Endlich!

  • Autor: Poe, Edgar Allan

Am Morgen des 24. Juli erwachten wir herrlich gekräftigt und voll des Mutes. Wir befanden uns immer noch in einer gefahrvollen Lage. Dennoch ließen uns die enormen Leiden der vergangenen Wochen unsere jetzige Situation erträglich erscheinen - Leid und Freude sind eben nur relative Begriffe.

Nach Sonnenaufgang begannen wir, die Vorratskammer weiter zu durchfischen. Es folgte ein ziemlicher Schauer, begleitet von Blitzen. Sofort versuchten wir wieder, mit einem Betttuch Wasser einzusammeln. Das Tuch wurde an den vier Enden so mit Ketten befestigt, dass es aufgrund der Wasserlast in der Mitte absackte; dort fingen wir das heruntertropfende Wasser in einem Krug auf.

Kaum war der Krug fast voll, brach eine heftige Bö von Norden her über unser Schiff herein. Wir banden uns wieder am Gangspill fest und harrten der Dinge, die dieser Sturm mit sich bringen würde, mit einer gewissen Ruhe. Inzwischen hatten wir Erfahrung mit dem Festbinden und ertrugen die folgende bedrückte Nacht in mittelmäßiger Sicherheit. Die See durchnässte uns wieder bis auf die Haut. Glücklicherweise waren die Temperaturen inzwischen angenehm.

Der Morgen des 25. Juli zeigte, dass der Sturm sich deutlich abgeschwächt hatte und die See so ruhig geworden war, dass wir uns auf Deck trocknen konnten. Leider mussten wir feststellen, dass zwei Oliventöpfe und der gesamte Schinken über Bord gegangen waren. Trotzdem wollten wir die Schildkröte noch nicht schlachten und frühstückten lediglich einige Oliven und etwas Wasser, den wir mit ein wenig Wein mischten.

Die See war immer noch rau, so waren keine neuen Tauchversuche möglich. Tagsüber wurden noch mehr Dinge über Bord gespült und die Brigg neigte sich bedenklich zur Seite. Wir konnten nicht mehr geradestehen, ohne angebunden zu sein. Mittags schien die Sonne fast senkrecht über uns zu stehen. Gegen Abend trieben einige Haifische ihr Unwesen in unserer Nähe. Einmal, als das Deck tief unters Wasser geriet, schwamm eines der Untiere tatsächlich auf uns zu, zappelte eine Weile und schlug mit dem Schwanz nach Dirk Peters. Erleichtert sahen wir zu, als eine schwere Welle das Ungeheuer wieder über Bord wälzte. Bei besserem Wetter hätten wir es vielleicht fangen können.

Am Morgen des 26. Juli entdeckten wir, dass die Vorratskammer nichts mehr zu bieten hatte. Man mag sich unsere Verzweiflung vorstellen können.

Der 27. Juli bescherte uns eine völlig ruhige See und leichten Wind. Nachmittags schien die Sonne heiß und wir trockneten unsere Kleider. Auch erfrischten wir uns bei einem Bad im Meer. Allerdings mussten wir vorsichtig sein, denn immer noch schwammen Haifische in unserer Nähe herum.

Am 27. Juli war das Wetter immer noch gut. Nun lag die Brigg sehr stark auf der Seite, dass wir fürchten mussten, zu kentern. Wir trafen Vorbereitungen, indem wir die Schildkröte, den Wasserkrug und Oliventöpfe auf der Windseite, außerhalb der Brigg festbanden. Die See war glatt und es war windstill.

Das Wetter am 29. Juli blieb gleich. Augustus verwundeter Arm begann abzusterben. Er klagte über Schwäche und war sehr durstig. Schmerzen hatte er jedoch kaum. Wir konnten lediglich seine Wunden mit ein wenig Essig einreiben und ihm die dreifache Ration Wasser zugestehen.

Der nächste Tag war ausgesprochen heiß und windstill. Wir schrieben nun den 30. Juli. Eifrig versuchten wir einen Haifisch zu fangen, der den ganzen Vormittag um uns herumschwamm. Augustus ging es viel schlechter, wahrscheinlich wegen der Mangelernährung und gleichzeitig verschlechterte sich der Zustand der Wunde. Heute Abend aßen wir die letzten Oliven, das Wasser war inzwischen faulig geworden, sodass wir es ohne den Wein gar nicht genießen konnten. Wir beschlossen, am nächsten Tage die Schildkröte zu schlachten.

Nach einer unangenehmen Nacht, die auf die schiefe Lage des Schiffes zurückzuführen war, schlachteten wir am 31. Juli die Schildkröte. Die essbare Ausbeute war bedeutend geringer als wir uns erhofft hatten; sie lag bei zehn Pfund. Damit das Fleisch uns recht lange halten möge, legten wir kleine Stücke in dem Olivenöl ein. Auf diese Weise ergaben sich ungefähr drei Pfund Fleischvorrat, der nahezu unverderblich war. Den Rest teilten wir in Rationen, die uns dreizehn Tage als Nahrung dienen konnte.

Gelegentlich konnten wir durch einen kurzen Gewitterschauer ein wenig Wasser auffangen, was aber kaum ausreichte. Augustus ging es zunehmend schlechter. Sein Arm war von der Schulter bis zum Handgelenk schwarz und die Füße waren kalt wie Eis. Auch war er schrecklich abgemagert - in Nantucket hatte er noch hundersiebenundzwanzig Pfund gewogen, jetzt wog er allerhöchstens noch fünfzig Pfund. Seine Augen lagen in tiefen Höhlen, die Wangen hingen fahl herab und er konnte kaum noch schlucken. Wir mussten jeden Augenblick um sein Leben fürchten.

Das Wetter blieb weiterhin ruhig; so brannte sie Sonne auch am 1. August auf uns nieder. Wir litten quälenden Durst. Das Wasser im Krug war vermodert und es wimmelte von Maden. Dennoch tranken wir einige Tropfen, die wir mit Wein vermischten, um uns vor dem Verdursten zu retten. Dann wagten wir ein wohltuendes Bad im Meer, obwohl die Haie immer noch beständig in unserer Nähe weilten.

An diesem Mittag starb Augustus, nachdem er schon einige Stunden besinnungslos gewesen war. Sein Tod erfüllte uns mit tiefer Trauer, sodass wir niedergeschlagen den ganzen Tag schweigend neben seinem Leichnam saßen. Erst als die Nacht hereinbrach, erhoben wir uns, die Leiche über Bord zu werfen. Sie war in entsetzlichem Zustand und schon so verwest, dass ein Bein sich ablöste, als Peters ihn in die Höhe hob. Als diese faulende Masse ins Meer fiel, bemerkten wir an dem phosphorieszierenden Schein, dass sechs oder sieben Haie die Beute zerteilten. Wir vernahmen ein unheimliches Knirschen und waren entsetzt ob dieses schaurigen Geräusches.

Am 2. August erging es uns nicht viel besser. Die glühende Hitze zermürbte unseren Geist und unsere Seele. Der Wasserkrug beinhaltete nur noch eine dicke, schleimige Masse aus Würmern und Schlamm, die wir ausschütten mussten. Vergebens versuchten wir, unseren schlimmen Durst mit dem restlichen Wein zu löschen. Er berauschte uns nur. Daraufhin versuchten wir unseren inzwischen unerträglichen Durst mit einem Gemisch aus Meerwasser und Wein zu löschen, was wiederum eine schreckliche Übelkeit zur Folge hatte. An diesem Tage war es uns unmöglich ein Bad im Meer zu nehmen, weil die Haifische unser Schiff belagerten. Sie schienen seit gestern Abend freudig auf den nächsten Appetithappen zu warten.

Zugleich schwebten wir in ständiger Todesangst, da wir mit jeder Schwankung des Schiffes Gefahr liefen, diesen gierigen Fischen näher zu kommen. Weder unser Schreien noch einen Hieb mit der Axt, den einer der Haie abbekommen hatte, konnte die gefährlichen Genossen vertreiben. Dieser ungnädige Durst und die Furcht vor den Haifischen verursachte uns nachhaltige Schlaflosigkeit.

Am 3. August gab es immer noch keine Aussicht auf Erlösung. Unsere hoffnungslose Situation hielt weiter an.

Kurz vor Tagesanbruch des 4. Augusts, bemerkten wir, dass unser Kiel nach oben gedreht war. Wir mussten vorsichtig sein, machten uns aber aufs Schlimmste gefasst. Glücklicherweise hatten wir tags zuvor die Vorräte sicherer festgebunden. Die Bewegung kam erst langsam, wir konnten noch nach der Windseite klettern. Dann aber holte uns die Beschleunigung des Falles ein, wir konnten mit der Drehung nicht mehr Schritt halten und ehe wir uns umsahen, zappelten wir unter der Oberfläche, direkt unter dem Schiff.

Während des Absinkens musste ich mein Tau loslassen. Da ich mich am Ende meiner Kräfte fühlte, kämpfte ich kaum noch um mein Leben, sondern war darauf gefasst, in wenigen Sekunden zu sterben. Jedoch täuschte ich mich. Das Schiff rollte zurück und der dadurch entstehende Druck hob mich in die Höhe. Ich tauchte wieder auf. Vor mir lag das Schiff, mit dem Kiel nach oben und schaukelte wild von einer Seite auf die andere. Von Peters war keine Spur. Um mich herum schwammen ein Tranfass und andere Gegenstände.

Am meisten fürchtete ich mich vor den Haien. Ich versuchte, sie mir mit auffälligem Geplätscher vom Halse zu halten. Sicherlich verdanke ich diesem einfachen Hilfsmittel mein Leben, denn kurz vor dem Kentern der Brigg wimmelte es im Meer von diesen Ungeheuern. Womöglich hatte ich sogar eines gestreift! Durch einen glücklichen Zufall erreichte ich das Schiff, ohne verletzt zu werden; jedoch war ich derart erschöpft, dass ich niemals alleine raufgekommen wäre. Glücklicherweise bot Peters mir seine Hilfe an, der bereits von der anderen Seite her das Schiff erreicht hatte.

Kaum hatten wir uns beruhigt, erkannten wir, dass uns nun ganz bestimmt der Hungertod einholen würde. All unsere Vorräte waren weggerissen. Als wir uns aber genauer umsahen, entdeckten wir auf dem ganzen unteren Teil des Schiffes eine dichte Lage großer Austern. Sie würden uns eine kräftige Nahrung sein. Das nennt man Glück im Unglück. Der neue Vorrat würde länger als einen Monat ausreichen.

Jedoch bereitete uns die Wasserfrage große Sorgen. Wir zogen unsere Hemden aus, um bei einem eventuellen Regenguss sofort bereits zu sein, das Wasser aufzufangen. Doch an diesem Tag zeigte sich keine Wolke am Himmel und unser Durst nahm ein quälendes Ausmaß an.

Der Morgen des 5. August weckte uns mit einer angenehmen Brise und trieb uns durch Algen, zwischen denen wir kleine Krabben entdeckten, die Abwechslung in unsere Mahlzeit brachten. Als wir sie verspeisten, merkten wir, dass sie uns weniger durstig machten als die Austern. Und weil wir keine Haifische mehr sahen, nahmen wir ein erfrischendes Bad. Nachdem wir uns so gestärkt hatten, schliefen wir beide ein wenig und verbrachten so eine bessere Nacht.

Am 6. August wurden wir von anhaltendem Regen erfreut, der nahezu einen halben Tag andauerte. Leider war unsere Flasche abhandengekommen. Aber wenigstens konnten wir die Hemden durchnässen und unseren Durst stillen, indem wir die Flüssigkeit direkt in unseren Mund pressten. Das beschäftigte uns den restlichen Tag.

Bei Tagesanbruch am 7. August bemerkten wir gleichzeitig ein Segel im Osten. Es hielt direkt auf uns zu! Sogleich schrien wir vor Freude ekstatisch auf und begannen alle möglichen Signale zu geben. Tatsächlich schien es sich uns zu nähern. Wir schrien mit aller Kraft, obwohl das Schiff noch mindestens fünfzehn Meilen entfernt war. Eine Stunde später konnten wir Menschen auf Deck dieses langen, niedrigen Schoners erkennen. Er schien eine große Mannschaft mit sich zu führen.

Nun bekamen wir es doch ein wenig mit der Angst zu tun. Was, wenn sie uns unserem Schicksal überlassen würden? Solch eine barbarische Handlungsweise war durchaus nicht selten auf See. Doch man erbarmte sich unser. Man zog die englische Flagge auf und eine halbe Stunde später befanden wir uns an Bord des Schoners "Jane Guy" aus Liverpool. Kapitän Guy war unterwegs ins Südmeer und zum Stillen Ozean, in der Absicht des Robbenfangs und um Tauschhandel zu betreiben.