Heidi nimmt auf einer Seite zu und auf der anderen ab

  • Autor: Spyri, Johanna

Die Großmama hatte während der ganzen Zeit ihres Aufenthalts jeden Nachmittag, wenn Klara sich hinlegte und Fräulein Rottenmeier, wahrscheinlich der Ruhe bedürftig, geheimnisvoll verschwand, sich einen Augenblick neben Klara hingesetzt; aber schon nach fünf Minuten war sie wieder auf den Füßen und hatte dann immer Heidi auf ihr Zimmer gerufen, mit ihr gesprochen und sie auf allerlei Weise beschäftigt und unterhalten. Die Großmama hatte hübsche kleine Puppen und zeigte Heidi, wie man ihnen Kleider und Schürzchen macht, und ganz nebenbei hatte Heidi das Nähen erlernt und machte den kleinen Frauenzimmern die schönsten Röcke und Mäntelchen, denn die Großmama hatte immer Stoffe von den prächtigsten Farben. Da Heidi jetzt lesen konnte, durfte sie auch immer wieder der Großmama ihre Geschichten vorlesen; das machte ihr die größte Freude, denn je mehr sie ihre Geschichten las, desto lieber wurden sie ihr. Heidi erlebte alles, was die Leute in den Geschichten zu erleben hatten, ganz mit und so hatte sie zu ihnen allen ein sehr nahes Verhältnis und freute sich immer wieder, bei ihnen zu sein. Aber so recht froh sah Heidi nie aus, und ihre lustigen Augen waren nie mehr zu sehen.

Es war die letzte Woche, welche die Großmama in Frankfurt zubringen wollte. Sie hatte eben nach Heidi gerufen, damit sie auf ihr Zimmer komme; es war die Zeit, da Klara schlief. Als Heidi mit ihrem großen Buch unter dem Arm eintrat, winkte ihr die Großmama, dass sie ganz nahe zu ihr herankomme, legte das Buch weg und sagte: "Nun komm, Kind, und sag mir, warum bist du nicht fröhlich? Hast du immer noch denselben Kummer im Herzen?"

"Ja", nickte Heidi.

"Hast du ihn dem lieben Gott geklagt?"

"Ja."

"Und betest du nun alle Tage, dass alles gut werde und er dich froh mache?"

"O nein, ich bete jetzt gar nicht mehr."

"Was sagst du mir, Heidi? Was muss ich hören? Warum betest du denn nicht mehr?"

"Es nützt nichts, der liebe Gott hat nicht zugehört, und ich verstehe es auch", fuhr Heidi in einiger Aufregung fort, "wenn nun am Abend so viele, viele Leute in Frankfurt alle beten, so kann der liebe Gott ja nicht auf alle Acht geben, und mich hat er gewiss gar nicht gehört."

"So, woher weißt du denn das so sicher, Heidi?"

"Ich habe alle Tage das Gleiche gebetet, manche Woche lang, und der liebe Gott hat es nie getan."

"Ja, so geht's nicht zu, Heidi! Das musst du nicht meinen! Siehst du, der liebe Gott ist für uns alle ein guter Vater, der immer weiß, was gut für uns ist, wenn wir es gar nicht wissen. Wenn wir aber nun etwas von ihm haben wollen, das nicht gut für uns ist, so gibt er uns das nicht, sondern etwas viel Besseres, wenn wir weiterhin so recht herzlich zu ihm beten, aber nicht gleich weglaufen und alles Vertrauen zu ihm verlieren. Siehst du, was du nun von ihm erbitten wolltest, das war in diesem Augenblick nicht gut für dich; der liebe Gott hat dich schon gehört, er kann alle Menschen auf einmal anhören und übersehen, siehst du, dafür ist er der liebe Gott und nicht ein Mensch wie du und ich. Und weil er nun wohl wusste, was für dich gut ist, dachte er bei sich: ›Ja, die Heidi soll schon einmal haben, worum sie bittet, aber erst dann, wenn es gut für sie ist, und so wie sie darüber recht froh werden kann. Denn wenn ich jetzt tue, was sie will, und sie merkt nachher, dass es doch besser gewesen wäre, ich hätte ihr ihren Willen nicht getan, dann weint sie nachher und sagt: Hätte mir doch der liebe Gott nur nicht gegeben, wofür ich bat, es ist gar nicht so gut, wie ich gemeint habe.‹ Und während nun der liebe Gott auf dich herunter sah, um zu sehen ob du ihm auch recht vertraust und täglich zu ihm kommst und betest und immer zu ihm aufsiehst, wenn dir etwas fehlt, da bist du weggelaufen ohne alles Vertrauen, hast nie mehr gebetet und hast den lieben Gott ganz vergessen. Aber siehst du, wenn einer es so macht und der liebe Gott hört seine Stimme gar nicht mehr unter den Betenden, so vergisst er ihn auch und lässt ihn gehen, wohin er will. Wenn es ihm dabei aber schlecht geht und er jammert: ›Mir hilft aber auch gar niemand!‹, dann hat keiner Mitleiden mit ihm, sondern jeder sagt zu ihm: ›Du bist ja selbst vom lieben Gott weggelaufen, der dir helfen konnte!‹ Willst du's so haben, Heidi, oder willst du nicht wieder zum lieben Gott gehen und ihn um Verzeihung bitten, dass du so von ihm weggelaufen bist, und dann alle Tage zu ihm beten und ihm vertrauen, dass er alles gut für dich machen wird, so dass du auch wieder ein frohes Herz bekommen kannst?"

Heidi hatte sehr aufmerksam zugehört; jedes Wort der Großmama fiel in ihr Herz, denn zur Großmama hatte das Kind ein unbedingtes Vertrauen.

"Ich will jetzt gleich auf der Stelle gehen und den lieben Gott um Verzeihung bitten, und ich will ihn nie mehr vergessen", sagte Heidi reumütig.

"So ist's recht, Kind, er wird dir auch helfen zur rechten Zeit, sei nur getrost!", ermunterte die Großmama, und Heidi lief sofort in ihr Zimmer hinüber und betete sehr ernsthaft und um Verzeihung bittend zum lieben Gott und bat ihn, dass er sie doch nicht vergessen und wieder auf sie schauen möge.-

Der Tag der Abreise war gekommen, es war für Klara und Heidi ein trauriger Tag; aber die Großmama wusste es so einzurichten, dass es den Kindern gar nicht bewusst wurde, dass es eigentlich ein trauriger Tag sei, sondern es war eher wie ein Festtag, bis die gute Großmama im Wagen davonfuhr. Da trat eine Leere und Stille im Hause ein, als wäre alles vorüber, und solange es noch hell war, saßen Klara und Heidi wie verloren da und wussten gar nicht, wie es nun weiter gehen sollte.

Am folgenden Tag, als die Unterrichtsstunden vorbei und die Zeit da war, da die Kinder gewöhnlich zusammen saßen, trat Heidi mit ihrem Buch unter dem Arm herein und sagte: "Ich will dir nun immer, immer vorlesen; willst du, Klara?"

Der Klara war der Vorschlag recht für einmal, und Heidi machte sich mit Eifer an ihre Tätigkeit. Aber es ging nicht lange, so hörte schon wieder alles auf, denn kaum hatte Heidi eine Geschichte zu lesen begonnen, die von einer sterbenden Großmutter handelte, als Heidi auf einmal laut aufschrie: "Oh, nun ist die Großmutter tot!", und in ein jammerndes Weinen ausbrach, denn alles, was sie las, kam Heidi vor, als geschehe es gerade im Augenblick, und so glaubte Heidi, nun sei die Großmutter auf der Alm gestorben, und sie klagte in immer lauterem Weinen: "Nun ist die Großmutter tot, und ich kann nie mehr zu ihr gehen, und sie hat nicht ein einziges Brötchen mehr bekommen!"

Klara versuchte immerzu Heidi zu erklären, dass es ja nicht die Großmutter auf der Alm sei, sondern eine ganz andere, von der diese Geschichte handle; aber auch, als sie es endlich geschafft hatte, der aufgeregten Heidi diese Verwechslung klar zu machen, konnte diese sich doch nicht beruhigen und weinte immer noch untröstlich weiter, denn der Gedanke war nun stets vorhanden, die Großmutter könne ja sterben, während Heidi so weit weg sei, und der Großvater auch noch, und wenn sie dann nach einiger Zeit wieder heimkomme, so sei alles still und tot auf der Alm und sie stehe ganz allein da und könne niemals mehr die sehen, die ihr lieb waren.

Währenddessen war Fräulein Rottenmeier ins Zimmer getreten und hatte noch Klaras Bemühungen, Heidi über ihren Irrtum aufzuklären, mit angehört. Als das Kind aber immer noch nicht aufhören konnte zu schluchzen, trat sie mit sichtlichen Zeichen der Ungeduld zu den Kindern heran und sagte mit bestimmtem Ton: "Adelheid, nun hast Du genug grundlos geweint! Ich will dir eines sagen: Wenn du noch ein einziges Mal beim Lesen deiner Geschichten so heftig reagierst, so nehme ich dir das Buch weg und das für immer!"

Das machte Eindruck. Heidi wurde ganz weiß vor Schrecken, das Buch war ihr höchster Schatz. Sie trocknete in größter Eile ihre Tränen und schluckte und würgte ihr Schluchzen mit Gewalt hinunter, so dass kein Ton mehr zu hören war. Das Mittel hatte geholfen, Heidi weinte nie mehr, was sie auch lesen mochte; aber manchmal fiel es Heidi so schwer, sich zu überwinden und nicht aufzuschreien, dass Klara öfter ganz erstaunt sagte: "Heidi, du machst so schreckliche Gesichter, wie ich noch nie gesehen habe." Aber das Gesichtverziehen machten keinen Lärm und fiel Fräulein Rottenmeier nicht auf, und wenn Heidi ihre Verzweiflung und Trauer überwunden hatte, kam alles wieder für einige Zeit in Ordnung und war tonlos vorübergegangen. Aber ihren Appetit verlor Heidi so sehr und sah so mager und bleich aus, dass der Sebastian es fast nicht ertragen konnte, das so mit anzusehen und Zeuge sein zu müssen, wie Heidi bei Tisch die schönsten Gerichte an sich vorübergehen ließ und nichts essen wollte. Er flüsterte ihr auch öfter ermunternd zu, wenn er ihr eine Schüssel hinhielt: "Nehmt von dem, Mamsellchen, 's ist vortrefflich. Nicht so! Einen rechten Löffel voll, noch einen!", und dergleichen väterlicher Ratschläge mehr; aber es half nichts: Heidi aß fast gar nicht mehr, und wenn sie sich am Abend ins Bett legte, so hatte sie augenblicklich alles vor Augen, was daheim war, und nur ganz leise weinte Heidi dann vor Sehnsucht in ihr Kissen hinein, so dass es gar niemand hören konnte.

So verging eine lange Zeit. Heidi wusste nie, ob es Sommer oder Winter sei, denn die Mauern und Fenster, die Heidi aus allen Fenstern des Hauses Sesemann erblickte, sahen immer gleich aus, und hinaus kam sie nur, wenn es Klara besonders gut ging und eine Ausfahrt im Wagen mit ihr gemacht werden konnte, die aber immer sehr kurz war, denn Klara konnte nicht vertragen, lang zu fahren. So kam man kaum aus den Mauern und Steinstraßen heraus, sondern kehrte gewöhnlich vorher wieder um und fuhr immerfort durch große, schöne Straßen, wo Häuser und Menschen in Fülle zu sehen waren, aber kein Gras und keine Blumen, keine Tannen und keine Berge, und Heidis Verlangen nach dem Anblick der schönen gewohnten Dinge steigerte sich mit jedem Tage mehr. Heidi brauchte jetzt nur den Namen eines diese Erinnerung weckenden Worte zu lesen, so wurde sie sehr traurig sie musste sich mit aller Gewalt dagegen wehren. So waren Herbst und Winter vergangen, und schon blendete die Sonne wieder so stark auf die weißen Mauern am Hause gegenüber, dass Heidi ahnte, dass der Frühling nahe sei, und Peter wieder mit den Ziegen zur Alm hinaufgehe;, dass die goldenen Cystusröschen oben im Sonnenschein glitzerten und allabendlich ringsum alle Berge im Feuer ständen. Heidi setzte sich in ihrem einsamen Zimmer in eine Ecke und hielt sich mit beiden Händen die Augen zu, damit sie den Sonnenschein drüben an der Mauer nicht sehe; und so saß Heidi regungslos, ihr brennendes Heimweh lautlos niederkämpfend, bis Klara wieder nach ihr rief.