Der Prinz im Kehrichthof

  • Autor: Twain, Mark

John Canty schleppte den Prinzen, mit einer Meute johlenden Gesindels im Rücken, zum Kehrichthof. Lediglich ein Mann zeigte Mitleid, doch niemand beachtete ihn. Während der Prinz verzweifelt gegen diese schändliche Behandlung ankämpfte, wurde John Canty immer zorniger, bis er die Geduld vollends verlor und einen Knüppel hob. Als er zuschlug, traf er allerdings nicht den Prinzen sondern das Handgelenk des ungebetenen Fürbitters.

"Du willst dich einmischen?", schrie er aufgebracht, "hier hast du deine Antwort!" Dann schlug John Canty mit voller Kraft auf den Kopf des Mannes, der daraufhin bewusstlos niedersank. Die grölende Meute lief einfach weiter.

Der Prinz wurde in die Behausung der Cantys geschleppt. Eine Kerze, die in einer Flasche steckte, leuchtete dieses jämmerliche Loch aus. In einer Ecke hockten zwei Mädchen und eine verhärmte Frau, alle in Lumpen gehüllt. Sie schienen ängstlich wie die Tiere, an diese brutale Behandlung gewöhnt und dauernd in Furcht lebend.

Aus der anderen Ecke kam eine widerliche alte Hexe mit strähnigem grauen Haar und bösem Blick zu ihm. John Canty forderte den Prinzen auf, ihr zu sagen, wer er sei. Der Prinz war inzwischen die Beleidigungen leid und antwortete mit verächtlichem Blick: "Sicher ist nur Eure schlechte Erziehung schuld, dass Ihr in diesem Ton mit mir redet. Ich sagte es schon einmal. Ich bin Edward, Prinz von Wales!"

Die alte Hexe war völlig vor den Kopf gestoßen und stand still da, während ihr Sohn höhnisch auflachte. Doch Tom Cantys Mutter und seine Schwestern reagierten ganz anders. Sie liefen entsetzt auf den Prinzen zu und riefen: "Oh, armer Tom! Nun hat dich diese verrückte Leserei endgültig um den Verstand gebracht. Weshalb hast du nicht auf mich gehört?"

Sanftmütig antwortete der Prinz: "Eurem Sohn geht es gut. Er ist noch bei Sinnen, tröstet Euch. Bringt mich zum König, in den Palast. Mein Vater wird Euch Tom sogleich zurückgeben."

"Mein Kind, hör auf mit diesen Fantastereien. Ich bin es, deine Mutter!" flehte sie ihn an.

"Ich will Sie nicht betrüben, aber nie zuvor habe ich Ihr Gesicht gesehen. Gott soll mein Zeuge sein."

Die Frau sackte in sich zusammen und begann zu weinen. John Canty schrie, er solle mit diesem Theater aufhören und die beiden Mädchen, die sich für ihren Bruder einsetzten, versprachen in seinem Namen, er würde am nächsten Tag sicher wieder der Alte sein. "Bitte Vater, lass ihn in Ruhe", flehten sie, "Morgen wird er bestimmt wieder fleißig betteln und nicht mit leeren Händen wiederkehren."

Dies schien den Vater wachzurütteln und er schrie den Prinzen an: "Morgen ist die Miete fällig. Eine Halbjahresmiete von zwei Pence will der Halsabschneider für dieses Loch. Also zeig, was du gebettelt hast."

"Lasst mich mit Euren dreckigen Geschäften in Ruhe. Ich sage es noch einmal - ich bin der Sohn des Königs!"

Der heftige Schlag traf Prinz Edward unvorbereitet und schleuderte ihn in die Arme von Frau Canty. Sie versuchte ihn so gut es ging, vor den Schlägen zu schützen. Die Mädchen flüchteten in ihre Ecke. Großmutter Canty kam ihrem Sohn zu Hilfe. Da sagte der Prinz: "Madam, Sie sollen nicht für mich leiden. Diese Tiere sollen ihre Wut an mir austoben!"

John Canty entwickelte daraufhin einen unsagbaren Zorn und bearbeitete den Prinzen gemeinsam mit seiner Mutter mit den Fäusten. Danach waren die Mutter und die Schwestern fällig, weil sie Mitleid gezeigt hatten mit dem Opfer. "Geht mir aus den Augen! Ich bin hundemüde!", schrie ihr Peiniger und löschte das Licht.

Die Familie legte sich schlafen. Während John Canty und seine Mutter zügig in einen tiefen Schlaf fielen, krochen die beiden Mädchen zum Prinzen und deckten ihn zärtlich mit Stroh zu. Auch die Mutter kam und tröstete ihn liebevoll. Sie weinte noch immer und bot ihm einen Bissen an, den sie sich vom Mund abgespart hatte. Der Prinz war gerührt ob dieser selbstlosen Gesten und bat sie in seiner vornehmen Art, sich nun zur Ruhe zu begeben und ihren Kummer zu vergessen. Dies brachte die Mutter wieder zum Weinen, weil es ihr der Beweis für die Verrücktheit ihres Sohnes schien.

Sie konnte nicht schlafen. Irgendetwas schien ihr anders an Tom. Was, wenn er tatsächlich nicht ihr Junge war? Sie zermarterte sich den Kopf, wie sie Gewissheit erlangen könnte. Als er während des Schlafes einmal gequält aufstöhnte, als hätte er einen bösen Traum, kam ihr eine Idee. Tom war einmal Pulver direkt vor dem Gesicht explodiert. Seitdem schlägt er die Hände vors Gesicht, wenn jemand ihn aus dem Schlaf aufschreckt. Er tut dies nicht wie andere Leute, sondern er dreht immer die Handflächen nach außen. "Jetzt werde ich gleich wissen, ob du wirklich mein Tom bist", murmelte Mutter Canty.

Sie zündete die Kerze wieder an und beugte sich vorsichtig über den schlafenden Jungen. Dann schlug sie mit der Faust direkt neben seinen Ohren auf den Fußboden, dass es nur so krachte. Der Junge wachte erschrocken auf, aber seine Hände bewegte er keinen Millimeter. Als er die Augen wieder schloss, kauerte sie entsetzt neben ihm nieder. Dies war ein schwerer Tag für sie. Sie probierte es noch mehrmals aus, aber immer ohne Erfolg. Da war sie sicher, es konnte nicht Tom sein.

Nachdem Prinz Edward mehrere Stunden in tiefem Schlaf versunken war, erwachte er murmelnd: "Sir William. Ich hatte einen eigenartigen Traum. Lasst Euch erzählen …", murmelte er verschlafen. "Ich träumte, ich sei ein Bettelknabe. He, Sir William, ist keiner meiner Kammerdiener da?"

Nan, die Schwester Toms, eilte zu seinem Lager und fragte, was er denn wolle. Als der Prinz aufspringen wollte, weil er sich erschrocken hatte, wurde ihm klar, dass es gar kein Traum war. Der Schlaf hatte ihn seine Erlebnisse vergessen lassen, aber nun war es ihm wieder klar: Er war kein Prinz mehr, der von seinem Volke verehrt wurde. Er war nun ein gewöhnlicher Bettelknabe, der inmitten von Dieben und Bettlern in einem Loch hauste.

Als es an der Tür klopfte, hörte John Canty auf zu schnarchen. Vor der Tür fragte jemand: "John Canty, wisst Ihr eigentlich, wen Ihr gestern niedergeschlagen habt?"

John Canty verneinte. Es war ihm auch egal. Da rief die Stimme: "Der Mann liegt im Sterben und ist niemand Geringerer als Father Andrew! Wenn Ihr also den Tag überleben wollt, dann flieht!"

Canty jagte seine Familie aus ihren Ecken und befahl mit vor Furcht rauer Stimme: "Steht auf! Wir müssen fliehen, oder wollt Ihr alle verrecken." Fünf Minuten später war die gesamte Familie Canty in den dunklen Gassen Londons auf der Flucht. Vater Canty gab Anweisungen. Falls sie sich verlieren sollten, wäre der Treffpunkt auf der London Bridge am letzten Leinenweberstand. Von dort aus wollte er dann mit allen nach Southwark, ans andere Themseufer fliehen.

In dem Moment erreichten sie das Themseufer. Feiernde Menschen kamen ihnen entgegen und das Ufer war beiderseits beleuchtet und festlich geschmückt. Überall loderten Freudenfeuer und die London Bridge und die Brücke von Southwark war hell erleuchtet. Feuerwerkskörper krachten und überall drängten sich fröhliche Menschen am Ufer. Ganz London schien unterwegs zu sein.

Fluchend befahl John Canty seiner Familie den Rückzug. Doch sie waren bereits im Rummel voneinander getrennt worden. Nur den Prinzen hatte John Canty immer noch an der Hand. Doch der Junge wurde ganz aufgeregt bei dem Gedanken, dass er es in diesem Gewühl einfach schaffen musste, dem groben Canty zu entkommen.

Vater Canty kam in Streit mit einem angetrunkenen Bootsführer. Der wollte mit ihm auf die Gesundheit des Prinzen anstoßen und ließ nicht locker. Als Canty sich weigern wollte, wurde er sehr ungehalten und er verstellte ihm den Weg. John Canty gab nach: "Gut. Dann gib mir deinen Humpen! Aber schnell."

Inzwischen waren andere Leute auf die Beiden aufmerksam geworden und riefen: "Gebt ihm den Liebesbecher. Der grantige Kerl soll daraus trinken, sonst verfüttern wir ihn den Fischen." Sie brachten einen riesigen Trinkpokal und boten ihn nach alter Sitte mit vornehmen Gebaren dar. John Canty blieb nichts anderes, als dem Brauch nach mit einer Hand den Pokal zu nehmen und mit der anderen den Deckel zu heben. Dazu musste er des Prinzen Handgelenk loslassen.

Der Prinz verlor keine Zeit und war Sekunden später im Gewimmel untergetaucht. Bald war er sich vor John Canty sicher. Vor allem war ihm schnell bewusst geworden, dass die Menschen hier nichts anderes feierten als den Prinzen von Wales! Und zwar den Falschen! Oh, dieser Betteljunge Tom Canty. Er hatte die Gunst der Stunde genutzt und sich unrechtmäßig an seine Stelle geschlichen.

Der Prinz schlug zielstrebig die Richtung zum Rathaus ein. Dort würde er sich zu erkennen geben und den Lügner entlarven. Danach würde er Tom noch eine kurze Gnadenfrist gewähren, bevor er ihn wegen Hochverrat hängen, strecken und vierteilen lassen würde. So waren damals die Gesetze.