Odysseus, in der Höhle des Zyklopen

Auf unserer langen Irrfahrt kam ich, Odysseus [1], mit meinen Gefährten auch zu dem grausamen Volke der Zyklopen. Auf ihrem Land wächst alle mögliche Nahrung ohne Zutat des Ackermanns: Weizen, Gerste, die edelsten Trauben. Und Zeus [2] schenkt seinem milden Regen noch dazu. Die Zyklopen halten sich an keine Gesetze und wohnen alle in felsigen Gebirgshöhlen. Dort richten sie sich mit Weibern und Kindern ein, gerade so, wie jeder es mag.

Nicht weit vom Zyklopenlande ist eine kleine Insel mit wilden Ziegen, die sorglos hier grasen. Kein Mensch wohnt darauf, auch die Zyklopen nicht, denn sie verstehen nichts vom Schiffbau.

In dunkler Nacht geleiteten die Götter unsere Schiffe zu dieser fruchtbaren Insel. Als der Morgen anbrach, gingen wir fröhlich an Land und erlegten so viele Ziegen, dass jedes meiner zwölf Schiffe neun Tiere bekam. Da saßen wir nun bis in den Abend hinein und erfreuten uns an guter Nahrung.

Am anderen Morgen hatte ich Lust, das nahe Land zu erkunden. Da wusste ich noch nichts von den wilden Zyklopen. Als wir mit unseren Schiffen anlandeten, sahen wir am fernen Meeresstrand eine große Felshöhle, wo in einem Gehege viele Schafe und Ziegen lagerten. In dieser Umzäunung war auch ein Mann von riesiger Gestalt, der die Herde mit finsterem Blick bewachte. Das war der erste Zyklop, dem wir begegneten.

Ich wählte zwölf meiner tapfersten Freunde aus und befahl den anderen, die Schiffe zu bewachen. Dann hängte ich mir einen Weinschlauch um und tat gute Speisen in einem Korb. Denn ich dachte, mit diesen Dingen könnte ich den düsteren Zyklopen vielleicht besänftigen.

Als wir bei der Felshöhle angekommen waren, war der Ort verlassen. Wir traten in die Höhle ein und wunderten uns. Da standen Körbe mit Käse herum, und es gab viele Ställe, in denen sich Lämmer und jungen Ziegen drängten. Die Gefährten redeten auf mich, möglichst viel von dem Käse und auch die Tiere mitzunehmen. Aber ich war doch neugierig und wollte den seltsamen Bewohner der Höhle näher beschauen. Darum zündeten wir ein Feuer an und warteten auf die Rückkehr des Zyklopen.

Als wir den Zyklopen kommen hörten, löschten wir die Feuerglut und versteckten uns in einem dunklen Winkel der Höhle. Der Zyklop hatte eine Riesenlast Scheiterholz auf seinen Schultern, die er krachend zu Boden warf. Dann sahen wir, wie er draußen die Herde aus dem Gehege in die Höhle trieb. Nun rollte der Zyklop ein mächtiges Felsstück vor den Eingang, den zwanzig Wagen nicht von der Stelle geschafft hätten.

Jetzt setzte er sich gemächlich auf den Boden und melkte die Schafe und Ziegen. Die eine Hälfte der Milch machte er zu Käse und stellte diesen in Körben zum Trocknen hin. Die andere Hälfte verwahrte er in großen Töpfen, denn das war sein täglicher Trunk.

Als der Zyklop mit allem fertig war, entfachte er ein großes Feuer. Da geschah es, dass er uns in dem dunklen Winkel erblickte. Auch wir sahen jetzt sein grässliches Antlitz. Er hatte wie alle Zyklopen nur ein einziges funkelndes Auge in der Stirn.

"Wer seid ihr, Fremdlinge, und woher kommt ihr?", fuhr uns der Zyklop mit rauer Stimme an. "Ist das Rauben euer Geschäft, oder was treibt ihr hier bei mir?" Die donnernde Stimme ließ uns erzittern, doch ich fasste Mut und sprach: "Wir sind Griechen, die sich auf dem Meere verirrt haben. Im Namen von Zeus und den anderen Göttern bitten wir dich um Gastfreundschaft."

Der Zyklop aber lachte nur und rief: "Du bist mir schon ein rechter Tor, oh Fremdling! Weißt du nicht, mit wem du dich eingelassen hast? Und glaubst du, wir kümmern uns um die Götter oder deren Rache? Wir Zyklopen, sind doch viel mächtiger als sie! Aber sage mir, wo du deine Schiffe liegen hast, damit ich sie mir betrachten kann."

Ich durchschaute die Hinterlist des Zyklopen und sprach: "Mein Schiff hat Poseidon [3] nicht weit von hier an die Klippen geworfen und zertrümmert. Ich allein bin mit meinem zwölf Gesellen dem Zorn des Gottes entronnen."

Da packte der Riese wütend zwei von meinen Männern, schlug sie zu Boden und fraß sie mit Haut und Haaren auf. Wir aber streckten die Hände zu Zeus empor und beklagten laut unser Schicksal.

Erklärungen:

[1] Odysseus war König von Ithaka. Er kämpfte bei der Belagerung von Troja auf griechischer Seite. Troja wurde nach zehn Jahren von den Griechen erobert, und Odysseus kehrte nach langer Irrfahrt in seine Heimat zurück.

[2] Zeus ist der oberste Gott der Griechen, der Vater der Götterfamilie.

[3] Poseidon ist der Gott des Meeres. Sein Wahrzeichen ist der Dreizack. Bei den Römern steht Neptun an seiner Stelle.