Michael Green und die Anfänge des Kinos

Es ist Juli, und endlich sind Sommerferien! Hanna und ich haben schon hundert Pläne geschmiedet, was wir alles machen werden: Schwimmen gehen, einen Staudamm am Waldbach bauen, den Professor besuchen und eine Fahrradtour machen. Natürlich wollten wir auch zum Ritterfest auf Burg Greifenfels, außerdem eine Nacht im Freien schlafen, Sternschnuppen zählen, Glühwürmchen beobachten und, und, und ...

"Ihr könntet auch mal wieder Großvater im Garten besuchen", sagte Hanna-Zebras Mutter, "und ein paar Kirschen für den Sonntagskuchen pflücken." Oh Mann, ja, Kirschen! Fast hätten wir das vergessen! Hanna-Zebras Mutter hat uns noch ein paar Sachen eingepackt, zwei Frikadellen und eine Flasche Bier für den Großvater, altes Brot, Eier- und Kartoffelschalen für die Hühner - aber dann konnten wir endlich los.

Der Schrebergarten von Hanna-Zebras Großvater liegt zusammen mit vielen anderen Kleingärten etwas außerhalb am Stadtrand. Es ist ein wunderschöner Garten mit einem kleinen Teich darin, vielen Blumen, Obstbäumen und Beerensträuchern. Jetzt im Sommer ist der Großvater den ganzen Tag dort. Er pflegt seine Pflanzen, kümmert sich um die Hühner, hält ein Schwätzchen mit seinen Nachbarn oder döst einfach in der Sonne.

Als wir ankamen, stand er gerade in den Rosen und schnitt verwelkte Blüten ab. "Hallo Großvater", rief Hanna-Zebra und lief voraus. "Wir kommen dich besuchen!" "Ich seh's, ich seh's", antwortete er lachend, "wie schön, dass du deinen alten Großvater noch nicht vergessen hast - oder habt ihr etwa nur die reifen Kirschen gerochen?"

Er begrüßte uns und freute sich über das Bier und die Frikadellen. Hanna-Zebra und ich durften die Hühner füttern, und danach sind wir mit Merlo in die Kirschen gestiegen. Im Garten stehen zwei Süßkirschbäume und ein Sauerkirschbaum. Von den sauren haben wir ziemlich schnell ein Eimerchen voll für den Kuchen gepflückt, aber mit den süßen, schwarzen Herzkirschen haben wir uns doch etwas länger beschäftigt. Merlo hat begeistert mitgeholfen und dabei mein ganzes T-Shirt mit Kirschsaft voll gespritzt.

"Kommt mal raus aus dem Baum - ihr seid ja schlimmer als die Stare!" rief Hanna-Zebras Großvater schließlich, und dann haben wir uns auf die Wiese an den Teich gesetzt. "Ich glaube, ich habe zu viele Kirschen im Bauch ..." Hanna-Zebra legte sich flach auf den Rücken und stöhnte leise, "nur ganz vorsichtig atmen ..."

In der Mittagshitze glitzerten die Sonnenstrahlen auf dem Teich. Nur Wasserläufer und Rückenschwimmer ließen kleine Wellen auf der glatten Wasseroberfläche entstehen. Am Ufer blühten Wiesenknopf und Mädesüß, im flachen Wasser Binsen und Schwanenblumen, und überall guckten die kleinen weißen Blütenkelche des Froschbiss' aus dem Wasser. Mitten im Teich, da, wo er am tiefsten ist, sah ich die dicken Knospen der Seerose zwischen den großen, runden Blättern. Und darüber in der Luft stand, wie ein Hubschrauber, die größte Libelle, die ich je gesehen hatte!

"Hanna-Zebra!", flüsterte ich, um die Libelle nicht zu vertreiben, "guck dir mal diese Riesen-Libelle an!" Hanna-Zebra schreckte hoch und wirbelte aufgeregt mit ihren Armen: "Libelle? Wo? Scheuch sie weg, die sticht!" "Ach, Unsinn, Hanna-Zebra, Libellen stechen doch nicht!"

Großvater kam zu uns und lachte: "Libellen sind wunderbare Insekten, hervorragende Flugkünstler, und sieh dir mal die prächtigen Farben an!" Aber durch Hanna-Zebras Gezappel war die Libelle aufgeschreckt worden und stand nicht mehr still. Stattdessen flog sie eine Schleife nach der anderen über den Teich und setzte sich endlich auf die Spitze eines Rohrkolbens. Jetzt konnten wir sie richtig betrachten. Sie hatte einen langen, glänzend grünen Leib mit einem knubbeligen Kopf, lange, staksige Beine und vier große, schillernde Flügel. "Die Flügel sieht man überhaupt nicht, wenn sie fliegt", wunderte ich mich. "Bei Merlo sehe ich jeden Flügelschlag!"

"Nun, Michael Green, Merlo bewegt seine Flügel ja auch viel langsamer als eine Libelle", sagte der Großvater. "Unsere Augen können gar nicht so schnell sehen, wie die Libelle schwirrt. Deshalb erkennen wir anstelle der Flügel nur so etwas silbrig Zitterndes. Aber in einer Zeitlupenaufnahme könntet ihr genau sehen, wie die Libelle ihre Flügel bewegt."

"Au weia, wie sollen wir denn an eine Zeitlupenaufnahme kommen?" Hanna-Zebra zog die Stirn in Falten. "Dazu braucht man doch eine Filmkamera, oder?" Aber plötzlich strahlte sie mich an: "Michael Green, was ist denn mit der Queen?"

"Na, ich glaube kaum, dass euch die englische Königin behilflich sein kann", brummte der Großvater. Hanna-Zebra und ich lachten laut los. "Die Queen ist doch meine Englischlehrerin", erklärte ich, "eigentlich heißt sie Frau König!" Genau, das war die Lösung! Frau König ist nämlich nicht nur Pauker, sondern auch die Leiterin des Filmklubs. Die musste uns doch sagen können, wie eine Zeitlupe gemacht wird!

Abends haben wir dann bei der Queen angerufen. Sie hat sich richtig gefreut, dass wir uns für ihr Hobby interessierten, und am nächsten Morgen sind wir gleich zu ihr gegangen. "Guten Tag, ihr drei", sagte die Queen, als sie uns die Tür öffnete, "Willkommen in Klein-Hollywood!"

Sie führte uns in ihr Wohnzimmer, und das sah wirklich unglaublich aus! Überall hingen Filmplakate, "Nosferatu", "Moderne Zeiten", "Casablanca", "Mary Poppins", "2001. Odyssee im Weltraum", "Krieg der Sterne", "Jurassic Park", dazwischen Fotos mit Autogrammen von Schauspielern und alte Kinokarten in ganz kleinen Bilderrahmen, alles bunt durcheinander. In einer Vitrine stand sogar eine Kamera, die vorne eine Ziehharmonika hat, und verschiedene Geräte, die alle sehr alt aussahen. Aber das Verrückteste war die Sitzecke - original Kino-Klappstühle, mit rotem Samt bezogen, rund um einen total krummen Tisch auf drei Beinen.

"Nehmt doch Platz", sagte die Queen und zeigte auf die Stühle. "Ihr wollt also wissen, wie eine Libelle fliegt?" "Nee", antwortete Hanna-Zebra, "wir wollen es sehen!" Frau König lächelte: "Das erinnert mich an Eadweard Muybridge, der war ebenso neugierig!" Sie griff ein Buch aus dem Regal. "Muybridge war ein amerikanischer Fotograf", sie blätterte in dem Buch, "man könnte ihn als einen der Väter der Zeitlupe betrachten. Übrigens eine ganz witzige Geschichte!"

Und damit begann sie zu erzählen: "Vor rund 125 Jahren behauptete der kalifornische Gouverneur Leland Stanford, dass Pferde beim Galoppieren manchmal alle Beine vom Boden abheben. Aber andere Leute bezweifelten das, und so wurde eine Wette daraus. Um die Wahrheit zu finden, bat man Eadweard Muybridge um Hilfe. Und der ließ sich etwas Cleveres einfallen.

Am Rand einer Rennbahn stellte er eine Reihe von Fotoapparaten auf. An den Auslösern befestigte er lange Fäden, die er quer über die Rennbahn spannte. Dann ließ er ein Pferd losgaloppieren, das nacheinander alle Fäden zerriss und dabei die Auslöser betätigte. Jeder Faden ein Bild! Das ergab eine fortlaufende Bilderserie, auf der man ganz genau sehen konnte, wie das Pferd beim Galoppieren die Beine bewegte. Und tatsächlich waren auf manchen Bildern alle vier Beine in der Luft! Stanford hatte seine Wette gewonnen - und Eadweard Muybridge wurde danach als Tierfotograf bekannt."

"Ganz schön raffiniert", meinte Hanna-Zebra, "aber wer waren die anderen Väter?" Die Queen legte das Buch auf den Tisch. "Nun, da denke ich vor allem an den Belgier Joseph Plateau und den Engländer George William Horner. Beide haben versucht, Bilder in Bewegung umzusetzen. Plateau zeichnete eine Bilderreihe - eine kleine Tänzerin - auf eine runde Drehscheibe. Zwischen die einzelnen Bilder schnitt er feine Sehschlitze. Jetzt konnte er die Scheibe vor einem Spiegel drehen und dabei durch die Sehschlitze gucken. Wenn er sie schnell genug rotieren ließ, drehte sich die kleine Tänzerin im Kreis! Unser Auge ist nämlich zu träge, um die einzelnen Bilder zu unterscheiden und verbindet sie daher zu einer Bewegung."

Frau König stand auf. "Die Erfindung von William Horner kann ich euch sogar zeigen." Sie holte eine Art Blechdose aus der Vitrine. "Das hier ähnelt seiner Wundertrommel. Horner zeichnete die Bilderreihe auf einen solchen Papierstreifen, der hier in die Trommel eingelegt wurde. Seht ihr? Über den Bildern sind Schlitze ausgeschnitten. Und wenn man die Trommel nun dreht", sie brachte die Dose ordentlich auf Touren, "dann kann man durch die Sehschlitze die vorbeilaufenden Bilder sehen!" Hanna-Zebra und ich durften auch einmal drehen, und es sah wirklich wie ein kleiner Zeichentrickfilm aus. "Man braucht keinen Spiegel mehr", meinte Hanna-Zebra zufrieden.

"Aber es waren doch keine richtigen Fotos", protestierte ich, "alles wurde mit der Hand gezeichnet!" "Richtig, Michael Green", antwortete Frau König, "und damit sind wir wieder bei Eadweard Muybridge! Den hatte die Tierfotografie nämlich nicht mehr losgelassen. Wissenschaftler der Universität Pennsylvania waren auf seine Arbeiten aufmerksam geworden, und Muybridge erhielt viele Aufträge für fotografische Bewegungsstudien von Tieren und Menschen. Glaubt mir, das war kein leichtes Stück Arbeit."

Sie brachte die Wundertrommel wieder zurück und holte eine schwarze Platte aus dem Schrank. "Fotografieren war in den Anfängen ziemlich schwierig. Die ersten Bilder wurden auf beschichteten Glasplatten wie dieser aufgenommen. Für ein Portrait mussten die Leute minutenlang stillsitzen, bis sich das Bild auf der lichtempfindlichen Schicht abzeichnete. Manchmal hat man den Kopf sogar mit einer Schraubvorrichtung gehalten, damit er nicht wackelte.

Und anschließend mussten die Augen auf den fertigen Fotos noch nachgezeichnet werden, damit man sie erkannte. Alles sehr mühsam!" Sie hielt die Glasplatte gegen das Licht und wir konnten zwei Kinder und so etwas Ähnliches wie einen kleinen Hund darauf erkennen. Auch die stumpfe Beschichtung war gut zu sehen.

Frau König legte die Platte vorsichtig wieder in die Vitrine. "Eadweard Muybridge hatte allerdings schon bessere Fotoapparate. Aber er benutzte immer noch Glasplatten und arbeitete häufig mit mehreren Apparaten gleichzeitig, also, da musste er schon ziemlich gut jonglieren können!" "Wenn er seine Glasplatten aneinander gelegt hätte, dann wäre es fast so wie ein Film gewesen ..." überlegte ich. "Ja, genau!"

Die Queen kam wieder in Fahrt: "Eadweard Muybridge hat tatsächlich ein Vorführgerät für seine Bilderserien gebaut. Es funktionierte so ähnlich wie die Drehscheibe von Joseph Plateau, und das war dann wirklich der erste Schritt zum Film." "Aber eine Zeitlupe ist es doch immer noch nicht", meinte Hanna-Zebra ungeduldig, "wenn er seine Bilderserie langsam laufen ließ, sah man doch wieder einzelne Bilder!" "Gut mitgedacht, Hanna-Zebra", lobte Frau König. "Dafür musste man erst den Celluloidfilm erfinden und Thomas Alva Edison auf die Idee mit den seitlichen Lochreihen kommen.

Edison war überhaupt ein sagenhafter Tüftler! Über 1500 Patente gehen auf ihn zurück, unter anderem hat er auch entscheidend an der Entwicklung der Glühbirne mitgewirkt. Für den verbesserten Celluloidfilm hat er sich auch gleich einen Vorführapparat ausgedacht, der einen kurzen Film abspielte, wenn man eine Münze einwarf. Solche Minikinos wurden in vielen amerikanischen Großstädten aufgestellt.

Aber Edison verdanken wir noch viel mehr. Zum Beispiel die Schwarze Marie, wartet, die kann ich euch zeigen." Frau König holte noch ein dickes Buch aus dem Regal: "Hier, seht mal, das erste Filmstudio der Welt!" Auf dem Foto sah man eine schwarze Hütte. "Wo ist die schwarze Marie?", fragte Hanna-Zebra skeptisch. "Ach, das ist nur der Spitzname des Filmstudios", erklärte Frau König. "Das Haus ließ sich drehen und man konnte das Dach aufklappen, um immer die beste Sonneneinstrahlung einzufangen. Es gab ja noch keine Scheinwerfer!"

"Ja, und es gab immer noch keine Zeitlupe", sagte ich. Denn langsam bekam ich Hunger, und Merlo war auch schon ganz unruhig. "So ist es, Michael Green", bestätigte die Queen, "aber jetzt greifen die Brüder Lumière ins dramatische Geschehen ein! Die beiden Franzosen haben sich Edisons Vorführapparat angesehen und dann ein neues, verbessertes Gerät entwickelt. Damit konnte man endlich richtige Filme vorführen. Schon nach kurzer Zeit machten die ersten Filmtheater auf - das Kino war geboren!"

Mit einem zufriedenen Lächeln lehnte sich Frau König in ihrem Klappstuhl zurück. "Ach, Kinder, die Welt des Films ist wunderbar!" Hanna-Zebra und ich wechselten einen Blick. "Ja", sagte ich schließlich, "wirklich schade, dass wir leider schon nach Hause gehen müssen!" "Wirklich zu schade", sagte auch Hanna-Zebra. Und dann verabschiedeten wir uns höflich aus Klein-Hollywood.

Als wir auf der Straße standen, atmeten wir erst mal tief durch und gingen dann schweigend nebeneinander her. "Warum", sagte Hanna-Zebra schließlich, "warum habe ich die ganze Zeit das Gefühl gehabt, ich wär' in der Schule?" Wir kicherten. "Sie nutzen wirklich jede Gelegenheit", meinte sie dann, "leihe einer Lehrerin nur einmal das Ohr, und sie füllt dir sofort jede einzelne Gehirnzelle auf!"

Ich musste ihr Recht geben: "Jetzt haben wir den ganzen Kopf voll Kino. Und trotzdem wissen wir nach zwei Stunden Audienz bei der Königin immer noch nicht, wie eine Zeitlupe funktioniert - oder haben wir da etwas verschlafen?"

Am Wochenende habe ich Onkel Leonardo vom Besuch bei der Queen erzählt. Von ihrer tollen Sammlung im Wohnzimmer. Dass sie ununterbrochen wie ein Wasserfall geredet hat. Und auch, dass wir immer noch nicht wissen, wie man eine Zeitlupenaufnahme macht. "Aber, Michael Green, du bist doch nicht auf den Kopf gefallen - dafür braucht man doch nur ein bisschen logisch zu denken!" Onkel Leonardo lachte. "Na, vielleicht kann ich dir dabei etwas auf die Pferde-Sprünge helfen!"

Und dann hat er es mir erklärt. Um eine Zeitlupenaufnahme zu machen, braucht man eine Zeitlupenkamera. Sie kann mehrere hundert Bilder in einer Sekunde aufnehmen. Also läuft sie viel schneller als eine normale Kamera. Wenn der Film dann entwickelt worden ist, spielt man ihn langsamer, zum Beispiel mit fünfundzwanzig Bildern pro Sekunde ab. Die Flügel einer Libelle würden sich nur noch im Schneckentempo bewegen, sodass man sie ganz genau erkennen kann. Aber trotzdem läuft der Film ja immer noch so schnell, dass man keine einzelnen Bilder sieht.