Bellerophontes

  • Autor: Schwab, Gustav

Sisyphos, der listigste aller Sterblichen, baute einst die herrliche Stadt Korinth zwischen zwei Meeren und zwei Ländern [1]. Für allerlei Betrug wurde ihm eine harte Strafe in der Unterwelt auferlegt. Sisyphos musste einen schweren Marmorstein von der Ebene auf eine Anhöhe wälzen. Wenn er aber schon glaubte, oben auf dem Gipfel angekommen zu sein, rollte der tückische Stein wieder in die Tiefe zurück. So musste der Büßer den Marmor wieder und wieder hinaufwälzen, ohne Hoffnung auf ein Ende.

Sein Enkel war Bellerophontes. Er hatte seinen Vater getötet und war nach Tiryns [2] geflohen, wo König Proitos herrschte. Der König kam zu dem Schluss, dass Bellerophontes den Tod des Vaters nicht absichtlich herbeigeführt hatte, und nahm den Jüngling bei sich auf.

Bellerophontes aber hatte von den Göttern eine besonders schöne Gestalt empfangen. Dieses weckte bei der Königin Anteia ein großes Verlangen. Sie versuchte den Jüngling mit allerlei Künsten zu verführen, doch Bellerophontes wies sie ab. Da verwandelte sich Liebe in Hass, und Anteia dürstete es nach Rache.

Die Königin suchte ihren Gemahl auf und sprach: "Oh mein Gemahl, erschlage den ehrlosen Bellerophontes! Der Treulose hat mich zur Untreue gegen dich verleiten wollen." Als der König diese Klage hörte, entbrannte der Zorn in ihm, hatte er dem Jüngling doch vertraut. An Mord wollte der König aber nicht denken, vielmehr sollte Bellerophontes sich sein eigenes Verderben bereiten. Darum schickte König Proitos den Jüngling nach Lykien [3] und gab ihm ein Täfelchen als Empfehlungsschreiben mit.

Das Täfelchen sollte Bellerophontes dem lykischen König Iobates übergeben, der ein Verwandter von König Proitos war. Der Jüngling ahnte nicht, dass versteckte Zeichen auf dem Täfelchen seine Hinrichtung empfahlen.

Als Bellerophontes Lykien erreicht hatte, trat er sogleich vor König Iobates. Dieser war ein gütiger Fürst und nahm ihn nach alter Sitte in Gastfreundschaft auf. Iobates ehrte den Jüngling auf jede erdenkliche Weise und gab jeden Tag ein neues Fest für ihn. Erst am zehnten Tage fragte der König höflich seinen Gast, warum er denn komme. Da antwortete Bellerophontes, dass er von König Proitos geschickt worden sei, und er übergab das kleine Täfelchen.

Als König Iobates den Sinn der mörderischen Zeichen erkannte, erblasste er vor Schrecken. Er wollte nicht glauben, dass dieser edle Jüngling ein schweres Verbrechen begangen hatte. Und doch musste er die Anklage seines Verwandten ernst nehmen.

Iobates weigerte sich aber am Ende, den Jüngling zu töten, der durch sein edles Benehmen so viel Zuneigung gewonnen hatte. Trotzdem sollte Bellerophontes seine Unschuld im Kampf beweisen.

Zuerst schickte König Iobates den Jüngling gegen die Chimäre [4] aus, die Lykien schon lange verwüstete. Der grässliche Typhon [5] hatte es zusammen mit Echidna [6] gezeugt. Doch die Götter hatten Mitleid mit dem schuldlosen Jüngling, als sie sahen, welche Gefahr ihm drohte. Sie schickten ihm das unsterbliche Flügelross Pegasus [7].

Das göttliche Pferd hatte aber noch nie einen sterblichen Reiter getragen. Es ließ sich nicht einfangen und auch nicht zähmen. Nach vielen Versuchen setzte sich Bellerophontes traurig an einer Quelle nieder und schlief ein. Da erschien ihm im Träume die göttliche Athene [8] und schenkte ihm ein goldenes Zaumzeug. Kaum war der Jüngling wieder erwacht, spürte er etwas neben sich liegen und erfasste es mit der Hand. Es war wirklich das Zaumzeug, mit dem er jetzt das Flügelross ohne alle Mühe bändigen konnte. Nun schoss Bellerophontes aus den Lüften herab und tötete die Chimäre mit Pfeil und Bogen.

Hierauf schickte König Iobates ihn gegen kriegerische Völkerschaften, die Lykien an den Grenzen bedrohten. Doch Bellerophontes besiegte sie alle. Nunmehr erkannte der König, dass sein Gast kein Verbrecher sondern ein Liebling der Götter war. Statt ihn weiter zu verfolgen, hielt Iobates ihn in seinem Königreiche zurück, teilte den Thron mit ihm und gab ihm seine Tochter. Die Lykier überließen ihm die schönsten Äcker, und seine Gemahlin schenkte ihm drei Kinder.

Der Besitz des unsterblichen Flügelrosses machte Bellerophontes aber übermütig. Er, der Sterbliche, wollte sich mit Hilfe von Pegasus zum Olymp [9] emporschwingen. Doch das göttliche Ross widersetzte sich im Flug, bäumte sich auf und schleuderte den irdischen Reiter hinunter auf die Erde.

Bellerophontes überlebte diesen tiefen Fall, doch die Gunst der Götter war ihm entzogen. Seine Mitmenschen verachteten ihn dafür, und so irrte er jetzt nur noch einsam umher, ohne Ruhm und Ehre in seinem hohen Alter.

Erklärungen:

[1] Korinth ist eine griechische Stadt am Meeresgolf von Korinth.

[2] Tiryns war ein Burgstadt in Südgriechenland, auf dem Peloponnes.

[3] Lykien ist eine Landschaft, die Griechenland im Südosten gegenüberliegt. Heute gehört diese Landschaft zur Türkei.

[4] Die Chimäre ist ein feuerspeiendes Ungeheuer mit Löwenkopf, Ziegenkopf und Schlangenschwanz.

[5] Typhon ist ein riesiges Ungeheuer mit Schlangenfüßen.

[6] Echidna ist ein Ungeheuer, halb schönäugiges Mädchen, halb grausige Riesenschlange.

[7] Pegasus ist ein geflügeltes Pferd, das aus der Medusa [10] hervorkam, als Perseus sie köpfte.

[8] Athene ist eine Tochter von Zeus. Sie ist die Göttin der Weisheit, steht aber auch für heldenhaften Kampf und Sieg. Das heilige Tier der Athene ist die Eule.

[9] Der Olymp ist ein Gebirge in Griechenland, das als Sitz der Götter verehrt wurde.

[10] Medusa ist eine der drei Gorgonen. Ihr Haupt ist mit Schlangenhaaren bedeckt und ihr grauenhafter Anblick lässt Sterbliche versteinern.