Auch ein genarrter Mensch ist ein Mensch

  • Autor: Beecher Stowe, Harriet

In seinem behaglichen Wohnzimmer zog Senator Bird erleichtert die schweren Stiefel aus und schlüpfte in die schönen neuen Hausschuhe, die ihm seine Frau heimlich gearbeitet hatte. Frau Bird - ein wahres Bild der Freude - deckte den Teetisch und ermahnte die muntere Kinderschar, die um sie herum sprang. "Tom, lass die Türklinke los. Mary, zieh' die Katze nicht am Schwanz. Jim, runter von Tisch!" Liebevoll sah sie ihren Mann an: "Du weißt ja, wie sehr wir uns alle freuen, dass du heute Abend einmal zu Hause bist." Senator Bird nickte müde. "Ich dachte, ich komme schnell vorbei und genieße meinen häuslichen Frieden. Ich bin todmüde und mein Kopf zerspringt." Als seine Frau nach der Kampferflasche griff, wehrte er ab. "Nein, lass nur. Keine Medizin. Alles was ich möchte ist eine starke Tasse Tee und ein tüchtiges Abendbrot. Diese Gesetzgeberei ist wirklich ein lästiges Geschäft." Der Senator lächelte, als fände er es so unerfreulich nicht, sich für sein Land zu opfern.

Als es um den Teetisch ein wenig ruhiger wurde, fragte Frau Bird: "Stimmt es, dass ihr in eurem Senat ein Gesetz erlassen habt, wonach es verboten ist, Sklaven, die vorbeiziehen mit Essen und Trinken zu versorgen? Ich habe verschiedene Leute davon sprechen hören und ich kann einfach nicht glauben, dass es in einem christlichen Land ein solches Gesetz geben soll!" Ihr Mann zog erstaunt die Augenbrauen in die Höhe. "Aber Mary, seit wann mischt du dich denn in die hohe Politik ein?" Er lächelte. Aber seine Frau sagte aufgebracht: "Ich mische mich nicht in die hohe Politik ein. Aber wenn dies wahr ist, dann halte ich es für bodenlos grausam und unchristlich. Was ist das für ein Gesetz, das uns verbieten will, armen Obdachlosen zu helfen? Ihnen ein warmes Essen und einen Schlafplatz für die Nacht anzubieten?" "Das Gesetz wurde angenommen, mein Schatz. Es verbietet den Leuten, entsprungenen Sklaven von Kentucky zu helfen. Drüben regen sich alle schrecklich auf, so dass es uns nötig erschien, einzugreifen."

Frau Bird war an sich eine ruhige und schüchterne kleine Frau. Sie hatte sanfte blaue Augen und ihre Haut erinnerte an einen Pfirsich. Ein stämmiger Hofhund konnte sie mühelos in die Flucht schlagen und ihre gesamte Welt drehte sich um ihren Mann und die Kinder. Nur selten erteilte sie Befehle oder drohte, eher versuchte sie zu überreden und anzuspornen. Aber Grausamkeiten jeglicher Art versetzten sie in Wut. Sie wurde von einer Leidenschaft ergriffen, die in keinem Verhältnis zu ihrem schüchternen Wesen stand. Als sie einmal Zeugin wurde, wie ihre Jungs versuchten, zusammen mit den bösen Nachbarskindern ein Kätzchen zu Tode zu steinigen, verteilte sie eine derartige Tracht Prügel, dass ihre Söhne heute noch davon sprachen. Deshalb sah Frau Bird ihren Mann jetzt mit flammenden Augen an. "Sag mir, John; hältst du ein solches Gesetz für christlich?" "Ach, Mary. Ich denke: Ja!" Seine Frau zuckte zurück. "Das hätte ich nicht von dir gedacht. Du hast also auch mit ja gestimmt? Du solltest dich was schämen. Es ein schreckliches und unchristliches Gesetz. Bei der ersten Gelegenheit werde ich es brechen, nur dass du es weißt! Und hoffentlich bietet sich bald eine. Wie weit ist es mit uns gekommen, wenn eine Frau einem armen Flüchtling nicht einmal mehr eine warme Mahlzeit reichen darf?" Ihr Mann hob abwehrend die Hände. "Mary, es geht hier doch nicht um unsere Privatgefühle. Es geht um Allgemeininteressen." Seine Frau fuhr auf. "Ach, John. Ich verstehe nichts von Politik, aber meine Bibel kann ich sehr wohl lesen! Man soll die Hungrigen speisen, die Nackten kleiden und die Traurigen trösten. Soviel ist sicher. Und ich will dieser Bibel folgen." "Aber wenn der Allgemeinheit daraus ein großer Schaden erwächst.." Frau Bird unterbrach ihren Mann. "Ach, Unsinn. Und wenn du die ganze Nacht redest. Könntest du einem armen entflohenen Wesen die Tür weisen, wenn es bei uns anklopft?"

Dies zu fragen war selbstverständlich sehr boshaft, denn Frau Bird wusste, dass ihr Mann ein besonders humaner und nachgiebiger Mensch war. Jemandem, der in Not geraten war, abzuweisen, würde ihm gewiss mehr als schwer fallen. So trieb Frau Bird ihren Mann gewissenlos in Enge und triumphierte dann: "Ich möchte dich dabei sehen, John, wie du eine Frau im Schneesturm vor unsere Tür jagst oder sie gar ins Gefängnis steckst. Das würde dir gut zu Gesicht stehen! Ich weiß genau, dass du das Ganze genauso wenig für richtig hältst wie ich."

In diesem Moment steckte der alte Cudjoe, das schwarze Faktotum, seinen Kopf zur Tür herein. Er bat Frau Bird in die Küche. Kurz darauf hörte man Frau Bird höchst dringlich nach ihrem Gatten rufen. Senator Bird eilte nun seinerseits in die Küche. Dort bot sich ein Bild größten Jammers dar. Auf zwei Stühle gebettet lag ein schwarzes, junges Weib in tödlicher Ohnmacht. Ihre Kleider waren zerrissen und vereist, sie trug nur einen Schuh und der andere Fuß blutete. Ihr Gesicht zeigte eine leidvolle Schönheit und niemand konnte sich eines heißen Mitleides erwehren. Er sah schweigend dabei zu, wie seine Frau und das einzige schwarze Dienstmädchen, die alte Tante Dinah, Wiederbelebungsversuche unternahmen. Der alte Cudjoe hatte einen kleinen Knaben auf dem Schoß, der zu der ohnmächtigen Frau zu gehören schien.

"Das arme Geschöpf!", seufzte Frau Bird, als das Mädchen plötzlich die dunklen Augen aufschlug und rief: "Wo ist mein Harry? Haben sie ihn geholt?" Alle beruhigten die aufgeregte Frau, die ihren Sohn an sich presste und Frau Bird anflehte: "Oh, Madam. Erlauben Sie nicht, dass man ihn mir wegnimmt." Sie weinte. "Hier tut euch niemand etwas. Ihr seid in Sicherheit.", beruhigte Frau Bird sie. Sie richtete für die Frau und das Kind ein Lager am warmen Feuer und es dauerte nicht lange, da waren beide eingeschlafen, erschöpft von der schrecklichen Anstrengung, das Eis zu überqueren.

Frau Bird und der Senator waren in das Wohnzimmer zurückgekehrt. "Ich möchte wissen, wer sie ist und woher sie kommt.", sagte Frau Bird, ohne auf das unterbrochene Gespräch zurück zu kommen. Der Senator schwieg und sagte dann: "Könnte sie nicht ein Kleid von dir tragen? Wenn man es am Saum ein wenig auslassen würde, müsste es gehen, auch wenn sie größer ist als du. Und du hast doch auch noch den alten Plüschmantel. Erinnerst du dich?" Frau Bird schwieg, lächelte aber warm, als sie antwortet: "Wir wollen sehen." In diesem Augenblick trat Dinah ein und berichtete, dass die Frau aufgewacht sei. Frau Bird und der Senator eilten wieder in die Küche. Die fremde Frau saß auf ihrem Lager. "Ich kam von Kentucky.", sagte sie mit zitternder Stimme. "Ich kam über das Eis." "Über das Eis?", fragte Frau Bird voller Entsetzen. "Es ist nicht fest." Die Frau nickte. "Ich hätte nicht gedacht, dass ich es schaffe. Aber Gott stand mir bei. Und sonst wäre ich eben untergegangen." Frau Bird wartete einen Moment, dann fragte sie: "Wart ihr eine Sklavin?" "Ja." "Und war euer Herr nicht gut zu euch?" "Doch, er war gut zu mir. Aber, Madam, habt ihr schon einmal ein Kind verloren?"

Frau Bird zuckte zurück. Zu frisch war die Wunde, an die das Mädchen mit seiner Frage gestoßen war. "Wir haben auch einen Kleinen verloren.", gab sie leise zu. Das schwarze Mädchen nickte. "Dann werdet ihr mich verstehen. Mein Herr geriet in Not. Er musste einige von uns verkaufen und mein Harry gehörte dazu. Wissen Sie, ich habe zuvor zwei Kinder verloren. Ihre Gräber musste ich zurücklassen. Nur Harry war mir geblieben und ich trennte mich nie von ihm. Nun sollte er fort. Das konnte ich nicht aushalten und lief davon. Aber ich wurde verfolgt. Der Händler und einige Gutsleute folgten mir. Ich musste über den Fluss. Ich musste einfach." Die Frau sprach leise und ohne Tränen. Sie hatte alle Tränen geweint. Aber in der Küche waren alle ergriffen und wischten sich die Tränen aus den Augen. Nur der Senator, der als Staatsmann keine Tränen vergießen konnte, stand am Fenster und putzte unaufhörlich seine Brille.

"Hattet ihr einen Mann?" "Ja, aber der gehörte einem anderen Herrn. Dieser behandelte ihn schlecht. Auch er sollte in den Süden verkauft werden. Wahrscheinlich sehe ich ihn nie wieder. Ich will nach Kanada, wenn ich nur wüsste, wo das liegt. Ist es noch weit?" Der Senator seufzte und seine Frau antwortete: "Es ist viel weiter, als ihr euch vorstellen könnt. Dinah soll ein Bett für die Nacht richten. Wir wollen morgen sehen, was wir tun können. Ruht euch aus und fürchtet euch nicht." Damit verließen Frau Bird und der Senator die Küche wieder. Im Wohnzimmer angekommen, sagte der Senator: "Mary, sie kann nicht hier bleiben. Früher oder später wird man auch hier nach ihr suchen und irgendwann wird der kleine Junge die Nase aus dem Haus stecken. Das können wir gar nicht verhindern. Ich habe einen Plan." Er erhob sich und begann, seine Stiefel wieder anzuziehen. "Es ist wirklich eine peinliche Angelegenheit. Aber ich muss ihr helfen - hol's der Henker!" Frau Bird schwieg und mischte sich nicht in die Gedankengänge ihres Mannes ein. "Ich weiß schon, wie ich es mache. Ich denke an meinen alten Kunden van Trompe. Du weißt schon, der in Kentucky seine Sklaven alle freiließ und sich dann hier am Creek eine Farm kaufte. Die Farm liegt mitten im Wald. Dort wären das Mädchen und sein Sohn doch gut aufgehoben. Ich muss allerdings selbst fahren, denn die Fahrt durch den Creek ist gefährlich. Ich kenne die Strecke und Cudjoe nicht. Es hilft also nichts. Er soll um Mitternacht so leise wie möglich anspannen. Ich bringe sie zu van Trompe und erreiche dann zwischen drei und vier Uhr früh die Postkutsche nach Columbus. So können wir die Sache vertuschen und ich bin frühmorgens schon wieder im Amt. Nach allem, was ich getan und gesagt habe, komme ich mir zwar ein bisschen komisch vor, aber ich muss der armen Frau helfen. Es geht nicht anders."

Frau Bird lächelte ihren Mann an. "Dein Herz ist einfach mal wieder besser als dein Kopf, John. Ich kenne dich besser, als du dich selbst kennst und deshalb habe ich dich auch so lieb." Der Senator sah seine Frau liebevoll an und dachte, dass er doch ein ziemlich gescheiter Bursche sein müsse, wenn er eine so hübsche und herzliche Frau für sich hatte gewinnen können. Dann sagte er: "Mary, ich weiß nicht, wie du darüber denkst, aber in der Schublade sind noch die Sachen von unserem kleinen Henry." Damit drehte er sich um und verließ das Zimmer.

Frau Bird trat im Schlafzimmer an die Kommode, in der sie die Sachen des kleinen Henrys aufbewahrte. Einige Tränen tropften in die Schublade, als sie sich an ihren kleinen Sonnenschein erinnerte. Dann raffte sie sich auf und suchte die praktischsten und einfachsten Sachen aus. Danach entnahm sie ihrem Kleiderschrank zwei praktische Kleider und machte sich sofort daran, die Säume auszulassen. Schließlich packte sie alles in einen einfachen kleinen Koffer. Als dies erledigt war, ging sie, um das Mädchen und seinen Sohne zu wecken. Es dauerte nicht lange, da erschien Elisa in den geborgten Sachen, sauber und trocken. Frau Bird schob Elisa eilig in den wartenden Wagen. Elisa lehnte sich zum Fenster hinaus und streckte die Hand nach ihrer Wohltäterin aus. Eine Hand, genauso zart und schön wie die, die ihrer begegnete. Sie sah Frau Bird mit ihren großen dunklen Augen an. Sprechen konnte sie nicht. Schließlich deutete sie stumm mit einem unvergesslichen Blick nach oben und sank auf die Bank in der Kutsche zurück. Der Wagen fuhr an. In welcher Lage befand sich nun unser patriotischer Senator, der die ganze Woche hindurch strengere Maßnahmen gegen flüchtige Sklaven und ihre Helfershelfer erlassen hatte!

Der Weg zu der Farm war schwierig und sehr holperig. Es war tief in der Nacht, als sie endlich Schlamm bespritzt vor der Tür des Farmhauses anhielten. Es kostete einige Mühe, die schlafenden Besitzer heraus zu klopfen, aber schließlich erschien John van Trompe. Er war sechs Fuß hoch, hatte struppiges, sandfarbenes Haar und trug ein rotes Flanellhemd. Ein ebenso struppiger Bart verlieh ihm ein wildes Aussehen. Der Senator erklärte ausführlich sein Ansinnen.

John van Trompe hatte selber einmal Sklaven besessen. Aber eines Tages konnte er es nicht mehr ertragen. Er ging nach Ohio und kaufte fruchtbares Land. Dann schrieb er für alle seine Leute Freibriefe und siedelte sie auf dem Land in Ohio an. Er selber zog sich auf eine kleine Farm am Creek zurück. Als der Senator ihn nun fragte, ob er eine arme Frau und ihr Kind vor dem Sklavenjäger beschütze wolle, nickte er mit dem Kopf. "Hab' keine Angst mehr.", sagte er zu Elisa. "Da mag kommen, wer will. Ich bin ein guter Schütze und außerdem habe ich sieben Söhne. Da soll nur einer kommen und dir etwas antun wollen." Elisa lächelte ihn dankbar an und schleppte sich mit dem schlafenden Harry die Treppe hinauf zu der Kammer, die ihr der fremde Mann angewiesen hatte. Sie war todmüde und entsetzlich erschöpft. Als sie fort war, erzählte der Senator in knappen Worten ihre Geschichte und John van Trompe hörte betroffen zu. Als er dem Senator anbot, bis zum Morgen zu bleiben, lehnte dieser ab. "Vielen Dank, aber ich muss weiter. Ich muss die Postkutsche nach Columbus erreichen." Bevor er in die Kutsche stieg, drückte er van Trompe eine Zehndollarnote in die Hand. "Das ist für Sie.", sagte er kurz. "Danke.", gab van Trompe ebenso kurz zurück. Die beiden Männer schüttelten sich die Hand und gingen auseinander.