Morgan le Fay

  • Autor: Twain, Mark

Wenn man fahrenden Rittern glauben darf, waren nicht alle Burgen geeignete Orte, um darin Gastfreundschaft zu erleben. Meine Erfahrung sagte mir, dass man ihnen jedoch nicht wirklich glauben sollte. Am besten zog man von ihren Aussagen siebenundneunzig Prozent ab, der Rest war dann Tatsache.

Daher hielt ich es für besser, erst etwas mehr über die Eigentümer der Burg zu erfahren, bevor wir anklopften. Aus der Ferne erkannte ich einen Reiter, der aus Richtung der Festung kam. Welch glücklicher Zufall! Er konnte uns sicherlich Näheres mitteilen.

So war es auch. Der Ritter selbst hieß La Cote Male Taile und er sagte, diese Burg sei die Wohnstätte von Morgan le Fay, der Schwester des Königs Artus und Frau des Königs Uriens. Das Königreich war so klein, dass man in der Mitte stehend einen Stein ins angrenzende Königreich hätte werfen können.

Der Ruf von Frau le Fay war, sagen wir mal, schlecht! Sie war im ganzen Land als Zauberin gefürchtet und ein bis zum Rand mit Bosheit gefüllter Mensch. Mir war also bewusst, dass dies kein angenehmer Aufenthalt werden würde. Die Wärter riefen uns von den Zinnen an und wir wurden nach einer kurzen Unterredung eingelassen.

Ich war sehr neugierig darauf Morgan le Fay zu sehen - sie musste im Bund mit dem Teufel stehen. Zu meiner Überraschung war sie überaus schön. Zuerst dachte ich, mir stünde die Enkeltochter gegenüber, aber dem war nicht so. König Uriens war ebenfalls anwesend - ein freundlich dreinblickender alter Mann.

Die eindeutige Chefin war Morgan. Sie wies uns Sitze an und begann dann mit aller Liebenswürdigkeit und Anmut, mir Fragen zu stellen. Nach wenigen Sekunden war ich überzeugt, dass man dieser Frau Unrecht getan und gemeine Lügen über sie verbreitet habe.

Unterdessen trat ein hübscher junger Page ein, der eine goldene Schale trug. Irgendwie verlor er sein Gleichgewicht und stieß leicht gegen das Knie der Königin. Als würde sie mal eben eine Ratte aufspießen, hieb sie einen Dolch in seinen Leib.

Armes Kind! Er sackte tot auf den Boden! Dem alten König entrang ein mitleidleidiges "Oh", doch unter dem Blick seiner Frau verstummte er augenblicklich. Dann führte sie unsere Unterhaltung weiter, als wäre nichts passiert. Sie plauderte melodischer denn je.

Mitten im Gespräch ließ ich eine schmeichelhafte Bemerkung über König Artus fallen. Für einen Moment hatte ich vergessen, wie diese Frau ihren Bruder hasste. Ihre Mine verfinsterte sich und sie rief nach den Wachen:

"Schafft mir diesen Schurken ins Verlies!"

Es traf mich wie ein kalter Windstoß - ihr Verlies war berüchtigt. Meine Gedanken waren wie gelähmt. Glücklicherweise gab es noch Sandy. Als die Wachen mich ergriffen, flötete sie:

"Wagt Ihr es, ihn ins Gefängnis zu werfen? Er ist Der Boss!"

Welch wunderbarer Einfall. Darauf wäre ich nie gekommen. Die Wirkung auf Madame war geradezu elektrisch. Ihre Miene erhellte sich und sie säuselte etwas von einem kleinen Scherz.

Als Madame sah, dass ich friedlich war, nahm sie zweifellos an, ich habe mich von ihrer Ausrede täuschen lassen. Wir wurden von einem Priester unterbrochen, der zum Gebet rief. Danach aßen wir im großen Bankettsaal, der durch hunderte von Talglampen erleuchtet war. Auf der Galerie eröffnete ein Orchester mit Zimbeln, Hörnern und Harfen mit eher schrägen Tönen die Veranstaltung.

Die Vernichtung der Nahrungsmittel dauerte eineinhalb Stunden und überstieg jede Vorstellung. Der Hauptgang war ein riesiger Eber und mit den Nachspeisen wurde das Trinkgelage begonnen. Um Mitternacht waren alle erschöpft und hatten sich heiser gelacht. Die meisten waren betrunken und andere lagen wie tot unter dem Tisch.

Plötzlich erschien unter dem Türbogen eine alte, weißhaarige Frau, die sich auf eine Krücke stützte. Sie erhob die Gehhilfe, deutete auf die Königin und schrie:

"Gottes Zorn und Fluch kommt über dich, du Frau ohne Erbarmen, die du meinen Enkelsohn ermordet hast."

Alle bekreuzigten sich in schrecklicher Angst, denn ein Fluch war für diese Leute etwas Furchtbares. Die Königin erhob sich und rief:

"Ergreift sie! Auf den Scheiterhaufen mit ihr!"

Es war grausam mitanzusehen. Wie konnte man der Frau helfen? Wieder war es Sandy, die eine Idee hatte. Sie erhob sich und sprach:

"Madame, Der Boss sagt, es solle nicht geschehen. Widerruft den Befehl, sonst wird er Eure Burg zum Verschwinden bringen!"

Zum Kuckuck, was für eine verrückte Verpflichtung. Was, wenn die Königin

Aber meine Befürchtung war umsonst. Die arme Königin war völlig gebrochen und gab nur ein Zeichen, den Befehl nicht auszuführen. Dann sank sie auf ihren Stuhl. Langsam beruhigte sie sich und mit jedem Glas Wein, das sie leerte, setzte auch ihr Gezwitscher wieder ein. Sie war eine meisterliche Rednerin.

Ihre Stimme klang durch die geisterhaft stille Burg. Bis mit einem Mal ein ferner Laut zu hören war. Ein gedämpfter Schrei, der solche Todesqual verströmte, dass es mir eiskalt den Rücken hinablief.

"Was war das?", fragte ich.

"Eine verstockte Seele, das geht schon mehrere Stunden. Ich bin gespannt, wie lange er es noch auf der Streckbank aushält. Kommt, Ihr solltet Euch diesen Anblick nicht entgehen lassen. Wenn er sein Geheimnis nicht preisgibt, so seid Ihr wenigstens dabei, wenn er in Stücke gerissen wird."

Was für seidenglatter Teufelsbraten sie doch war. Jeder Muskel meines Körpers stemmte sich dagegen, doch es blieb mir keine Wahl. Von gepanzerten Wachen mit lodernden Fackeln begleitet, trotteten wir durch hallende Gänge, die nach Moder aus Jahrhunderten rochen.

Morgan zwitscherte in gewohntem Ton weiter und erklärte, dass der Verbrecher von einem anonymen Ankläger beschuldigt worden war, im königlichen Gehege einen Hirsch erlegt zu haben.

Meinen Einwurf, dass ein anonymes Zeugnis eine sehr unsichere Grundlage für eine Verurteilung sei, wischte die Königin mit wenigen Worten vom Tisch. Sie hatte vor, ihn so lange zu foltern, bis er gestand.

"Aber Eure Hoheit, wenn er nun nichts zu gestehen hat?", warf ich ein.

"Das wissen wir, wenn er bis zu seinem Tod, nichts zugegeben hat."

Das war die sture Unvernunft der Menschen in dieser Zeit. Es war nutzlos, mit ihr zu streiten. Argumente machtlos.

Als ich die Folterkammer betrat, bot sich mir ein Bild, das ich nie vergessen werde. Der junge Mann auf der Streckbank lag verzerrt und starr. Alle Farbe war aus seinem Gesicht gewichen. In einer Ecke kauerte eine junge Frau, auf ihrem Schoß schlief ein kleines Kind.

In dem Moment, als wir über die Schwelle traten, drehte der Henker ein wenig fester zu und ein zweistimmiger Schrei entrang dem armen Teufel und seiner Frau. Ich konnte unmöglich zulassen, dass dieses furchtbare Geschehen weiterging. Ich bat die Königin, allein mit dem Gefangenen zu sprechen.

Mit leiser Stimme erinnerte ich sie daran, dass ich König Artus Stellvertreter war und sie gab unerwartet schnell nach. Ich ließ den Mann von dem Gestell nehmen und auf sein Bett legen. Dort erhielt er eine Arznei und ich schickte alle, bis auf die Frau mit dem Kind hinaus.

Sie kroch heran und streichelte ihren Mann liebevoll. Der Anblick brach mir beinahe das Herz. Doch noch viel mehr erstaunte mich das, was ich zu hören bekam.

In der Tat hatte der junge Mann diesen Hirsch erlegt. Seine Familie leidete großen Hunger und er sah keine andere Lösung. Das Gesetz verlangt, dass der Familie eines Verbrechers alles genommen wird. Frau und Waisen werden zu Bettlern. Daher hatte der Mann beschlossen, sein Geheimnis mit in den Tod zu nehmen.

Seine Frau wiederum, die das nicht mit ansehen konnte, wollte schnelle Erlösung für ihren Mann und hatte ihn beschworen, die Tat zu gestehen. Die tiefe Liebe der beiden beschämte mich. Ich bot ihnen an, sie in meine Kolonie aufzunehmen, um dort ein menschenwürdiges Leben zu führen.