Auf der Wolga

  • Autor: Verne, Jules

Am Kai ritten Kosaken auf und ab und kontrollierten jeden, der an Bord ging. Sie verhafteten unerbittlich alle, die nicht die entsprechenden Papiere vorweisen konnten.

Michael Strogoff und das Mädchen waren reibungslos an Bord gelangt und sahen nun zu, wie weißer Dampf aus den Ventilen zischte. Die Taue wurden losgemacht und die "Kaukasus" nahm Fahrt auf, die Wolga stromabwärts.

Die Fahrt auf dem insgesamt rund viertausenddreihundert Kilometer langen Fluss dauerte von Nishny-Nowgorod bis Perm, etwas mehr als sechzig Stunden. In Kasan war ein einstündiger Aufenthalt geplant.

Michael Strogoff hatte zwei Kabinen erster Klasse reserviert und der Dampfer bot auf dem Hinterdeck allerhand Abwechslung und Bequemlichkeit. Auf dem Vorderdeck tummelten sich Händler unterschiedlichster Nationen.

Ungefähr zwei Stunden nach dem Auslaufen der "Kaukasus" drehte sich das Mädchen zum ersten Mal zu ihrem Begleiter und fragte ihn:

"Musst du auch nach Irkutsk?"

"Ja", erwiderte der Kurier des Zaren, "wir haben beide den gleichen Weg."

"Morgen werde ich dir sagen, warum ich aus meiner Heimatstadt Riga gegangen bin."

"Wenn du es mir sagen möchtest, gerne. Ich werde dich aber nicht fragen."

"Ich bin wirklich sehr müde, aber morgen werden ich dir alles erzählen. Übrigens, mein Name ist Nadja. Kannst du mir meine Kajüte zeigen?"

"Aber gerne. Ich bin dein Bruder Nikolaus Korpanoff und natürlich immer für dich da!"

Er führte sie zu der Kabine, die am Heck lag, in der Nähe des Salons. Dann kehrte er auf das Oberdeck zurück und mischte sich unter die verschiedenen Gruppen. Vielleicht konnte er den Gesprächen etwas entnehmen, was für seine weiteren Reisepläne nützlich sein konnte.

Doch alles, was er herausbekam, war, dass die Menschen Angst hatten. Die Ungewissheit, was hinter dem Ural auf einen wartete, ließ viele verstummen. Aus diesen Leuten war also nichts herauszubekommen. Aber dann hörte Michael Strogoff plötzlich eine laute Stimme. Sie sprach russisch mit stark westeuropäischem Akzent.

"Interessant, wie wir beide uns ständig über die Füße stolpern. Man könnte fast meinen, sie seien mir auf den Fersen Mister Blount."

"Keineswegs Monsieur Jolivet, ich gehe vor Ihnen her."

"Einigen wir uns darauf: Wir marschieren vorläufig im Gleichschritt bis an die Front. Wenn wir aber erst den Pass bei Jekaterinburg überquert haben, werden wir zu erbitterten Gegnern."

"Damit bin ich einverstanden."

Und die Hand des Ersten schüttelte energisch die Finger, die der Zweite phlegmatisch hinhielt.

Wie Michael Strogoff Alcide Jolivet und Harry Blount so zuhörte, sagte er zu sich: Das scheinen ziemlich neugierige Gesellen zu sein. Denen bin ich sicherlich nicht das letzte Mal begegnet. Die halte ich mir besser ein paar Schritte von Leib!

Die junge Livländerin erschien nicht zum Essen und auch am Abend war sie noch nicht an Deck.

Während der langen Dämmerung kühlte die Luft deutlich ab, was die Reisenden nach der drückenden Hitze als besonders angenehm empfanden. Viele begaben sich nicht in ihre stickigen Kabinen, sondern suchten sich eine Bank an Deck.

Eine ihm unerklärliche Unruhe hielt Michael Strogoff wach. Zuerst ging er nur auf dem Hinterdeck auf und ab. Ganz in Gedanken durchquerte er den Maschinenraum und erreichte das Vorderdeck. Dort lagen die Passagiere nicht auf Bänken, sonder kreuz und quer auf Kisten Säcken und Warenballen.

Vorsichtig, um niemanden zu stoßen, stieg er über die Schlafenden hinweg. Plötzlich vernahm er eine Stimme. Der Dialekt war schwer zu verstehen und so schlich er sich weiter an. Es waren eindeutig die Stimmen eines Mannes und einer Frau. Vermutlich Zigeuner.

"Man behauptet, ein Kurier des Zaren sei auf dem Weg von Moskau nach Irkutsk."

"Das behauptet man Sangarre. Selbst wenn es stimmt, der Kerl wird entweder zu spät oder gar nicht ankommen."

Michael Strogoff zuckte zusammen. Die beiden sprachen über ihn!

Er zog sich leise und vorsichtig zurück zum Hinterdeck und setzte sich in eine Ecke.

Wer in aller Welt hat von meinem Auftrag erfahren und wer zum Teufel interessiert sich dafür?, fragte er sich.

Am folgenden Morgen, dem 18. Juli, legte die "Kaukasus" in Kasan an, um neue Kohle zu fassen. Eine ungeheure Menschenmenge hatte sich eingefunden, jeder in der Hoffnung Neuigkeiten über die politische Situation zu erfahren.

Mit Lanzen bewaffnete Kosaken hielten die Leute in Schach und bahnten einen Gang für die Passagiere die aus- und einsteigen wollten. Natürlich wurde wieder jeder strengstens kontrolliert.

Michael Strogoff beobachtete das Kommen und Gehen ohne allzu großes Interesse. Der Halt würde ungefähr eine Stunde dauern und es lohnte sich für ihn nicht, an Land zu gehen. Außerdem wollte er Nadja nicht alleine lassen.

Er sah wie die beiden Reporter als eine der ersten von Bord gingen. Sie pirschten los und mischten sich unters Volk. Ein Gerücht breitete sich aus, dass die Invasion jenseits des Urals bereits unübersehbare Ausmaße angenommen hatten.

Diese Nachricht beunruhigte den Kurier des Zaren und es bestärkte ihn in seiner Eile, so schnell wie möglich den Ural zu passieren, um mögliche Hindernisse aus dem Weg zu räumen.

Unter denen, die von Bord gingen, erkannte Michael Strogoff jene beiden Zigeuner, die in der Nacht über ihn gesprochen hatten. Sie waren umringt von mindestens zwanzig Tänzerinnen, die einen schrecklich verwahrlosten Eindruck machten. Die Frau, deren Name offenbar Sangarre war, starrte ihn plötzlich an, als wolle sie sich sein Gesicht für immer in ihr Gedächtnis einprägen.

"Verdammtes Zigeunergesindel", murmelte Michael Strogoff, und da waren sie auch schon in der Menge verschwunden.

Der Ort Kasan wird das Tor Asiens genannt. Das kommt daher, dass hier zwei Straßen aufeinandertreffen, die von zwei Uralpässen kommen. Michael Strogoff wählte den Weg über Perm und Jekaterinburg - die große Poststraße, auf der bis Irkutsk in regelmäßigen Abständen Postämter liegen.

Der zweite Übergang verbindet Kasan mit Ischim. Dieser Weg ist kürzer, aber in schlechtem Straßenzustand. Offensichtlich nahmen die Zigeuner diesen beschwerlicheren Weg.

Eine Stunde später bimmelte die Schiffsglocke und alle Passagiere kamen an Bord.

Gegen zehn Uhr kam die junge Livländerin an Deck. Michael Strogoff ging ihr entgegen und sie gaben einander die Hand.

"Schau dich nur ein bisschen um, Schwesterchen!", ermunterte er sie.

"Wie weit sind wir jetzt von Moskau weg?", fragte sie.

"Ungefähr neunhundert Kilometer."

"Neunhundert von siebentausend!", seufzte sie.

Es war Zeit zu frühstücken. Nadja folgte Michael Strogoff zum Restaurant, in dem eine reiche Auswahl an Speisen stand. Nadja begnügte sich mit einer kleinen Portion und bald war die Mahlzeit beendet. Sie gingen an Deck zurück, setzten sich auf eine Bank und Nadja begann, ohne sich bitten zu lassen, zu erzählen.

"Ich heiße Nadja Fedor und bin die Tochter eines Verbannten. Vor einem Monat starb meine Mutter in Riga und jetzt bin ich auf dem Weg nach Irkutsk, zu meinem Vater. Er war ein angesehener Arzt mit einer erfolgreichen Praxis und unsere Familie führte ein glückliches Leben.

Als mein Vater aber einer Geheimorganisation beigetreten war, wurde ihm der Ausweisungsbefehl zugestellt. Das ist zwei Jahre her. Meine Mutter war bereits krank, als Vater gehen musste und sie starb in meinen Armen.

Von den Behörden bekam ich die Erlaubnis, nach Irkutsk zu reisen. Mit dem letzten Geld machte ich mich auf den Weg und hoffe Gott wir mir beistehen."

Michael Strogoff war tief beeindruckt und erklärte dem Mädchen, dass es aufgrund seiner Podaroshna bis zu ihrem Zielort mit ihm reisen könne.