand, dass seine Augen zu groß und zu grau für sein Gesicht waren.

"Nein", antwortete der Junge schließlich."Ich bin Colin."

"Ich verstehe nicht", stammelte Mary.

"Colin Craven. Wer bist du?", sagte der Junge.

"Mary Lennox ist mein Name. Mr. Craven ist mein Onkel."

"Er ist mein Vater", meinte Colin.

Mary wunderte sich."Warum hat mir niemand gesagt, dass er einen Sohn hat?"

Colin bat sie, näher zu kommen. Er berührte sie am Arm. "Du bist echt", stellte er fest. "Ich habe oft seltsame Träume."

"Ich bin kein Traum", erwiderte Mary und ließ ihn ihren Morgenmantel befühlen.

Colin fragte Mary, woher sie komme und Mary erzählte ihm, dass sie sein Weinen bis in ihr Zimmer gehört hatte und herausfinden musste, woher es kam.

"Warum hast du geweint?", fragte sie ihn.

"Ich konnte nicht schlafen und habe Kopfschmerzen", sagte er. "Wie heißt du nochmal?"

"Mary Lennox. Wusstest du nicht, dass ich hierher gekommen bin und hier lebe?"

"Mein Vater verbietet jedem, über mich zu sprechen. Weil ich krank bin und immer in diesem Bett liegen muss, bis ich bald sterbe. Wenn ich länger leben würde, bekäme ich einen Buckel, wie mein Vater. Mein Vater hasst den Gedanken, dass ich werden könnte wie er", erzählte Colin.

Wie seltsam dieses Haus doch war! Versperrte Türen, ein verbotener Garten und jetzt auch noch ein eingesperrter Junge. Aber Colin sagte, er sei nicht eingesperrt gewesen. Er wolle einfach nicht hinaus, er hasse frische Luft, sie würde ihn zu müde machen. Sein Vater käme ihn meist nur besuchen, wenn er schlafe, weil er Colin nicht ansehen möge.

Mary begriff langsam, während Colin erzählte: Mr. Craven konnte den Anblick seines Sohnes nicht ertragen, da er ihn an seine verstorbene Frau erinnerte. Er hatte nie mit Colin darüber gesprochen, aber er hatte die Dienstboten darüber reden hören.

"Möchtest du, dass ich gehe?", fragte Mary, da sie sicher war, dass Colin keinen Menschen sehen wollte. Aber Colin hielt Mary am Zipfel ihres Morgenrocks fest und forderte sie auf, ihm etwas zu erzählen.

Colin stellte Mary alle möglichen Fragen und Mary erzählte ihm, was er wissen wollte. Von Indien sprach sie und von ihrer Schiffsreise. Colin lag in seinen Kissen und hörte gespannt zu. Colin ließ Mary wissen, dass er alles bekam, wonach er verlangte. "Alle hier müssen tun, was ich verlange", sagte er beiläufig. "Wie alt bist du?"

"Genauso alt wie du- zehn", sagte Mary.

"Wie kannst du das wissen?" Colin war überrascht.

Viel zu voreilig sprudelte es aus Mary heraus: "Weil vor zehn Jahren das Gartentor verschlossen und der Schlüssel dazu vergraben wurde. Zu der Zeit kamst du zur Welt."

"Was ist das für ein Garten, der verschlossen wurde? Wo ist der Schlüssel?", fragte Colin mit Nachdruck.

Mary wurde nervös. "Der Garten, den Mr. Craven hasst. Er hat den Schlüssel vergraben." Sie versuchte, Colin von dieser Geschichte abzulenken, aber es war zu spät. Er hörte nicht mehr auf, Fragen zu stellen.

Am liebsten hätte er sofort die Gärtner dazu befragt. Sie hätten ihm Rede und Antwort stehen müssen. Mary wurde ganz mulmig. Wenn er das täte, würde ihr Geheimnis gelüftet. "Ich könnte sie zwingen, zu sprechen, ja, das könnte ich", bekräftigte Colin Marys Befürchtung. Dieser Junge war wirklich schlecht erzogen und verwöhnt, das merkte selbst Mary.

"Wirst du wirklich bald sterben?", fragte Mary. Sie wollte nicht mehr über den Garten sprechen und sie war neugierig.

"Ich denke schon", antwortete Colin ungerührt. "Seit ich klein bin, sagen alle, dass ich nicht leben kann. Mit mir spricht keiner darüber, aber ich höre, wie sie untereinander reden. Mein Arzt ist arm und wenn ich sterbe, erbt er Misselthwaite. Ich glaube nicht, dass er unbedingt möchte, dass ich lange lebe."

"Möchtest du denn leben?" ,wollte Mary wissen.

Verärgert und müde sagte er, dass er nicht leben aber auch nicht sterben wolle. Manchmal müsse er so sehr darüber nachdenken, dass er daliege und nur noch schreien würde.

"Das habe ich schon drei Mal gehört. Weinst du, weil du Angst vor dem Sterben hast?" Mary wollte gern, dass Colin nicht mehr von dem Garten anfangen würde.

Aber Colin war hartnäckig und kam wieder auf dieses Thema zu sprechen. Er wollte in seinem Rollstuhl hingeschoben werden und jemanden zwingen, den Schlüssel auszugraben. Mary sollte mitgehen.

Mary sah, dass Colin alles verderben könnte mit seinem Wunsch, den Garten zu sehen. Ihr wurde schlecht vor Angst. Aber dann gelang es ihr, Colin davon abzubringen, andere nach dem Garten zu fragen. Sie sagte, dass es doch viel besser sei, wenn sie beide heimlich einen Weg in den Garten finden würden. Dann wäre es ihr Geheimnis und sie könnten sich dort verstecken, spielen, graben und den Garten wieder lebendig machen.

Das überzeugte Colin, er hatte noch nie ein Geheimnis gehabt. Er erfuhr einiges über Blumen und ließ sich auch erklären, wie aus Knollen und Zwiebeln im Frühling Blumen wachsen. Mary versprach Colin, dass wenn sie den Schlüssel gefunden hätte, sie ihn heimlich im Rollstuhl in den Garten bringen würde. Colin gefiel die Vorstellung.

Mary fiel ein Stein vom Herzen. Sie hatte gerade noch abwenden können, dass ein Unglück geschehen würde und der Garten für sie für immer verloren wäre.

Über dem Kamin in Colins Zimmer hing ein Gemälde, vor dem ein Vorhang hing. Mary zog an einer Schnur und der Vorhang bewegte sich zur Seite. Das Bild zeigte ein junges Mädchen mit strahlenden, fröhlichen Augen.

"Das ist meine Mutter, sie ist tot und ich weiß nicht, warum. Manchmal hasse ich sie, weil sie das getan hat. Wenn sie noch leben würde, würde mein Vater mich ansehen können. Dann wäre ich stark und müsste auch nicht sterben", klagte Colin. "Zieh den Vorhang wieder zu. Ich will nicht, dass sie mich ansieht. Sie lächelt immer, auch wenn es mir schlecht geht. Außerdem gehört sie mir. Sie braucht nicht jeder zu sehen."

Ein kurze Weile setzte sich Mary noch zu ihm. Dann bat Colin sie, jetzt öfter zu ihm zu kommen. Er war froh, dass er sie kennen gelernt hatte. Mary willigte ein. Sie wollte schon gehen, da fragte Colin schüchtern, ob sie nicht noch bleiben könne, bis er eingeschlafen sei.

Mary sang ihm ganz leise ein altes Lied auf Hindustanisch vor, so wie ihre Ayah es immer gesungen hatte. Dabei streichelte sie Colins Hand. Das gefiel Colin und es dauerte nicht lange, da war er eingeschlafen. Mary ging leise in ihr Zimmer zurück.

 

 

 

13. Stark sein

Am nächsten Tag wollte es gar nicht mehr aufhören zu regnen. Mary verbrachte den Nachmittag mit Martha auf ihrem Zimmer.

"Hast du mir etwas zu sagen? Du siehst irgendwie so aus", meinte Martha. Das hatte Mary wirklich. Sie erzählte Martha, dass sie wieder das Weinen gehört hatte, ihm nachgegangen war und Colin kennen gelernt hatte.

Martha, die die ganze Zeit von Colin gewusst hatte, aber nichts über ihn zu Mary hatte sagen dürfen, war bestürzt. "Jetzt werde ich meine Arbeitsstelle verlieren, weil alle denken werden,ich habe dir von ihm erzählt!" Martha weinte fast. "Das hättest du nicht tun dürfen, Mary."

"Aber Colin hat sich gefreut, dass ich zu ihm kam. Du wirst deine Stelle nicht verlieren, Martha", versuchte Mary Martha zu beruhigen.

"Wirklich?", fragte Martha. "Bist du sicher, dass er sich gefreut hat? Er kann einem nämlich richtig schwierig werden, wenn ihm etwas nicht passt. Er schreit dann vor Wut und weint wie ein Baby, damit wir alle aufgeschreckt werden."

"Aber er hat sich wirklich gefreut, dass ich bei ihm war. Als ich gehen wollte, bat er mich sogar, noch zu bleiben", sagte Mary.

Martha traute der Sache nicht. Sie wusste, dass Colin normalerweise nicht wollte, dass Fremde ihn ansahen. Sie fürchtete, dass sie ihre Arbeit verlieren würde, wenn Mrs. Medlock etwas von Marys Besuch bei Colin erfahren würde. Aber Mary war sich sicher, dass Colin nichts verraten werde, weil es ein Geheimnis wäre. Und außerdem müsse jeder der Angestellten tun, was er sage. Das konnte Martha nur bestätigen, denn sie hatte es oft genug schon selbst erfahren.

"Ich soll ab jetzt jeden Abend zu ihm kommen und ihm etwas erzählen. Du sollst mir immer ausrichten, wann er mich sehen will", meinte Mary.

Martha war nicht wohl bei dem Gedanken. Sie konnte sich außerdem nicht erklären, wie Mary es geschafft hatte, dass Colin sie mochte und wiedersehen wollte. Mary konnte ihn ihrer Meinung nach nur verhext haben.

Auf Marys Frage, was Colin eigentlich fehlte, wusste Martha keine genaue Antwort zu geben.

Sie erzählte, dass Mr. Craven immer meinte, sein Sohn würde einen Buckel bekommen und einen schwachen Rücken haben. Früher habe er deswegen eine Zeit lang nur liegen dürfen und man habe ihm einen Panzer angelegt, um seinen Rücken zu stützen. So lange, bis ein neuer Arzt gekommen wäre und angeordnet hätte, den Panzer wieder abzunehmen und den Jungen in Ruhe zu lassen.

Für die Angestellten im Haus, die mit Colin zu tun hatten, schien er der schlimmste Junge der Welt zu sein. So jedenfalls schilderte ihn Martha. Er neigte dazu, sich aus dem Nichts in Anfälle hineinzusteigern, was die Bediensteten in den Wahnsinn treiben konnte.

Mary erfuhr von Martha, dass Colin ein paar Mal sehr krank gewesen war. Aber Marthas Mutter hätte einmal zu Martha gemeint, dass ein Junge, der nur auf dem Rücken liegen dürfe, Bücher ansah und Medizin schlucken müsse auch nicht gesund sein könne.

Als sie so beieinander saßen und redeten, ertönte die Glocke und Martha musste gehen. "Bestimmt möchte Colins Krankenschwester, dass ich eine Weile bei ihm bleibe", sagte sie im Weggehen.

Nach zehn Minuten kam sie mit verwirrtem Gesichtsausdruck zurück zu Mary. "Was hast du bloß mit ihm gemacht? Er möchte, dass du jetzt zu ihm kommst und ihm etwas erzählst. Ich soll keinem etwas darüber sagen, meinte er noch. Geh zu ihm, Mary."

Als Mary in das schöne Zimmer kam, saß Colin in seine Kissen gelehnt und erwartete sie aufgeregt. Sie erzählte ihm sofort, dass Martha Angst hatte, von Mrs. Medlock entlassen zu werden, wenn diese erfahren würde, dass Mary zu Colin ging.

Sofort bat er Martha in sein Zimmer und räumte jede Zweifel aus, dass er hier das Sagen hätte und sie nicht fortgeschickt werden könnte, da sie nur das tat, was er von ihr verlangte.

Das beruhigte Martha und Colin schickte sie wieder hinaus.

Sie waren nun beide wieder allein und Mary sah Colin nachdenklich an.

"Du erinnerst mich an einen indischen Jungen, den ich einmal gesehen habe. Er war ein Fürst, ein Rayah. Er war mit vielen Edelsteinen geschmückt und er sprach mit seinem Volk wie du gerade mit Martha gesprochen hast. Alle mussten tun, was er sagte", erzählte Martha. "Außerdem fiel mir gerade auf, wie anders als du Dickon sich benimmt. Er ist das genaue Gegenteil von dir."

"Wer ist denn Dickon?", fragte Colin. "Er ist Marthas Bruder und zwölf Jahre alt", erklärte Mary. Dann erzählte sie Colin von den Tieren, die aus allen Richtungen zu Dickon kamen, wenn er nur auf seiner Pfeife spielte. Colin staunte, als Mary erwähnte, dass Colin sich mit dem Rotkehlchen mit Gezwitscher unterhalten konnte.

Er wollte mehr über Dickon erfahren und so berichtete Mary davon, dass Dickon die Nester der Vögel kenne und wisse, wo die Füchse und Ottern wohnten. Und dass er über ihre Verstecke nichts preisgab, damit sie nicht von anderen Jungen erschreckt würden.

Colin, der nie im Moor gewesen war, hörte zum ersten Mal, welche Tiere und Blumen es dort gab. Mary, die selbst nur einmal im Dunkeln dort gewesen war, sagte, dass sie nur durch Martha und Dickon von der Schönheit des Moores wusste.

Colin beklagte sich darüber, dass er immer krank sei und nie etwas davon gesehen hätte. Er könne ja sowieso nicht ins Moor. Aber Mary erwiderte, dass er es ja vielleicht eines Tages können würde.Er würde doch gar nicht wissen, ob er wirklich bald sterben müsse.

Er wurde nachdenklich und erzählte Mary von dem Doktor aus London. Er war es auch, der veranlasste, dass man ihm den eisernen Panzer abnahm. Dieser Doktor hatte gesagt, dass Colin leben könnte, wenn er sich selbst dazu entschließen würde, die Menschen um ihn herum sollten ihn darin unterstützen.

Mary fiel spontan ein, dass Dickon der richtige für diese Aufgabe wäre. Er könnte Colin beibringen, Lust auf das Leben zu haben. Deswegen erzählte Mary nun nur noch von Dickon, seiner Familie, dem Moor, Blumen und wilden Ponys. Es war das Beste, was sie hätte zu Colin sagen können. Denn all das handelte vom Leben.

Die Zeit flog nur so dahin. Beide lachten viel und unterhielten sich. Colin hatte seinen schwachen Rücken scheinbar vergessen und saß aufrecht im Bett. Verwundert stellten sie fest, dass sie noch nicht einmal daran gedacht hatten, dass sie Cousin und Cousine waren. Darüber mussten sie schon wieder lachen.

Plötzlich öffnete sich die Tür und Mrs. Medlock kam mit Doktor Craven in das Zimmer. Die beiden taumelten einen Moment vor Schreck. "Was ist das?", fragte der Doktor.

Hoheitsvoll, wie Colin immer mit dem Personal sprach, stellte dieser Mary als seine Cousine vor. Mrs. Medlock war kreidebleich und hastig sagte sie, dass keiner der Dienstboten je gewagt hätte, Mary von Colin zu erzählen.

Colin klärte die Beiden darüber auf, dass Mary von allein zu ihm gefunden hatte und er froh darüber sei.

Der Doktor schien nicht einverstanden zu sein, aber er wagte es nicht Colin zu widersprechen. Stattdessen fühlte er den Puls seines Patienten. "Ich fürchte, das war alles zu aufregend für dich", sagte er. "Das kannst du nicht vertragen."

"Ich würde mich aufregen, wenn Mary nicht mehr käme", entgegnete Colin mit gefährlich funkelnden Augen.

Mrs. Medlock und Doktor Craven verließen bald ratlos das Zimmer. Sie konnten nichts gegen Colins Willen tun. Beide mussten auch zugeben, dass er gesünder aussah als jemals zuvor.

 

 

 

14. Robin baut ein Nest

In dieser regnerischen Woche war Mary jeden Tag ein paar Stunden bei Colin. Sie versuchte herauszufinden, ob Colin vertrauenswürdig war. Sie wollte ganz sicher sein, dass er nichts von dem geheimen Garten verraten würde, wenn er ihn kennen würde. Wenn er ein Geheimnis tatsächlich für sich behalten könnte, wollte Mary ihn gerne einmal dort hin bringen.

Eines Morgens wachte Mary sehr früh auf. Sie lief zum Fenster und sah, dass die Sonne aufging und der Himmel voller rosa Wölkchen war. Es würde ein warmer Tag werden. Wie der Blitz zog sie sich an, denn inzwischen konnte sie es allein. Ihr einziger Gedanke war, dass sie in den Garten wollte.

Voller Vorfreude rannte sie den Weg zum Garten hinunter und hatte Lust, wie ein Vogel zu zwitschern, so glücklich war sie.

Zu Marys Erstaunen und Freude sah sie, dass Dickon bereits im Garten war und jätete. Er hatte einen kleinen Fuchs, den er "Kapitän" nannte, bei sich und eine Krähe, die "Ruß" hieß. Beide waren ihm gefolgt, als er vor Sonnenaufgang auf seinem Weg zum Garten gewesen war.

Die Tiere hatten keine Angst vor Mary und die beiden Kinder wandten sich schnell den Pflanzen zu. Wie schnell sie gewachsen waren! Bald würden die ersten Blumen blühen. Mary und Dickon zupften Unkraut und lachten, weil sie sich über all das freuten.

Mary fiel ein, dass sie Dickon unbedingt etwas erzählen wollte.

"Hast du schon einmal etwas von einem Jungen namens Colin gehört?", fragte sie ihn.

"Weißt du denn etwas über ihn?", fragte Dickon vorsichtig zurück.

"Ich bin in der letzten Woche jeden Tag bei ihm gewesen und habe viel mit ihm gesprochen. Er möchte, dass ich ihn besuche. Er sagt, ich mache, dass er seine Krankheit und den Tod vergisst", antwortete Mary.

Dickon fiel ein Stein vom Herzen, denn er wusste alles über Colin, hatte aber nicht mit Mary über ihn sprechen dürfen. Es wisse jeder, dass Mr. Craven einen kranken Sohn habe und nicht wollte, dass die Leute über ihn sprachen, meinte Dickon.

Mary erzählte ihm alles. Wie sie Colin nachts weinen gehört hatte, wieder und wieder. Davon, wie sie sich entschlossen hatte, dem Weinen auf den Grund zu gehen und wie sie Colin schließlich in seinem Zimmer gefunden hatte.

Sie beschrieb Colins Aussehen. Als sie seine riesigen Augen erwähnte, meinte Dickon, dass er sie von seiner Mutter geerbt habe, bei ihr hätten diese Augen immer gestrahlt. Das sei auch der Grund, warum Mr. Crave Colins Anblick nicht ertragen könne, wenn er wach sei. In seinem kranken Gesicht sähen die Augen seiner Mutter ganz anders aus.

"Mr. Craven wäre es lieber, Colin wäre nie geboren worden. Vielleicht ist Colin deshalb so krank. Er sollte nicht dort immer in seinem Bett herumliegen und sich Gedanken darüber machen, ob er vielleicht stirbt oder einen Buckel bekommt", meinte Dickon. "Weißt du, ich habe gerade eine Idee. Ich glaube, wenn wir ihn einmal in den Garten mitnehmen würden, würde er bestimmt auf andere Gedanken kommen."

"Das habe ich auch schon gedacht", stimmte Mary zu. "Es würde ihm bestimmt gut tun. Er hat lange Zeit nur in seinem Bett gelegen und alles, was er weiß, stammt aus Büchern."

"Wir bringen ihn bestimmt eines Tages hierher", beschloss Dickon.

 

 

 

15. Mary sagt "Nein"

Mary kam an diesem Tag zu spät zum Essen kam. Sie war so vertieft in die Arbeit und in das Gespräch mit Dickon gewesen, dass sie die Zeit vergessen hatte. Während des Essens sagte sie zu Martha, dass diese Colin ausrichten solle, dass Mary heute nicht zu ihm kommen könne. Sie sei im Garten beschäftigt.

Martha war schockiert. "Das geht nicht! Er wird außer sich sein, wenn ich ihm das sage!", sagte sie erschrocken.

Das beeindruckte Mary nicht. Sie hatte keine Angst vor Colin. Sie war es auch nicht gewohnt, sich nach den Wünschen anderer zu richten. "Dickon ist draußen und wartet auf mich, ich kann Colin nicht besuchen", sagte sie und war schon nach draußen gerannt.

Dickon und Mary arbeiteten fleißig. Sie hatten schon fast das gesamte Unkraut entfernt und die Rosen und Sträucher hochgebunden. Die Erde um die Wurzeln hatten sie umgegraben.

Als die Sonne unterging, ruhten sie sich gemeinsam im Schatten eines Baumes aus. Dickon bemerkte, dass Mary kräftiger geworden war. Ihre Wangen glühten und sie war fröhlich. Beide verabredeten beim Abschied, dass sie morgen weitermachen wollten.

Voller Vorfreude lief Mary ins Haus. Sie wollte zu Colin gehen und ihm vom Frühling erzählen. Aber als sie in ihr Zimmer kam, stand Martha mit sorgenvollem Gesicht vor ihr. "Mir wäre es lieb gewesen, wenn du zu Colin gegangen wärst. Er war kurz davor, einen Anfall zu bekommen. Wir konnte ihn nur schwer beruhigen", sagte sie zu Mary.

Mary sah nicht ein, dass sie Rücksicht auf Colin nehmen sollte. Er sollte sie nicht an den Dingen, die ihr Spaß machten, hindern.

Sie ging in sein Zimmer und fand ihn flach auf dem Rücken in seinem Bett liegend vor. Mary ärgerte sich, dass er nicht auf dem Sofa saß, wie gestern noch.

"Warum bist du nicht aufgestanden?", fragte sie ihn.

"Ich dachte, dass du morgens kommst. Da bin ich aufgestanden. Heute Nachmittag habe ich befohlen, dass man mich wieder hinlegen sollte, weil du nicht kamst", sagte Colin ohne Mary anzusehen. "Warum warst du nicht da?"

"Ich habe im Garten mit Dickon gearbeitet", erklärte Mary.

Colin sah Mary nun doch an. "Ich werde verbieten, dass dieser Junge hierher kommt und dass du ihn triffst, statt zu mir zu kommen."

Nun war Mary endgültig wütend. "Ich werde keinen Fuß mehr in dieses Zimmer setzen, wenn du das tust", sagte sie kalt.

"Ich kann es dir befehlen, dann musst du es tun", meinte Colin.

"Ich werde dir nicht gehorchen", gab Mary zurück.

"Dann werde ich dich hierher schleppen lassen", erwiderte er.

"Es kann mich niemand zwingen, mit dir zu sprechen, Mister Rayah. Sollen sie mich doch herschleppen, ich werde dir gar nichts erzählen und dich auch nicht ansehen."

Spöttisch sah Mary Colin an.

"Selbstsüchtiges Ding!", schrie Colin sie an.

"Und du? Du kannst es nicht ertragen, dass ich nicht tue, was du willst, deswegen nennst du mich selbstsüchtig. Du bist der selbstsüchtigste Junge, dem ich je begegnet bin!", schrie Mary zurück.

"Bin ich nicht!", brüllte Colin. "Dickon ist es viel eher als ich, denn er hält dich von mir fern, obwohl er weiß, dass ich hier allein herumliege. Du hältst Dickon für den tollsten Menschen auf der Welt, aber er ist nur ein ganz normaler Junge aus einer Moorhütte!"

Aus Marys Augen schossen Blitze. "Er ist tausendmal besser als ein ganz normaler Rayah!"

Colin hatte sich noch nie mit jemandem gestritten, der ihm die Stirn bot. Er konnte Mary nicht mehr standhalten und fing stattdessen an, sich selbst zu bemitleiden. Er bekäme bald einen Buckel und müsse bald sterben.

Mary konnte es nicht mehr hören und hatte kein Mitleid. Deswegen schrie sie, dass das nicht stimme. Er sage das doch nur, damit die Leute Mitleid mit ihm bekämen. Außerdem sei er doch sogar stolz darauf. "Wenn du nicht so ein abscheulicher Junge wärst, könnte es vielleicht stimmen."

Das hatte gesessen. Colin saß aufrecht im Bett. "Mach, dass du aus meinem Zimmer kommst", fauchte er.

An der Tür blieb drehte sich Mary noch einmal zu ihm um. "Ich wollte dir eigentlich schöne Dinge von draußen erzählen. Jetzt erzähle ich dir nichts mehr und ich komme auch nicht wieder."

Als sie aus der Tür trat, sah sie Colins Pflegerin, die scheinbar gelauscht hatte und sich nun ins Fäustchen lachte. "Diesem verzogenen Jungen hätte nichts Besseres passieren können, als dass du genauso verzogenes Mädchen herkommt und ihm die Wahrheit sagt", kicherte sie.

Mary ging missmutig auf ihr Zimmer. Alle gute Laune war verflogen. Zum Glück hatte sie Colin noch nicht gesagt, dass sie in den geheimen Garten ging. Sollte er doch für immer in seinem Zimmer hocken und sterben. Er wollte es doch nicht anders.

Auf dem Tisch in ihrem Zimmer lag ein Paket von Mr. Craven. Die schönen Bücher, die Schreibfeder und Spiele vertrieben ihren Ärger langsam. Sie war erstaunt, dass Mr. Craven sich noch an sie erinnern konnte. Sie wollte mit der Feder einen Dankesbrief an ihn schreiben.

Sie dachte daran, dass sie die Sachen sofort Colin gezeigt hätte, wenn sie noch Freunde gewesen wären. Dann hätten sie die Bücher über Gärten zusammen angeschaut und vielleicht ein wenig gespielt. Er hätte dann wieder seine Gedanken an den Buckel und an den Tod vergessen.

"Wahrscheinlich denkt er heute wieder die ganze Nacht daran, denn er denkt immer daran, wenn er sich ärgert." Mary grübelte. "Ich habe ihm gesagt, dass ich nie wieder zu ihm komme, aber ich glaube, vielleicht gehe ich morgen Vormittag zu ihm."

 

 

 

16. Colins Anfall

Sie fiel nach diesem anstrengenden Tag wie ein Stein ins Bett und schlief sofort ein. Sie hatte sich vorgenommen, Morgen vor dem Frühstück mit Dickon im Garten zu arbeiten und danach dann Colin zu besuchen.

Ein fürchterliches Schreien riss sie gegen Mitternacht aus ihren Träumen. Mary hörte, wie Türen aufgingen und wieder zugeworfen wurden. Entsetzliche Schreie, die gleichzeitig auch ein Weinen waren, drangen an Marys Ohr.

Colin. Er musste wieder einen seiner Ausbrüche haben. Sie hörte das Stöhnen und begriff, warum die Menschen, die mit ihm zu tun hatten, ihm seinen Willen ließen. Sie taten es nur, damit sie wieder ihr Ruhe hatten.

Ihr wurde ganz schlecht von dem Geschrei, sie presste die Hände auf die Ohren. "Würde er wohl aufhören, wenn ich hingehen und es ihm sagen würde?", fragte sie sich. Langsam aber sicher gingen ihr Colins schreckliche Laute richtig an die Nerven. Fast glaubte sie, dass sie gleich selbst einen Anfall bekommen würde.

Sie schrie und stampfte mit den Füßen. "Macht, dass er damit aufhört. Verhaut ihn einfach! Zwingt ihn!"

Die Tür zu Marys Zimmer öffnete sich und eine leichenblasse Pflegerin sah sie an. "Kannst du bitte zu ihm gehen und ihn zur Vernunft bringen?", bat die Pflegerin. "er steigert sich derart in seinen Anfall hinein, dass wir denken, dass er sich etwas antut."

Mary war wütend auf Colin. Die Pflegerin hatte gesagt, das wäre genau die richtige Stimmung, um ihm gegenüber zu treten. Sie rannte durch den Flur und wurde immer wütender als sie dem Schreien näher kam.

Sie stieß die Tür zu seinem Zimmer auf und rannte auf sein Bett zu. "Schluss damit!", sie rief es laut. "Du hörst jetzt sofort auf! Ich hasse dich! Jeder hasst dich! Alle sollten aus dem Haus gehen und dich schreien lassen, bis du tot bist! Dann wäre endlich Ruhe und ich würde mich freuen."

Colin hatte auf dem Gesicht gelegen und mit den Fäusten in sein Kissen geschlagen. Er fuhr hoch, als er Marys wütende Stimme hörte. Er röchelte und rang nach Luft. Sein Gesicht war blass, übersät von roten Flecken und verquollen. Aber Mary war davon wenig beeindruckt.

"Ich kann lauter schreien als du und wenn du es noch einmal tust, werde ich dir einen riesigen Schrecken einjagen!", fuhr sie fort.

Vollkommen überrumpelt hatte Colin tatsächlich aufgehört zu brüllen. Er zitterte und Tränen liefen über sein Gesicht. "Ich kann nicht aufhören", schluchzte er. "Ich kann nicht."

"Natürlich kannst du!", schrie Mary. "Du bist nicht krank. Du hast nur immer schlechte Laune und bist hysterisch, das ist alles!". Wütend stampfte sie mit den Füßen.

"Aber ich habe den Buckel gefühlt. Es wächst mir ein großer Höcker auf dem Rücken! Und dann werde ich sterben.", presste Colin heraus. Er wimmerte und schluchzte, aber er schrie nicht mehr.

"Es ist nichts mit deinem Rücken. Du bist nur hysterisch. Deswegen erfindest du den Buckel. Los, ich untersuche deinen abscheulichen Rücken!", bestimmte Mary.

Sie ließ sich von der Schwester Colins Rücken zeigen. Colin fügte sich in sein Schicksal und hatte nichts dagegen. Unter den staunenden Blicken von Mrs. Medlock, Martha und der Schwester, die zusammengedrängt im Türrahmen standen, untersuchte Mary feierlich Colins mageren Rücken.

"Nicht die kleinste Beule ist zu sehen. Da ist nichts,", beendete sie ihre Untersuchung. Die Schwester sagte, sie habe nicht gewusst, dass Colin sich einbildete, einen Buckel zu bekommen. Sonst hätte sie ihm auch sagen können, dass es dafür kein Anzeichen gab.

Mit seinen großen verweinten Augen sah Colin die Schwester an. "Können Sie das wirklich?"

"Jawohl, Sir."

"Kann ich leben und groß werden?"", wollte er von der Schwester wissen.

"Wenn du an die frische Luft gehst und dich bewegst, ist das ziemlich wahrscheinlich", antwortete sie.

Colin überfiel die Müdigkeit, sein Ausbruch war vorüber. Mary war nun auch nicht mehr wütend. Colin streckte ihr seine Hand entgegen und sie nahm sie in ihre. "Ich will mit dir hinaus gehen, Mary", sagte er. "Ich möchte gern Dickon und seine Tiere kennen lernen." Fast hätte er vom geheimen Garten angefangen, erinnerte sich aber noch rechtzeitig daran, dass er ein Geheimnis bleiben sollte und schwieg.

Mary und Colin bekamen noch eine Fleischbrühe. Sie aßen gemeinsam und als sie fertig waren, meinte die Schwester, Mary solle nun auf ihr Zimmer gehen und weiterschlafen. Aber Mary sagte, sie werde Colin noch in den Schlaf singen, die Schwester könne gehen.

Als sie allein waren murmelte Colin schläfrig, dass er beinahe den Garten verraten habe.

"Meinst du, du kannst herausfinden, wie man in ihn hinein kommt?", fragte er.

Mary sah sein müdes, kleines Gesicht mit den geschwollenen Augen. Ihr Herz wurde weich. "Ja. Ich glaube, ich habe ihn gefunden."

 

 

 

17. So schnell wie möglich

Am nächsten Morgen wachte Mary später auf als sonst. Martha brachte das Frühstück und berichtete, dass Colin ruhig, aber fiebrig sei, wie immer nach seinen Anfällen. Er wollte, dass Mary zu ihm kam.

"Ich muss zuerst mit Dickon sprechen", sagte Mary. Dann besann sie sich und sagte, dass sie zuerst zu Colin gehen würde.

Colin sah geschafft aus. Dunkle Ringe lagen unter seinen Augen und er war sehr blass. Mary sagte ihm, dass sie hinausgehen und etwas mit Dickon besprechen wollte. Sie versprach Colin, gleich danach wiederzukommen. "Es geht um den Garten", sagte Mary.

Colins Gesichtsausdruck erhellte sich sofort. "Ich habe die ganze Nacht von dem Garten geträumt!", rief er aus. Er wollte, bis Mary wiederkommen würde, daran denken.

Mary traf Dickon mit der Krähe und dem Fuchs, die oft mit ihm in den Garten kamen. Außerdem hatte er zwei Eichhörnchen bei sich.

Die Beiden setzten sich nebeneinander ins Gras und dann erzählte Mary, was in der letzten Nacht vorgefallen war. Nachdenklich hörte Dickon ihr zu. Sein Gesicht verriet, dass er mehr Mitleid mit Colin hatte als Mary.

"Colin tut mir Leid. Wir sitzen hier und können die Vögel singen hören. Wir riechen den Duft der Blumen und der Erde. Er ist von all diesen Dingen ausgeschlossen. Er hat gar nichts. Deswegen denkt er an Dinge, die ihn zum Weinen bringen. Er muss so schnell wie möglich mit uns an die frische Luft und Sonne auf der Haut spüren. So schnell wie möglich!", meinte Dickon.

"Du hast recht. Komm doch morgen mit deinen Tieren zu ihm. Ich werde ihm Bescheid sagen. Er wird sich freuen, denn er hat dich ins Herz geschlossen. Wenn es endgültig Frühling ist, werden wir ihn im Rollstuhl hierher schieben", beschloss Mary.

Sie ging ins Haus zurück und setzte sich bei Colin ans Bett. Er schnupperte an ihr und bemerkte, dass sie gut roch, nach Blumen und irgendwie frisch. "Das ist der Wind vom Moor, den du riechst. Ich habe mit Dickon im Gras gesessen", erklärte Mary.

Sie erzählte Colin von dem Fuchs "Kapitän", der Krähe "Ruß" und den beiden Eichhörnchen "Nuss" und "Schale". Die beiden lachten über die lustigen Namen.

"Dickon hat auch ein Pony. Es heißt "Spring". Ich habe es einmal im Wald gesehen", sagte Mary.

"Es ist ein winziges, struppiges Moorpony mit Haaren, die ihm in die Augen hängen. Seine Nase ist samtweich und es ist sehr stark, obwohl es ziemlich dünn ist. Es isst nämlich nur Moorgras. Trotzdem ist es sehr drahtig. Als Dickon und ich in den Wald kamen und es trafen, hat es Dickon sofort erkannt. Es hat seinen Kopf in den Nacken gelegt und gewiehert."

Dann sei es zu Dickon gegangen und habe seinen Kopf auf seine Schultern gelegt. Dickon habe ihm etwas ins Ohr geflüstert und das Pony hätte schnaubend geantwortet.

Colin war beeindruckt. "Kann es alles verstehen, was Dickon sagt?"

"Ich denke schon", antwortete Mary. "Dickon sagt, wenn man eine echte Freundschaft hat, versteht man sich."

Colin sah nachdenklich zur Decke. "Ich möchte gern ein guter Freund sein. Ich weiß nur nicht, ob ich das kann, denn es gab noch nie einen Menschen, mit dem ich hätte befreundet sein können. Ich kann Menschen schwer ertragen. Kennst du das Gefühl?"

"Ja", sagte Mary ohne zu zögern. "Ich habe alle Menschen gehasst bevor ich das Rotkehlchen und Dickon traf. Wenn ich sie nicht kennen gelernt hätte, könnte ich dich wahrscheinlich nicht ausstehen."

Colins magere Hand berührte Mary. "Ich möchte gerne, dass Dickon hierher kommt, Mary", sagte er.

"Genau darüber habe ich mit Dickon vorhin gesprochen. Er wird dich Morgen mit seinen Tieren besuchen kommen. Aber da ist noch etwas, das ich dir sagen wollte." Mary war ganz aufgeregt. Sie stand auf und drückte Colins Hände.

"Was ist es?", Colin war jetzt auch ganz aufgebracht.

"Es ist wegen dem Garten. Ich habe ein Tor im Efeu gefunden", lüftete Mary das Geheimnis.

Colins ohnehin schon großen Augen wurden größer und größer vor Erstaunen. Er schnappte nach Luft und weinte fast. "Ich möchte ihn so gerne sehen, Mary. Darf ich? Lebe ich noch so lange, dass ich ihn einmal sehen kann?"

"Natürlich wirst du ihn sehen", meinte Mary. "Hör auf, dummes Zeug zu reden. Du wirst am Leben bleiben und den Garten sehen. So kühl wie möglich hatte Mary gesprochen, das brachte Colin wieder zur Vernunft. Er lachte sogar über sich selbst.

Gespannt lauschte er nun, wie Mary ihm den Garten beschrieb. Er vergaß, dass er müde war und ihm alles wehtat. "Das klingt genauso, wie ich ihn mir vorgestellt habe", sagte er. "Hast du den Garten schon gesehen?"

"Ja, Colin", antwortete Mary. "Ich habe den Schlüssel und den Eingang schon vor Wochen gefunden. Ich habe dir nichts gesagt, weil ich nicht wusste, ob ich dir vertrauen konnte."

 

 

 

18. Dickon kommt zu Besuch

Am Nachmittag erschien Doktor Craven, wie immer, wenn Colin einen Anfall hinter sich hatte. Er erwartete, dass es ein anstrengender Besuch werden würde. Er war es gewohnt, Colin in schlechter Verfassung und übellaunig anzutreffen, deshalb hatte er sich auch Zeit gelassen und war erst am Nachmittag zu seinem Hausbesuch aufgebrochen.

Als er in das Haus kam, sprach er auf dem Weg zu Colins Zimmer mit Mrs. Medlock. Sie erzählte ihm, was in der letzten Nacht passiert war. "Ich kann mir nicht erklären, wie diese mürrische Mary es geschafft hat, Colin zu beruhigen. Sie hat ihn angeschrien und mit den Füßen gestampft. Dann gab er tatsächlich Ruhe. Sehen Sie selbst, in welcher Verfassung er heute ist."

Doktor Craven betrat das Zimmer und sah, dass Mary und Colin vergnügt auf dem Sofa saßen und sich unterhielten. Sie sahen sich ein Bilderbuch über Gärten an und sprachen über Blumen.

Als sie den Doktor sahen, verstummten sie beide. Mary setzte wieder ihren mürrischen Gesichtsausdruck auf und Colin war abweisend.

"Ich hörte, du warst wieder krank und nervös in der letzten Nacht?", fragte Doktor Craven nach.

"Mir geht es aber besser, viel besser", antwortete Colin und wurde wieder zum Rayah. "Ich habe beschlossen, in den nächsten Tagen im Rollstuhl hinauszufahren. Ich brauche frische Luft."

Der Doktor zog erstaunt eine Augenbraue hoch, setzte sich zu ihm und fühlte seinen Puls. "Aber du magst doch keine frische Luft, dachte ich."

"Wenn ich alleine bin, mag ich sie nicht. Aber meine Cousine wird mich begleiten. Ein kräftiger Junge wird meinen Rollstuhl schieben. Sonst möchte ich niemanden dabeihaben", sagte Colin hoheitsvoll.

Doktor Craven dachte einen kurzen Augenblick daran, dass er, wenn Colin tatsächlich gesund werden würde, Misselthwaite nicht erben würde. Aber er schob den Gedanken beiseite, denn es war ihm wirklich wichtig, dass Colin sich keiner Gefahr aussetzte.

"Ist es ein auch ein starker, verständiger Junge? Ich muss mehr über ihn wissen. Wie heißt er?", fragte Doktor Craven.

Als der Name Dickon fiel, lächelte er erleichtert. Jeder, der das Moor kannte, kannte auch Dickon. "Gut, wenn es Dickon ist, habe ich keine Bedenken. Hasst du gestern etwas zur Beruhigung eingenommen, Colin?"

"Nein. Mary hat mich beruhigt", gab Colin zurück.

"Auch wenn es dir offensichtlich besser geht, musst du daran denken, dass-", wollte der Doktor einwenden, aber Colin fiel ihm ins Wort.

"Nein, ich muss nicht daran denken. Immer, wenn ich daran denke, geht es mir wieder schlechter. Dann denke ich zuviel, weine und habe Schmerzen. Meine Cousine lässt mich das alles endlich vergessen. Das heilt mich. Das ist es, was ich brauche."

So verließ Doktor Craven ziemlich schnell seinen Patienten wieder. Es gab hier nichts für ihn zu tun. Er konnte sich die schnelle Genesung nicht erklären, sah aber ein, dass der Zustand, in dem Colin sich jetzt befand, besser war, als der vorherige.

In dieser Nacht wachte Colin nicht ein einziges Mal auf. Als er am Morgen die Augen aufschlug, fühlte er sich wie verwandelt. Er freute sich wach zu sein. Dieses Gefühl kannte er nicht. Sonst hatte er sich immer gewünscht, noch weiterzuschlafen. Aber heute freute er sich darauf, die Pläne, die er mit Mary gestern geschmiedet hatte, in die Tat umzusetzen.

Außerdem konnte er es kaum erwarten, endlich Dickon kennenzulernen, der heute kommen würde.

Gerade zehn Minuten hatte er wach dagelegen, da kam Mary mit roten Wangen in sein Zimmer gestürmt. Sie duftete wieder nach frischer Luft.

Aufgeregt erzählte sie, dass der Frühling nun dawäre. Überall wären Knospen und neue Blätter und die Luft rieche herrlich. "Mach das Fenster auf", rief Colin, angesteckt von Marys guter Laune und Aufregung. Colin atmete die frische Luft, sog sie tief ein und merkte, dass er sich ganz anders fühlte als sonst und wie gut dieses Gefühl ihm tat.

Die Schwester kam ins Zimmer und zuckte zusammen, als sie das weit geöffnete Fenster sah. "Ist dir nicht zu kalt, Master Colin?", fragte sie.

"Nein, frische Luft macht kräftig", antwortete Colin und bestellte für sich und Mary Frühstück. Die Beiden aßen mit gesundem Appetit, Colin aß gierig und schnell.

"Du wirst dicker werden, so wie ich", bemerkte Mary. "Ich esse jetzt gern, früher habe ich mein Frühstück nie gemocht."

"Heute Morgen schmeckt es mir auch richtig gut. Wann wird denn Dickon kommen, was meinst du?"

"Hör mal", sagte Mary. "Man kann schon die Krähe "Ruß" hören. Und Dickon bringt auch noch ein Lämmchen mit, ich höre es rufen."

"Tatsächlich!", rief Colin aus.

Kurz darauf hörten die Beiden Dickons schwere Schuhe auf dem Korridor. Dann stand er im Zimmer und lächelte sein allerbreitestes Lächeln. Aus seiner Jackentasche sah das Eichhörnchen "Schale" hervor, auf seinen Armen trug er das Lamm, auf seinen Schultern saßen "Ruß" und das Eichhörnchen "Nuss" und der Fuchs "Kapitän" ging an seiner Seite.

"Das, Master Colin, ist Dickon mit seinen Tieren", stellte Martha, die sie herein gebracht hatte, vor.

Colin staunte und richtete sich auf. Dickon kam auf ihn zu und legte das Lamm auf seinen Schoß. Es kuschelte sich sofort in den weichen Samt von Colins Morgenrock und stupste stieß Colin mit dem Köpfchen an.

"Es hat Hunger", erklärte Dickon. "Ich dachte mir, dass du es vielleicht füttern möchtest und habe es deshalb ein bisschen hungern lassen." Dickon gab Colin eine Babyflasche, an der das Lamm gierig zu saugen begann. Danach schlief es ein und die Kinder begannen, alle durcheinander zu reden. Colin und Mary wollten alles über das Lämmchen wissen und stellten tausend Fragen.

"Ich habe im Moor gestanden und einer Lerche zugehört, als ich plötzlich einen Laut in den Ginsterbüschen hörte. Es war ein ganz leises Blöken, das musste ein neugeborenes, hungriges Lamm sein. Und wenn es hungrig war, musste es seine Mutter verloren haben. Ich suchte nach ihm und fand es halb tot vor Kälte und Angst neben einem Stein liegen", erzählte Dickon.

Um die drei Kinder herum tollten die Tiere, während sie sich Gartenbilder in Colins Büchern anschauten. Dickon wusste alle Namen der Blumen, die abgebildet waren. "Columbinen haben wir viele in unserem geheimen Garten", sagte Dickon. "Sie werden aussehen wie ein großes Kissen voll blauer und weißer Schmetterlinge wenn sie blühen."

"Wir müssen zusammen hingehen", meinte Colin. "Ich will sie unbedingt sehen."

"Das machen wir. So schnell wie möglich", versprach Mary.

 

 

 

19. Es ist soweit

Eine Woche mussten sich Mary, Dickon und Colin noch gedulden. Das Wetter war nicht sehr gut und Colin war ein wenig erkältet.

Aber sie trafen sich jeden Tag und plante genau, wie sie unbemerkt in den geheimen Garten kommen würden. Außerdem vertrieb Dickon mit seinen aufregenden Geschichten über die Tiere im Moor die Zeit.

An einem Tag ließ Colin den Obergärtner Mr. Roach in sein Zimmer kommen. Er teilte ihm mit, ganz wie immer in seiner Rayah-Art, dass er gedenke, heute Nachmittag im Rollstuhl in die Gärten zu fahren und er nicht wünsche, dass die Gärtner dann arbeiteten. Er wollte damit verhindern, dass jemand sie sehen und ihr Geheimnis lüften würde.

Als er Mr. Roach wieder weggeschickt hatte, war er zufrieden. "Heute Nachmittag werde ich ihn sehen. Wir sind jetzt sicher, niemand wird uns stören."

Dickon ging mit seinen Tieren in den Garten, als Mittagszeit war. Mary und Colin aßen zusammen. Colin war beim Essen sehr still und nachdenklich. "Du bekommst Augen wie Untertassen, wenn du nachdenkst, Colin", sagte Mary. "An was denkst du?"

"An den Frühling. Ich habe ihn noch nie erlebt, weil ich so selten draußen war. Und wenn ich doch mal hinausfuhr, habe ich nicht auf ihn geachtet", sagte er.

"Ich habe den Frühling auch erst hier kennen gelernt. In Indien gibt es nämlich keinen", bemerkte Mary.

Kurze Zeit später kam die Krankenschwester und zog Colin an. Heute half er sogar dabei und lag nicht, wie sonst, einfach nur da und ließ es geschehen. Die ganze Zeit lachte er und redete mit Mary.

Doktor Craven, der nach seinem Patient sehen wollte, erfuhr von der Krankenschwester, dass Colin einen guten Tag habe. "Er hat so gute Laune, dass er sich gesünder fühlt als sonst."

Der Doktor beschloss am frühen Abend wiederzukommen, um zu sehen, wie Colin der Ausflug bekommen war. Er bedauerte es ein wenig, dass die Krankenschwester nicht auch mitgehen würde, aber er vertraute Dickon.

Colin wurde von dem stärksten Diener in den Rollstuhl getragen, neben dem Dickon schon wartete. Nachdem der Rollstuhl mit Decken und Kissen ausgestattet worden war, entließ Colin die Diener.

Mary ging neben Dickon und Colin. Langsam schob Dickon den Rollstuhl nach draußen.

"Alles summt und singt", stellte Colin fest. "Und die Luft riecht so gut. Was ist das für ein Duft?" Colin atmete tief in seine schwache Brust ein.

"Das ist der Ginster, den du riechst. Er blüht gerade. Die Bienen werde sich heute darüber freuen", sagte Dickon.

Auf den Gartenwegen war kein Mensch zu sehen. Anscheinend hatte jeder Gärtner und Gärtnerbursche Colins Befehl bekommen, sich nicht zu zeigen.

Sie gingen nicht direkt zum geheimen Garten. Sie hatten Angst, es könnte sie doch jemand beobachten und so gingen sie ein paar Umwege, ehe sie in den großen Weg einbogen, an dem die mit Efeu behangene Mauer zu sehen war.

"Wir sind da." Mary wagte nur noch zu flüstern. "Hier habe ich nach dem Eingang gesucht und gesucht."

Colin sah an der Wand aus Efeu hoch. "Wir sind da? Ich sehe kein Tor", sagte Colin.

"Ich dachte auch, hier wäre kein Tor", antwortete Mary. "Aber sieh mal: Hier ist die Stelle, an der der Wind die Efeuranke zur Seite fegte." Sie hob die Ranke hoch.

Colin staunte. Tatsächlich, dort war eine Klinke zu sehen und ein Tor.

Mary öffnete das Tor und Dickon schob mit festem, sicherem Griff den Rollstuhl in den geheimen Garten. Das Tor fiel hinter ihnen zu.

Die Sonne fiel auf Colins Gesicht. Er schaute und schaute, wie Mary und Dickon es auch getan hatten.

Mary und Dickon sahen Colin erwartungsvoll an. Colin schien wie verzaubert. Sein Gesicht hatte einen ganz anderen Ausdruck und es hatte eine rosige Farbe.

"Ich fühle, dass ich leben werde. Leben!", rief er. "Mary, Dickon, ich werde für immer leben!"

 

 

 

20. Ben Weatherstaff sieht über die Mauer

Es war ein herrlicher Nachmittag. Alles glänzte und strotzte vor Leben, als wenn sich die Natur dazu entschlossen habe, sich Colin von ihrer schönsten Seite zu zeigen. Der Frühling war gekommen und hatte alles verwandelt.

Es gab blühende Obstbäume mit roten und weißen Blüten, in denen die Bienen summten. Mary und Dickon arbeiteten ein wenig und Colin sah ihnen dabei zu. Zwischendurch brachten sie ihm Zeige mit sprießenden Blättchen, Knospen und Blüten zum Ansehen. Sie schoben ihn im Rollstuhl durch den Garten und zeigten ihm alles, was der Frühling aus der Erde hatte kommen lassen.

Colin brannte darauf, Robin das Rotkehlchen zu sehen. Dickon versprach, dass er es bald oft genug sehen werde, wenn seine Jungen nämlich geschlüpft seien und er Futter für sie besorgen werden würde.

Die ganze Zeit über flüsterten die Drei. Aber manchmal vergaßen sie vor lauter Begeisterung die Vorsicht und lachten lauthals, bevor sie sich vor Schreck die Hände vor die Münder pressten.

Die Sonne schien golden in den Garten. Dickon hatte sich gerade ins Gras gesetzt um ein wenig Flöte zuspielen, da entdeckte Colin den alten Baum, an dem ein Ast abgebrochen war.

"Dieser Baum ist alt, er ist tot, stimmts?", fragte er seine Freunde. "Die Äste sind ganz grau und es wachsen keine Blätter mehr an ihnen."

Dickon antwortete, dass der Baum tatsächlich tot war, er aber der schönste Baum von allen wäre, wenn die Rosen, die an ihm emporrankten, blühen würden.

Colin fragte ihn, wer den Ast wohl abgebrochen hätte. Dickon wich aus uns sagte nur, dass dass vor vielen Jahren geschehen sei.

In diesem Moment zeigte sich das Rotkehlchen. Mary und Dickon waren erleichtert. Sie mussten nun erstmal keine Fragen über den Baum beantworten. "Robin hat ein Zauberer geschickt", meinte Mary später heimlich zu Dickon. Sie wussten beide nicht, was sie Colin wegen des Baumes sagen sollten.

Robin flog umher und suchte Futter für sein Weibchen. Das brachte Colin auf die Idee, den Dienern aufzutragen, Gebäck und Tee an einem Weg abzustellen, an dem es Dickon dann abholte.

Kurze Zeit später saßen die Kinder im Gras und ließen sich Kuchen, Toast mit Butter und Hörnchen schmecken. Für Dickons Tiere fiel auch der ein oder andere Krümel ab und alle waren zufrieden.

Nun würde es bald Abend werden. Die Sonnenstrahlen wurden immer länger, die Bienen waren fortgeflogen und Vögel sah man nur noch selten herumfliegen.

Colin hatte eine rosige Wange. "So sollte es immer sein", sagte er."Ich will jeden Tag wieder herkommen. Ich möchte den Sommer erleben und sehen, wie hier alles wächst. Ich selber werde auch hier wachsen. "Das wirst du mit Sicherheit", meinte Dickon. "Bald wirst du hier herumlaufen und graben wie wir."

Das war ein neuer Gedanke für Colin. "Ich? Laufen? Graben? Wirklich?"

"Natürlich wirst du das. Wenn du keine Angst mehr hast und die wirst du bald nicht mehr haben, werden deine Beine dich schon tragen", sagte Dickon lachend.

Zweifelnd sah Colin Dickon an und verstummte eine Weile. Alles um sie herum schien leiser zu werden. Die Tiere bewegten sich kaum noch. Ruß hockte auf einem Zweig und döste.

Plötzlich flüsterte Colin aufgeregt: "Wer ist der Mann da drüben?"

Mary und Dickon sprangen auf. Colin zeigte auf die hohe Mauer und dort entdeckten sie das erboste Gesicht von Ben Weatherstaff. Er stand auf einer Leiter und drohte Mary mit der Faust.

"Schläge hättest du verdient, du ungezogenes, viel zu neugieriges Buttermilchgesicht!", schimpfte er. "Ich mochte dich von Anfang an nicht, dich mit deinen tausend Fragen und deiner Nase, die du in alles stecken musst, was dich nichts angeht! Wenn Robin nicht gewesen wäre, hätte ich mich gar nicht auf dich eingelassen."

"Robin war es ja gerade, der mir den Weg in den Garten gezeigt hat", versuchte Mary ihm zu erklären. Aber Ben wurde noch wütender als er das hörte und war versucht von der Leiter in den Garten zu springen.

"Für deine Fehler das Rotkehlchen verantwortlich machen zu wollen, ist ja wohl der Gipfel!" Plötzlich siegte seine Neugier und er fragte, wie um alles in der Welt Mary in den Garten hineingekommen war.

Gerade als Mary sich wieder erklären wollte, befahl Colin zu dem Gärtner geschoben zu werden. Ben hatte ihn noch nicht bemerkt, aber jetzt starrte er Colin verwundert an.

Der Rollstuhl hielt unter Ben Weatherstaffs Leiter und auf einmal wusste er, wer Colin war. Er erstarrte, sagte kein Wort mehr und sah Colin unverwandt ins Gesicht.

"Wer bin ich?", fragte Colin forsch. "Sag es!" Ben antwortete nach einem Zögern mit brüchiger Stimme, dass er wohl wisse, wer er sei. "Die Augen deiner Mutter sind es, die mich gerade ansehen. Wie kommst du hierher? Du bist der arme Krüppel."

In Colin platzte etwas. Blut schoss in sein Gesicht. Er richtete sich steil auf und schrie:"Ich bin kein Krüppel! Ich bin kein Krüppel!"

"Das ist er wirklich nicht, er hat keinen Buckel. Ich habe ihn untersucht", unterstützte Mary ihren Freund.

"Hast du keinen krummen Rücken? Und keine verkrüppelten Beine?", fragte Ben mit zittriger Stimme.

"Nein!" Colin brüllte jetzt. Noch nie hatte jemand etwas über seine Beine gesagt. Das war einfach zu viel. Er nahm all seine Kraft zusammen und fasste Dickons Arm.

Mary hielt die Luft an und betete, dass er es schaffen würde.

Tatsächlich. Colin stand aufrecht im Gras. Er sah Ben Weatherstaff herausfordernd an. "Schau mich an!", rief er aufgebracht.

"Er ist so gerade gewachsen wie ich", bekräftigte Dickon.

Mary hatte nicht damit gerechnet, was jetzt geschah. Ben schluckte schwer und plötzlich liefen dicke Tränen an seinen Wangen herunter.

"Ich fasse es nicht", schluchzte er und schlug seine faltigen Hände zusammen. "Warum erzählen die Leute nur so etwas? Du bist zwar weiß wie die Wand und dünn wie ein Grashalm, aber du bist kein Krüppel! Gott sei Dank!"

Colin stand fest und aufrecht und sah Ben an.

"Du bist mein Diener", sagte Colin würdevoll. "Dies ist mein Garten und du wirst nicht darüber reden. Steig von deiner Leiter. Mary wird dich zu mir bringen. Ich muss etwas mit dir besprechen."

Ben war noch ganz benommen und er hatte vom Weinen noch ein nasses Gesicht. Einen Moment noch konnte er seinen Blick nicht abwenden. Aber dann nahm er sich zusammen, griff an seinen Hut und sagte "Jawohl, Sir" und stieg von der Leiter.

 

 

 

21. Zu viert im Garten

Mary rannte los um Ben zu holen. Als sie ihn getroffen hatte, gingen sie gemeinsam den Weg zum Gartentor. "Colin wird gesund werden, wenn er nur von nun an immer in den Garten kommen kann", sagte Mary zu dem Gärtner. "Man darf mit ihm nicht über das Sterben oder einen Buckel reden."

Ben Weatherstaff verstand. Sie betraten den Garten und sahen mit Staunen, dass Colin zu einem Baum gegangen war und davor stand.

Im Geist beschwor Mary ihn. "Du kannst es, du kannst es", murmelte sie vor sich hin. Sie wollte nicht daran denken, was geschehen würde, wenn Colin vor Ben in die Knie ging.

Aber es geschah nicht. Colin stand fest und fragte Ben noch einmal:"Habe ich verkrüppelte Beine oder einen schiefen Rücken?"

"Nein. Keins von beidem. Warum wurdest du denn von allen ferngehalten, so als wärst du verkrüppelt oder nicht ganz richtig im Kopf?", fragte Ben ernst.

"Wer hat denn behauptet, ich wäre nicht ganz richtig im Kopf?", wollte Colin wissen.

"Viele Dummköpfe. Warum warst du eingeschlossen?", fragte Ben.

"Jeder glaubte, ich werde bald sterben. Aber ich werde nicht sterben!", antwortete Colin entschieden.

Das glaubte Ben Weatherstaff auch nicht. Dieser tapfere Junge war gesund und machte auf ihn keineswegs den Eindruck, dass er bald sterben würde. Er bat Colin, sich hinzusetzen und ihm Anweisungen zu geben.

Der Rayah ließ sich auf einer Decke nieder. "Was arbeitest du in den Gärten?" fragte er. Ben erzählte, dass er alles tat, was ihm befohlen wurde. Er sagte, er sei nur noch hier, weil Colins Mutter ihn gern gehabt hatte.

"Meine Mutter", sagte Colin. "Dieser Garten war ihrer, nicht wahr?" "Ja. Das stimmt. Sie hat ihn sehr geliebt", antwortete Ben ruhig.

"Jetzt soll er mein Garten sein. Ich liebe ihn auch. Aber er muss ein Geheimnis bleiben, deswegen befehle ich dir, es niemandem zu sagen, dass wir herkommen. Ich werde von Zeit zu Zeit nach dir schicken, damit du uns bei der Gartenarbeit hilfst. Du darfst aber nur kommen, wenn dich niemand sieht", wies Colin an.

Ben lächelte breit. "Ich war schon früher hier. Bin über die Mauer gestiegen und habe nach dem Rechten gesehen. Deine Mutter hat einmal zu mir gesagt: 'Wenn ich eines Tages weg muss oder krank werde, sieh bitte nach den Rosen, Ben'. Und das habe ich auch gemacht nachdem niemand mehr hier hinein durfte, schließlich hat sie mir ihren Befehl zuerst gegeben."

"Ach, du hast hier gearbeitet", fiel Dickon ein. "Ich habe mich schon oft gefragt, wer die Rosen und Bäume beschnitten haben könnte."

"Ich freue mich, dass du das getan hast, Ben", sagte Colin. "Dann wirst du unser Geheimnis sicher auch bewahren."

"Ja, das werde ich, Sir", versprach Ben.

Colin streckte seine Hand nach Marys Spaten aus, der im Gras lag. Er ergriff ihn und begann, ein Loch zu graben. Seine schwache Hand zitterte vor Anstrengung, aber er machte weiter.

Ben fragte, ob er etwas pflanzen wolle und ob er eine Rose holen solle. Als Colin bejahte, beeilte sich der alte Mann und holte aus dem Gewächshaus eine Rose.

"Sie soll im Boden sein bevor die Sonne untergeht", sagte Colin. Mary kam es so vor, als ob die Sonne heute absichtlich ein wenig länger am Himmel stehen blieb.

Feierlich und aufgebracht übergab Ben Colin die Rose. "Hier, mein Junge", sagte er. Colins dünnen, bleichen Hände fassten die Rose und betteten sie in die Erde. Er war ganz rot im Gesicht. Ben drückte die Erde fest und Colin hielt bis zum Schluss die Blume fest. Mary lag auf den Knien im Gras und schaute zu.

 

 

 

22. Colin überwindet sich

Doktor Craven erwartete Colin bereits in dessen Zimmer. Er sagte, dass es unvernünftig gewesen sei, so lange draußen zu bleiben und untersuchte Colin gründlich.

"Ich werde jetzt jeden Tag nach draußen gehen. Es hat mich überhaupt nicht angestrengt", sagte Colin.

"Ich weiß nicht, ob ich das zulassen kann", gab Doktor Craven zurück. "Das wäre bestimmt nicht gut."

"Es wäre bestimmt nicht gut, wenn sie versuchen würden, mich davon abzuhalten", entgegnete Colin ernst.

Mary saß während der Untersuchung dabei und bemerkte wieder einmal, wie ungezogen und roh Colin sich gegenüber seinen Mitmenschen benahm. Sie dachte, dass er es selbst gar nicht bemerkte. Er benahm sich wie ein König, weil er nie etwas anderes gelernt hatte. Er hatte nie jemanden gehabt, mit dem er sich vergleichen konnte.

Sie war ja selbst nicht anders gewesen, bevor sie nach Misselthwaite gekommen war. Erst hier hatte sie gemerkt, dass ihr Benehmen nicht richtig war. Mary sah Colin nachdenklich an.

"Warum siehst du mich so an?", fragte er nach einer Weile.

"Ich habe gerade gedacht, dass der arme Doktor zehn Jahre lang nett zu dir sein musste, obwohl du immer so unhöflich warst. Er tut mir Leid", sagte Mary.

"Bin ich unhöflich?", fragte Colin unbeeindruckt.

"Ja", stellte Mary fest. "Niemand hat sich getraut dir mal die Meinung darüber zu sagen, weil alle dachten, dass du bald sterben wirst. Sie hatten Mitleid."

"Ich will aber jetzt kein Mitleid mehr", rief Colin trotzig aus. "Ich habe heute auf meinen Beinen gestanden. Die Leute sollen aufhören, so über mich zu denken."

"Du hast immer deinen Willen bekommen. Davon bist du ganz eigenartig geworden," meinte Mary.

"Ich bin eigenartig?". Colin legte seine Stirn in Falten.

"Ziemlich. Aber ich war genau wie du. Und Ben ist es auch. Aber es ändert sich wenn man Menschen lieben lernt. Und es ändert sich wegen dem Garten."

Colin überlegte. Dann lächelte er und sagte, dass er aufhören würde, wunderlich zu sein. Er müsse nur jeden Tag in den Garten gehen. "Es geht etwas Zauberhaftes vor in dem Garten, Mary. Das spüre ich."

"Ja, ich weiß", stimmte Mary zu.

Am folgenden Tag waren sie wieder in ihrem Garten und bewunderten das, was sie Zauber nannten. Alles sprießte und grünte.

Colin beobachtete alles, was vorging. Er lag stundenlang im Gras und meinte zu sehen, wie die Knospen sich öffnete. Er sah auch Insekten bei ihrem geschäftigen Treiben zu. Einen ganzen Vormittag verbrachte er damit, einen Maulwurf zu beobachten.

An einem Morgen ließ Colin Ben Weatherstaff in den Garten kommen. Er stellte sich unter einen Baum. Lächelnd und anmutig unter dem Baum stehend empfing er Ben. Er wies Dickon, Mary und Ben an, sich in einer Reihe aufzustellen. Dann gab er bekannt, dass er nun einen Rundgang durch den Garten machen wolle-auf seinen eigenen Füßen.

So gingen sie in einer Reihe durch den Garten. Selbst Dickons Tiere schlossen sich an. Colin war eingerahmt von seinen Freunden, die ihn stützten, wenn er eine Pause brauchte. Er schaffte schon ein paar Schritte ohne Hilfe. Es strengte ihn an, aber er gab nicht auf, ehe sie einen kompletten Rundgang geschafft hatten.

"Ich hab es geschafft!". Colin war zufrieden und stolz. Er wollte jetzt jeden Tag das Gehen üben. Aber es sollte noch niemand erfahren. Er wollte, wenn er laufen können würde, seinen Vater damit überraschen und alle Anderen gleich mit.

Bei dem Gedanken daran, wie sein Vater reagieren würde, bekamen Colins Augen einen stolzen Glanz. Er hatte sich überwunden.

 

 

 

23. Lachen

Dickon kümmerte sich nicht nur um den geheimen Garten. Er hatte auch noch einen Gemüsegarten zu Hause, an der Moorhütte. Hier arbeitete er frühmorgens und spät abends und an den Tagen, in denen er nicht zu Mary und Colin ging.

Abends gesellte sich oft seine Mutter zu ihm und hörte sich an, was Dickon den Tag über alles erlebt hatte.

Sie erfuhr auch von dem geheimen Garten, weil alle einstimmig beschlossen hatten, dass sie davon wissen durfte. Dickon berichtete ihr von Colin und seinen Besuchen im Garten und seiner Genesung.

"Es ist ein Glück, dass das kleine Mädchen nach Misselthwaite gekommen ist", sagte Mrs. Sowerby. "Es war für Colin die Rettung. Wir haben alle gedacht, er sei schwachsinnig und habe kranke Knochen. Und jetzt steht er auf seinen eigenen Füßen."

Sie fragte Dickon, wie die Menschen im Herrenhaus es sich erklärten, dass Colin keine Anfälle mehr hatte.

"Sie können es sich nicht erklären", antwortete Dickon. "Colin hat sich sehr verändert, er hat runde Backen bekommen und sieht längst nicht mehr so blass und krank aus. Aber er möchte nicht, dass es auffällt und versucht, wie früher wegen allem zu jammern."

"Warum macht er das?", wollte Mrs. Sowerby wissen.

"Damit der Doktor nicht merkt, dass es ihm so gut geht. Weil der dann nämlich an Mr. Craven einen Brief schreibt und es ihm mitteilt. Colin möchte aber seinen Vater selbst damit überraschen, wenn er wieder da ist. Er tut sogar so, als wenn er nicht einmal seinen Kopf anheben könnte, wenn die Diener um ihn sind. Und Mary spielt mit und fragt ihn, ob es wieder so schlimm sei mit den Schmerzen. Sie haben beide ihren Spaß daran und lachen sich später darüber halb kaputt", erzählte Dickon.

"Lachen ist gut. Je mehr sie lachen desto besser", meinte Dickons Mutter. "Essen sie denn gut?"

"Sie sind beide schon dicker geworden und haben großen Hunger. Aber sie können nicht so viel essen, weil die Leute sonst nicht mehr glauben, dass Colin krank ist. Einmal ist der Doktor schon verwundert gewesen wegen Colins Appetit und hat viele Fragen gestellt, als er sah, welch große Portion er gegessen hatte", sagte Dickon.

Da hatte Mrs. Sowerby eine Idee. Sie wollte den Kindern jeden Tag Brötchen und Milch mitgeben. Daran könnten sie sich im Garten satt essen.

Dickon freute sich über den guten Einfall seiner Mutter, die scheinbar immer eine Lösung wusste.

Nach dem Vorfall mit dem Doktor hatten sich Mary und Colin dazu entschlossen, weniger zu essen. Es war nicht einfach, weil sie jeden Morgen gewaltigen Hunger hatten. Umso mehr freuten sie sich, als Dickon nach zwei Stunden gemeinsamer Arbeit, aus einem Busch zwei Kannen Milch und Brötchen hervor zog.

Sie waren Mrs. Sowerby von Herzen dankbar und beschlossen, ihr für diese Extra-Mahlzeiten einen Teil ihres Taschengeldes zukommen zu lassen.

Von nun an schlemmten die Kinder jeden Tag in ihrem Garten. Dickon legte eine Feuerstelle an, auf der sie Kartoffeln rösteten und Eier brieten.

Nach dem Frühstück im Garten machte Colin Gehübungen und bald machten die Kinder täglich zusammen Turnübungen. Davon wurde Colin noch schnell kräftiger und auch Mary konnte immer besser turnen.

Weil die Mahlzeiten, die Mrs. Sowerby ihnen mitgab, so üppig waren, konnten sie im Herrenhaus die Teller fast voll zurückgeben. Das stiftete im Haus wieder Verwirrung. "Jetzt essen sie gar nichts mehr", stöhnte die Krankenschwester und prophezeite, dass sie an Unterernährung sterben würden.

Nach zwei Wochen besuchte Doktor Craven seinen Patienten wieder. "Warum isst du plötzlich nichts mehr?", fragte dieser. "Vor zwei Wochen noch hattest du doch einen so großen Appetit und hast auch schon sehr gut zugenommen."

"Es war ein unnatürlicher, kranker Appetit", sagte Colin ernst.

Mary musste an die dicke Kartoffel denken, die er vor einer Stunde hungrig gegessen hatte und wie er in ein Brötchen mit Marmelade und Sahne gebissen hatte. Sie musste sich sehr zusammenreißen, um nicht lauthals zu lachen.

 

 

 

24. Spannender Regentag

Robins Weibchen brütete die Eier in dem geheimen Garten aus, in dem nun ein Meer von Blumen in den schönsten Farben aufblühte. Das Vogelpärchen hatte sich schon so sehr an das Treiben im Garten gewöhnt, dass sie es an Regentagen sogar vermissten.

Es regnete in Strömen und Colin war ungeduldig, weil er drinnen seine Gehübungen nicht machen konnte. Da hatte Mary eine Idee.

Sie erzählte Colin von den hundert Zimmern, in die niemand ging. "An einem Regentag bin ich schon in manchen von ihnen gewesen und habe sie angeschaut. Ich habe es heimlich getan, aber Mrs. Medlock hat mich beinahe erwischt. Das war an dem Tag, an dem ich dich zum zweiten Mal schreien hörte."

Colin sprang vom Sofa und war begeistert. Er wollte sofort zu diesen geheimnisvollen Räumen. Dort würde er auch laufen und sogar seine Turnübungen machen können.

Sie klingelten nach der Schwester. Als sie kam, sagte Colin ihr, dass er sich den Teil des Hauses ansehen wollte, der nicht benutzt wurde.

Regentage machten den Beiden ab heute keine Angst mehr. Kaum war der Diener, der Colin ein paar Stufen im Rollstuhl hinauf getragen hatte, außer Sichtweite, stand Colin auf. Von nun an lief er und turnte durch die Korridore.

Mary zeigte ihm das Zimmer mit den geschnitzten Elefanten, mit denen sie vor Monaten hier gespielt hatte. Das Kissen mit dem Loch war auch noch da, die Maus und ihre Jungen waren aber fort.

Colin hatte ja gar nicht geahnt, in welchem schönen Haus er lebte. "Ich freue mich, dass wir hergekommen sind. Das Haus ist alt, groß und merkwürdig. Es ist schön", sagte Colin.

Zum Mittagessen kamen sie in Colins Zimmer zurück. Heute konnten sie nicht anders, sie aßen die ganze Portion auf. Die Schwester, die das leere Tablett abholte, verstand die Welt nicht mehr. "Dieses Haus ist geheimnisvoll, aber diese beiden Kinder sind noch geheimnisvoller", dachte sie.

Mary sah zu ihrem Erstaunen, dass der Vorhang über dem Bild von Colins Mutter zur Seite gezogen war. Sie betrachtete das Bild der schönen lachenden Frau.

Colin bemerkte, dass Mary sich fragte, warum das Bild nun zu sehen und nicht, wie sonst immer, verhüllt war.

"Letzte Nacht habe ich gespürt, dass in diesem Zimmer ein Zauber vor sich ging",erklärte er. "Ich bin zu dem Bild gegangen und habe den Vorhang zur Seite gezogen. Da sah ich sie auf mich herunter lächeln, als ob sie sich freute, mich zu sehen. Ich habe beschlossen, dass sie jetzt immer zu sehen sein soll. Es macht mich nicht mehr traurig, sie lachen zu sehen. Vielleicht war sie eine Zauberin."

 

 

 

25. Besuch im Garten

Die drei Kinder hatten viel im Garten zu tun. Es hatte einen warmen Regen gegeben und danach sprießte das Unkraut immer besonders schnell aus dem Boden. Auch Ben Weatherstaff half dabei, es auszureißen.

Colin war sehr gut gelaunt. Er fühlte, wie das Leben in ihm neu erwacht war und er strotzte vor Energie und Tatendrang. Während der Arbeit hielt er den Anderen einen Vortag über Zauberei, die ihn sehr beschäftigte.

Ben betrachtete ihn dabei voller Zuneigung. Er achtete weniger auf das, was Colin sagte, sondern mehr darauf, wie seine Beine aussahen. Sie wurden von Tag zu Tag kräftiger.

"Der Zauber wirkt am besten, wenn man arbeitet. Dann spürt man ihn in den Muskeln und Knochen. Ich werde ein Buch darüber schreiben", sagte Colin gerade. Dann richtete er sich plötzlich auf, legte seinen Spaten auf den Boden und warf die Arme hoch. Er strahlte.

"Seht mich nur an! Mary! Dickon!", rief er. "Wisst ihr noch, wie es war, als ihr mich zum ersten Mal hierher brachtet?"

Mary und Dickon sahen sich an und nickten. "Ja, wir erinnern uns."

"Und jetzt stehe ich hier und arbeite. Es ist wirklich wahr, ich bin gesund!", fuhr Colin fort. "Gesund, ich bin gesund! Ich werde leben! Ich werde lernen und vieles entdecken. Ich bin gesund! Ich möchte so gerne danke sagen!"

Ben stand unweit entfernt und sah auf. "Sing doch einen Lobgesang", sagte er trocken und hatte es eigentlich nicht ernst gemeint. Aber Colin gefiel die Idee. Er kannte keine Lobgesänge, aber Dickon konnte singen. Er trug mit seiner schönen Stimme "Großer Gott, wir loben Dich" vor, nachdem er Colin und Ben angewiesen hatte, ihre Mützen abzunehmen.

Andächtig standen sie da und hörten zu. "Das war ein schönes Lied", sagte Colin, als Dickon geendet hatte. "Ich finde es wunderbar. Genau das meine ich, wenn ich von Zauberei und vom Danken spreche."

In diesem Augenblick bemerkten alle vier gleichzeitig die Frau, die in den Garten getreten war.

"Das ist meine Mutter!", rief Dickon und rannte auf sie zu. "Ich habe ihr gesagt, wo der Eingang zum Garten ist, damit sie uns besucht. Ich wusste, dass ihr sie gerne kennen lernen wolltet."

Colin ging verlegen auf Mrs. Sowerby zu. "Ich wollte Sie immer schon so gern kennen lernen, schon als ich krank war", sagte er schüchtern. "Noch nie wollte ich jemanden dringender kennen lernen, als Sie."

Ergriffen sah Mrs. Sowerby Colin an. "Mein lieber Junge", sagte sie mit wackliger Stimme.

"Sind sie überrascht, dass ich so gesund aussehe?", fragte Colin.

"Ja", gab sie zu. "Und du siehst genauso wie deine Mutter aus."

"Meinen Sie, dass das meinem Vater helfen wird mich von jetzt an mehr zu mögen?", fragte Colin verlegen.

"Ganz bestimmt, mein Junge. Er muss unbedingt nach Hause kommen und ich bin sicher, dass er das auch bald tun wird", meinte Mrs. Sowerby und gab Colin einen aufmunternden Klaps.

Ben Weatherstaff kam heran. "Sehen Sie sich doch seine Beine an, Susan Sowerby", sagte er, "die Beine dieses Jungen waren noch vor zwei Monaten so dünn wie Trommelstöcke. Die Leute sagten, er hätte keine Knie und wären krumm. Nichts von dem ist wahr."

Dickons Mutter lachte fröhlich und meinte, dass Colin bald genauso kräftig sein würde wie jeder andere Junge. Er solle nur weiter im Garten spielen und arbeiten und tüchtig essen. Sie wendete sich Mary zu. "Du bist auch ordentlich gewachsen. Ich möchte wetten, dass du jetzt auch deiner Mutter ähnelst."

Mary erinnerte sich, wie gern sie in Indien ihre schöne Mutter angesehen hatte und freute sich über das Kompliment.

Es wurde viel gelacht in dem Garten. Mrs. Sowerby hatte einen Korb voller Speisen mitgebracht, über den sich die Kinder hermachten. Dabei erzählten sie Dickons Mutter lustige Geschichten darüber, wie sie versuchten, zu verheimlichen, dass Colin gesund war. Sie lachten selbst so sehr darüber, dass ihnen das Erzählen schwerfiel.

"Es wäre das Schlimmste für dich, wenn dein Vater von jemand anderem erfahren würde, dass du wieder gesund bist, nicht wahr?", fragte Mrs. Sowerby Colin.

"Das wäre unerträglich", antwortete er. "Ich denke mir schon aus, wie ich ihn am besten überrasche. Ich gehe einfach in sein Zimmer. Vielleicht ist das die beste Möglichkeit."

"Ja, das ist eine gute Idee", meinte Mrs. Sowerby. "Ich würde zu gern sein Gesicht sehen."

 

 

 

26. Vater und Sohn

Im weit entfernten Norwegen wanderte derweil ein einsamer Mann durch die wunderschönen Fjorde. Zehn Jahre lang hing er nun schon seinen dunklen Gedanken nach. Er hatte sich feige in sich zurückgezogen und nie versucht, das Düstere zu vertreiben.

Egal, wo er auch hinging, die Verzweiflung wurde er nie los. Deshalb hielt er es auch nirgends lange aus.

Seit Mary in das Herrenhaus gekommen war, war er schon viel gereist. Er war in Städten gewesen und auf Berge geklettert. Er hatte die Sonne von dort aus aufgehen sehen, aber das Licht hatte ihn nie erreicht.

An einem Tag merkte er, dass sich etwas in ihm veränderte. Es passierte nach einer langen Wanderung. Er setzte sich erschöpft an einen Fluss und sah in das dahinströmende, sonnendurchflutete Wasser.

Nach einer Weile sah er sich um und entdeckte ein Kissen voller Vergissmeinnicht. Er betrachtete sie und es fiel ihm ein, dass es Jahre her waren seit er das letzte Mal Blumen angesehen hatte.

Verwundert stand er auf. Plötzlich fühlte er, dass sich ein Knote in ihm gelöst hatte. "Auf einmal spüre ich, dass ich lebe", sagte er vor sich hin.

Den ganzen Abend hielt diese innere Ruhe an. Am nächsten Tag war sie verschwunden, aber es gab immer wieder Momente, an dem sie wiederkam und vollkommen grundlos seine düsteren Gedanken vertrieb.

Bis zum Herbst zog er noch weiter herum. Dann fing er an, immer öfter an Misselthwaite zu denken. Er dachte auch an seinen Sohn, an das weiße,schlafende Gesicht im Kissen. Was würde er wohl fühlen, wenn er ihn wieder so daliegen sehen würde? Es erschreckte ihn, daran zu denken.

An einem Morgen brachte man ihm einen Brief aus England. Er öffnete den Umschlag.

"Liber Herr,

ich bin Susan Sowerby, die Frau, die einmal so frei war, sie im Moor wegen Miss Mary anzusprechen. Heute möchte ich mir noch einmal die Freiheit erlauben, Sie um etwas zu bitten. Bitte, Sir, kommen Sie nach Hause. Wenn ich Sie wäre, würde ich gerne kommen. Bitte seien Sie nicht böse, aber auch ihre Gattin, wenn sie noch bei uns wäre, würde Sie bitten, zu kommen.

Ihre gehorsame Dienerin Susan Sowerby".

Einige Tage später war er zurück in England. Während der Zugfahrt hatte er mehr als jemals zuvor an seinen Sohn gedacht. Er erinnerte sich an seine Wut, als seine Frau tot, der Junge aber am Leben war. Er hatte ihn nicht sehen wollen und als er sich doch einmal überwand, sah er ein schwaches, kränkliches Kind vor sich, von dem jeder sagte, dass es bald sterben würde.

Überraschenderweise lebte der Junge weiter, aber man war sicher, dass er ein Krüppel werden würde.

Mr. Craven hatte sich nicht als Vater gefühlt. Er stellte Schwestern und Ärzte für Colin ein und ließ Spielzeug besorgen, aber wie es Colin wirklich ging, daran hatte er nie gedacht. Er war zu sehr mit sich selbst und seinem Kummer beschäftigt gewesen.

Heute fragte er sich, was er sich nur dabei gedacht hatte. Was hatte es mit dem Brief auf sich? War Colin kränker geworden?

Die holprige Fahrt durch das Moor beruhigte ihn seltsamerweise. Freute er sich auf das Nachhausekommen? Er konnte es sich nicht erklären, er hatte doch gedacht, dass er nie mehr Freude an irgendetwas empfinden können würde.

Die Dienerschaft empfing ihn im Herrenhaus in der gewohnten Weise. Er bat Mrs. Medlock zum Gespräch in die Bibliothek. Sie war sichtlich nervös und irritiert,

Mr. Craven fragte sie nach dem Befinden seines Sohnes. Sie sagte, es gehe ihm gut und er wäre irgendwie anders geworden. Sie erzählte ihm von seinem wechselnden Appetit und davon, dass er nach seinem letzten schlimmen Anfall plötzlich darauf bestanden hatte, mit Mary und Dickon in seinem Rollstuhl hinauszufahren.

"Wie sieht er denn aus?", erkundigte sich Mr. Craven.

"Er sieht kräftiger aus, aber wir befürchten, dass er nur aufgedunsen ist", sagte Mrs. Medlock.

"Wo ist er?", wollte Mr. Craven von ihr wissen.

"Im Garten, wo er immer ist", antwortete sie. "Keiner von uns darf sich ihm dort nähern. Offensichtlich möchte er nicht beobachtet werden."

"Im Garten?". Mr. Craven dämmerte es. "Im Garten!", wiederholte er immer wieder, machte kehrt und lief hinaus. Auf direktem Weg ging er zu dem verschlossenen Garten. Er hatte das Tor verschlossen und den Schlüssel vergraben und doch hörte er Stimmen und Schritte im Garten. Träumte er?

Die eiligen Schritte kamen näher und er hörte ein unterdrücktes Lachen. Und dann wurde plötzlich der Efeuvorhang zur Seite gerissen und ein Junge kam ihm entgegen gerannt. Der Junge sah ihn nicht, weil er so in Eile war und rannte Mr. Craven fast um.

Er konnte gerade noch die Arme ausbreiten, um den Jungen vor dem Zusammenprall zu bewahren. Er sah in ein vor Aufregung und Freude gerötetes Gesicht. Es war ein großer hübscher Junge, der vor Lebensfreude glühte. Er sah zu Mr. Craven auf. "Was?- Wer?", stammelte er.

So hatte Colin das Zusammentreffen mit seinem Vater nicht geplant. Er hatte soeben ein Wettrennen gegen Mary gewonnen. Das war viel besser als sein Plan. Er stand als Sieger eines Wettrennens vor seinem Vater.

"Vater! Ich bin es, Colin. Vielleicht glaubst du mir nicht. Ich glaube es ja manchmal selber noch nicht. Ich bin Colin!", rief er.

Sein Vater murmelte nur immer wieder "Im Garten. Im Garten.".

"Ja, der Garten war es. Er hat mich mit seinem Zauber gesund gemacht. Und Mary und Dickon mit seinen Tieren! Ich bin gesund. Keiner weiß davon. Ich wollte es dir zuerst erzählen. Ich habe ein Wettrennen gewonnen. Ich werde Athlet!". Seine Worte überschlugen sich fast vor Eifer.

Er berührte den Arm seines Vaters. "Freust du dich nicht, Vater?"

Mr. Craven legte seine Hände auf die Schultern seines Sohnes. Er sah ihn an. Er konnte kaum sprechen, überwand sich dann aber. "Bring mich in den Garten, mein Junge. Und dann erzähl mir alles."

Der bunt blühende, prächtige Garten umfing sie. Alle setzten sich. Nur Colin wollte stehen und erzählte seine Geschichte. Es war die seltsamste Geschichte, die Mr. Craven jemals gehört hatte.

Nun war das Geheimnis gelüftet und es war gut so. Colin sagte, er werde niemals mehr in dem Rollstuhl fahren und würde jetzt sofort mit seinem Vater ins Haus gehen. Er freute sich schon auf die erschrockenen Gesichter der Hausangestellten.

Als Mrs Medlock aus dem Fenster sah, traute sie ihren Augen nicht. Sie riss ihre Arme hoch und stieß einen Schrei aus. Alle Bediensteten liefen an de Fenster und sahen mit Staunen, wie ein Vater und ein Sohn zusammen über den Rasen schritten. Der Eine war der Besitzer von Misselthwaite, der ganz anders aussah als sonst. Und der Andere, -den Kopf hoch erhoben und mit lachenden Augen, stark und sicher wie jeder andere Junge- war Master Colin.