Mutter und Sohn

  • Autor: Verne, Jules

Omsk war offiziell die Hauptstadt von Westsibirien. Dort befand sich der Sitz des Generalgouverneurs über diesen asiatischen Teil Russlands. Das Regierungsviertel bildete die Oberstadt. In der Unterstadt wohnten die einfachen Kaufleute und Händler.

In nur wenigen Tagen hatten die Tataren diese Stadt eingenommen. Der Generalgouverneur mit seinen Truppen hatte sich in der Oberstadt verschanzt und verteidigten diesen Teil noch so gut sie konnten. Allerdings wussten sie, dass es ein aussichtsloser Kampf war, weil die Angreifer über den Irtysch ständig Verstärkung erhielten.

Außerdem wurden sie von einem überaus intelligenten und rücksichtslosen Offizier angeführt: Oberst Iwan Ogareff!

In seinen Adern floss mongolisches Blut. Sein Talent war es die Gegner zu täuschen und in die Falle zu locken. Wenn es ihm diente, trat er in Verkleidungen auf, um unerkannt zu bleiben. Feofar-Khan hatte in diesem Mann den idealen Generalstabchef für seinen Kriegszug gegen Russland.

Als Michael Strogoff mit Nadja den Irtysch erreicht hatte, hielt Iwan Ogareff Omsk schon besetzt und war dabei, die Oberstadt zu unterwerfen. Sein nächstes Ziel war Tomsk, wo er das Hauptquartier einrichten wollte. Von dort konnte er sein eigentliches Ziel - Irkutsk - angehen.

Der Verräter wollte unter falschem Namen beim Großfürsten, dem Bruder des Zaren, seine Dienste anbieten und sich dessen Vertrauen erschleichen.

Wir wissen, dass dieser Plan dem Zaren bekannt ist und er zu diesem Zweck seinen Kurier Michael Strogoff nach Irkutsk berufen hat, um einen Anschlag auf seinen Bruder zu vereiteln. Bisher war die Mission erfolgreich verlaufen. Aber was war Michael am Irtysch zugestoßen?

Der Lanzenstoß war nicht tödlich gewesen. Er tauchte, schwamm unter Wasser ans rechte Flussufer und brach dort bewusstlos zusammen.

Als er wieder zu sich kam, lag in der Hütte eines Mujik, der ihn gefunden und verarztet hatte. Der Alte erzählte ihm, was geschehen war. Er erfuhr, dass die Tataren Nadja gefangen genommen und nach Tomsk verschleppt hatten.

Der Kurier griff in seine Jacke - der Brief des Zaren war noch da. Trotz aller Trauer und Schmerzen kannte er nur ein Gefühl: Die Verantwortung dem Vaterland gegenüber.

"Hör mal, guter Mann. Wie lange liege ich schon hier?"

"Seit vorgestern."

"Drei Tage verloren! Kannst du mir ein Pferd verkaufen?"

"Du kannst noch nicht weiterreisen. Du bist zu schwach. Warte noch eine Nacht!"

"Ich kann keine Minute mehr warten!"

"Dann komm. Ich selber habe weder Pferd noch Wagen. Aber ich bringe dich zur Poststation nach Omsk. Ich habe dort einen Freund, der wird dir ein Pferd verkaufen."

"Der Himmel soll dich für alles belohnen, was du für mich tust, alter Freund", sagte Michael Strogoff.

Gleich bei den ersten Schritten wurde es Michael Strogoff schwindelig. Er stützte sich auf den Bauern. Aber die frische Luft gab ihm Kraft und Sicherheit. Sein Kopf dröhnte noch von dem Schlag, aber mit solchen Kleinigkeiten wollte er sich nicht abgeben.

Sein Ziel war Irkutsk und so durfte er keine Minute mehr vergeuden. In Omsk angekommen führte ihn der Mujik zu seinem Freund, dem Postmeister. Natürlich kannte Michael Strogoff die Stadt wie seine Westentasche, aber er hatte den Bauern vorausgehen lassen. Er selbst achtete darauf, nicht erkannt zu werden. Er wollte auf keinen Fall auf seine Mutter treffen. Den Schwur, den er vor dem Zaren geleistet hatte, musste er halten.

Kurz vor dem Ziel versteckte der Kurier sich plötzlich in einer Häusernische.

"Was hast du denn?", fragte der Mujik.

"Pst!", flüsterte Michael Strogoff.

Ein Zug von Tataren bog in die Gasse ein. An der Spitze ritt ein Offizier.

"Kennst du diesen Mann?", fragte Michael Strogoff erregt den Bauern, als der Zug vorbei war.

"Das ist Iwan Ogareff", erwiderte der Sibirier voller Hass.

Der Kurier atmete tief durch, um seine Wut zu bändigen. In dem Offizier hatte er den Reisenden mit der Peitsche wiedererkannt. Und irgendwie erinnerte er ihn auch an diesen Zigeuner auf dem Wolgadampfer. Auf diese Art muss es ihm also gelungen sein, den Ural zu überqueren. Also stimmten die Gerüchte, die Alcide Jolivet in Perm erfahren hatte.

Jetzt kannte er das Gesicht und musste umso mehr darauf achten, seinem Feind aus dem Weg zu gehen.

Da er nunmehr alleine reiste, beschloss Michael Strogoff, dass ein Pferd das beste Reisemittel für ihn war. Der Postmeister verlangte eine ordentliche Stange Geld, aber das musste es ihm wert sein. Es war vier Uhr nachmittags. Weil Michael die Nacht abwarten musste, um aus Omsk zu kommen, beschloss er auf der Poststation zu warten.

Er ließ sich etwas zu essen bringen und belauschte nebenher die Gespräche der anderen Reisenden. Plötzlich drang ein Aufschrei bis in sein Innerstes. Nur zwei Worte, die ihn zum Erstarren brachten:

"Mein Sohn!"

Seine Mutter Marfa stand vor ihm. Strahlend vor Freude, streckte sie ihre Arme aus. Michael stand auf und überlegte kurz. Er durfte den Auftrag nicht in Gefahr bringen. Also blieb er stehen und sah seine Mutter verständnislos an. Er fühlte die Blicke der anderen Reisenden. Unter ihnen befand sich mit Sicherheit ein Spion, der wusste, wer Marfa war und das ihr einziger Sohn zur Elitetruppe des Zaren gehörte.

"Michael!", rief seine Mutter.

"Entschuldigung, gute Frau. Wer sind Sie?"

"Wer ich bin? Aber Junge, kennst du deine Mutter nicht mehr?"

"Das ist ein Irrtum. Sie müssen mich mit jemandem verwechseln. Mein Name ist Nikolaus Korpanoff, ich bin ein Kaufmann aus Irkutsk."

Damit verließ er den Warteraum und hörte noch, wie seine Mutter hinter ihm herrief. Es brach ihm beinahe das Herz.

Doch Marfa begriff plötzlich, was das zu bedeuten hatte. Wenn ihr Sohn sie verleugnete, dann hatte das seinen Grund. Sein Beruf zwang ihn offensichtlich dazu. Jetzt quälte sie nur ein Gedanke: Hoffentlich habe ich ihm nicht geschadet!

"Ich bin eine alte, dumme, kurzsichtige Frau", sprach sie laut vor sich her. "Meine Augen haben mir einen Streich gespielt. Es war gar nicht die Stimme meines Sohnes. Es ist wohl die Sehnsucht nach ihm, die mich in jedem großen Mann meinen Sohn erkennen lässt."

Es vergingen keine zehn Minuten, da erschien ein Tatarenoffizier und fragte nach Marfa Strogoff.

"Das bin ich!", antwortete die alte Frau mit ruhiger Stimme.

"Mitkommen!"

Sie wurde zum Lager auf dem Marktplatz der Unterstadt geführt und vor den gefürchteten Iwan Ogareff gestellt. Der hatte einen unbestimmten Verdacht und wollte deshalb die alte Sibirierin verhören.

"Du bist Marfa Strogoff und hast einen Sohn, der ein Kurier des Zaren ist?"

"Ja."

"Wo befindet er sich zurzeit?"

"In Moskau nehme ich an. Ich habe länger nichts von ihm gehört."

"Wer war der junge Mann, den du vorhin mit - mein Sohn - angeredet hast?"

"Ein junger Sibirier, den ich für Michael hielt. Das ist diese Woche schon der zehnte, von dem ich das glaubte. Überall sehe ich meinen Sohn!"

"Aber er war es nicht?"

"Nein. Leider."

"Alte, wenn du mir nicht die Wahrheit sagst, lasse ich dich foltern."

"Es ist die Wahrheit, daran kann keine Folter etwas ändern."

Iwan Ogareff glaubte ihr kein Wort. Für ihn war ganz klar, dieser Nikolaus Korpanoff war kein anderer als Michael Strogoff. Der hatte offensichtlich einen wichtigen Auftrag, wenn er sogar seine Mutter verleugnete. Er gab augenblicklich Befehl die Verfolgung aufzunehmen.

"Diese Frau wird nach Tomsk ins Gefangenenlager gebracht!", sagte er zu seinen Soldaten. Zu sich selber murmelte er: "Es kommt der Tag, da bring ich die alte Hexe zum Reden."