Das Gespenst von Canterville

  • Autor: Wilde, Oskar

1. Schloss Canterville wird gekauft
2. Familie Otis lernt ihren Geist kennen
3. Das Otis-Gespenst
4. Das Gespenst von Canterville hat's schwer
5. Virginia und das Gespenst
6. Wo ist Virginia?
7. Die letzte Ruhe

 

 

1. Schloss Canterville wird gekauft

Mr. Hiram B. Otis, der amerikanische Gesandte, kaufte tatsächlich Schloss Canterville, obwohl ihm jeder gesagt hatte, dass dieses Schloss ohne Zweifel verwünscht sei. Sogar Lord Canterville selbst hatte sich verpflichtet gefühlt, den Amerikaner auf diesen Umstand hinzuweisen, bevor sie den Verkauf abschlossen.

"Wir haben selbst nicht mehr in dem Schloss gewohnt, seit die Herzoginmutter von Bolton - meine Großtante - vor Schreck in Krämpfe verfiel, von denen sie sich nie wieder erholte.", sagte Lord Canterville ehrlich. "Ein Skelett legte ihr beide Hände auf die Schultern, als sie sich gerade ankleidete. Ich fühle mich verpflichtet, Ihnen die ganze Wahrheit zu sagen, Mr. Otis. Der Geist wurde von verschiedenen Mitgliedern der Familie Canterville gesehen. Auch unser Pfarrer Hochwürden August Dampier wurde Zeuge von seiner Anwesenheit. Nach dem Malheur mit der Herzogin wollte keiner der Dienstboten bei uns bleiben und Lady Canterville fand kaum noch Schlaf wegen der unheimlichen Geräusche aus dem Korridor und der Bibliothek."

"Mylord.", begann der Gesandte. "Mylord, ich will das Schloss mit der gesamten Einrichtung und noch den Geist dazu kaufen. Ich komme aus einem Land, in dem man meint, alles mit Geld bezahlen zu können. Wir machen Ihnen die besten Tenöre und Primadonnen abspenstig. Gäbe es wirklich noch ein Gespenst in Europa, so hätten wir es in kürzester Zeit drüben und würden es in einem unserer Museen oder auf dem Jahrmarkt ausstellen."

Lord Canterville lächelte. "Mr. Otis, dieses Gespenst existiert wirklich, selbst wenn es sich bis jetzt Ihren Impresarios gegenüber ablehnend verhalten hat. Seit 1584, also seit drei Jahrhunderten, ist es hier wohlbekannt. Es erscheint regelmäßig, bevor ein Mitglied unserer Familie stirbt." Der amerikanische Gesandte lachte. "Nun, was das anbetrifft, so macht jeder Hausarzt es nicht anders. Ich bitte Sie, Lord Canterville. Es gibt doch gar keine Gespenster und die Gesetze der Natur lassen sich auch nicht zuliebe der britischen Aristokratie aufheben."

Lord Canterville, der die letzte Bemerkung nicht ganz verstanden hatte, schüttelte den Kopf. "Sie sind mir entschieden zu aufgeklärt in Amerika. Und wenn das Gespenst im Haus Sie nicht stört, dann ist ja alles in Ordnung. Vergessen Sie aber nicht, dass ich Sie gewarnt habe!"

Nur wenige Wochen später war der Kauf abgeschlossen und die Familie Otis bezog das Schloss Canterville. Mrs. Otis, die als Miss Lucretia R. Tappan, W. 53-ste Straße, New York, als eine Schönheit gegolten hatte, war jetzt eine hübsche Frau in mittleren Jahren. Sie hatte schöne Augen und ein tadelloses Profil. Sie besaß eine kräftige Konstitution und einen beachtlichen Unternehmungsgeist. Der älteste Sohn der Familie, den die Eltern in einem Anfall von Patriotismus Washington genannt hatten, war ein hübscher, blonder junger Mann. Er mochte seinen Namen nicht, war aber durchaus für den diplomatischen Dienst geeignet, da er im Newport Casino drei Winter lang die Françaisen kommandiert hatte und sogar in London als vorzüglicher Tänzer galt. Seine einzigen Schwächen waren Gardenien und Adelskalender. Im Übrigen war er außerordentlich vernünftig.

Miss Virginia E. Otis war ein entzückendes Mädchen von fünfzehn Jahren. Sie war graziös und lieblich wie ein junges Reh und ihre Augen blickten klar und blau in die Welt. Sie saß brillant zu Pferde und hatte bei einem Wettrennen im Park das Herz des jungen Herzogs von Cheshire im Sturm erobert. Er hielt sofort um ihre Hand an und wurde noch am selben Abend unter Strömen von Tränen nach Eton in seine Schule zurück geschickt. Nach Virginia kamen noch die Zwillinge, reizende Jungen und die einzig wirklichen Republikaner der Familie, wenn man vom Hausherren absah.

Canterville liegt acht Meilen von der nächsten Bahnstation - Ascot - entfernt. Mr. Otis hatte also den Wagen bestellt, der sie abholen sollte und die Familie war in bester Stimmung. Es war ein herrlicher Juli-Abend und die Luft war voll vom frischen Duft der Tannenwälder. Aus der Ferne hörte man ab und zu die süße Stimme der Holztaube und ein bunter Fasan raschelte durch die hohen Farnkräuter. Von den hohen Buchen blickten Eichhörnchen den Amerikanern neugierig nach und wilde Kaninchen ergriffen die Flucht, als der Wagen vorbeirollte. Als man in den Park von Schloss Canterville einbog, verdunkelte sich der Himmel plötzlich; die Luft schien still zu stehen und ein großer Schwarm Krähen flog lautlos über die Familie hinweg. Ehe sie das Haus erreichten fielen die ersten dicken, schweren Tropfen.

Eine alte Frau in schwarzer Seide und mit weißer Haube und Schürze stand auf der Freitreppe. Die Wirtschafterin, Mrs. Umney, empfing die Familie mit einem tiefen Knicks und sagte in einer eigentümlich altmodischen Art: "Ich heiße Sie auf Schloss Canterville willkommen." Alle folgten ihr ins Haus. Sie gingen durch die schöne Tudorhalle in die Bibliothek, ein langes, niedriges Zimmer mit Täfelung von schwarzem Eichenholz und einem großen bunten Glasfenster. Der Tee war gerichtet und die Familie sah sich um, während Mrs. Umney sie bediente.

Da bemerkte Mrs. Otis plötzlich einen großen roten Fleck auf dem Fußboden direkt vor dem Kamin. In völliger Unkenntnis von dessen Bedeutung sagte sie zu Mrs. Umney: "Ich fürchte, da hat man aus Unvorsichtigkeit etwas verschüttet." Mrs. Umney sah Mrs. Otis an und antwortete: "Ja, gnädige Frau. Hier ist Blut vergossen worden." "Wie grässlich. Ich wünsche keine Blutflecke in meinem Wohnzimmer. Dieser Fleck muss sofort entfernt werden!", rief Mrs. Otis. Mrs. Umney lächelte seltsam und sagte: "Es ist das Blut von Lady Eleanore de Canterville. Sie wurde hier an dieser Stelle von Ihrem Gemahl, Sir Simon de Canterville, im Jahre 1575 ermordet. Sir Simon überlebte sie um neun Jahre. Dann verschwand er unter geheimnisvollen Umständen. Seine Leiche wurde nie gefunden. Aber sein schuldbeladener Geist geht noch jetzt hier in diesem Schlosse um. Der Blutfleck wurde schon oft von Reisenden bewundert. Er kann durch nichts entfernt werden."

Jetzt schaltete sich Washington Otis ein. "Das ist doch Unsinn! Pinkertons Universal-Fleckenreiniger wird ihn sofort entfernen." Und bevor die erschrockene Haushälterin ihn zurückhalten konnte, lag er schon auf den Knien und scheuerte die Stelle am Boden mit einem kleinen Stumpf von etwas, das schwarzer Bartwichse ähnlich sah. Nur wenige Augenblicke später war keine Spur mehr von dem Fleck zu sehen.

"Ich wusste doch, dass Pinkerton das schafft!", rief der junge Mann triumphierend und sah sich nach seiner Familie um. In diesem Moment erhellte ein greller Blitz das düstere Zimmer und ein tosender Donnerschlag ließ sie alle in die Höhe fahren. Mrs. Umney fiel in Ohnmacht.

"Das Klima ist hier wirklich schauderhaft.", bemerkte Mr. Otis ruhig und steckte sich eine neue Zigarette an. "Wahrscheinlich ist dieses alte Land so überbevölkert, dass sie nicht mehr genug anständiges Wetter für jeden haben. Meiner Ansicht nach ist Auswanderung das einzig Richtige für England." Mrs. Otis betrachtete Mrs. Umney und sagte: "Mein lieber Hiram, was machen wir bloß mit einer Frau, die ohnmächtig wird?" Der Gesandte überlegte nicht lange. "Rechne es ihr an, als hätte sie etwas zerschlagen. Dann wird es nicht mehr vorkommen." Und tatsächlich, Mrs. Umney kam nach wenigen Augenblicken wieder zu sich, war allerdings noch sehr erschreckt und warnte Mr. Otis, dass dem Haus ein Unglück bevorstände. "Ich habe schreckliche Dinge gesehen, die jedem Christenmenschen die Haare zu Berge lassen würden. In mancher Nacht habe ich kein Auge zugetan aus Angst vor dem Schrecklichen, das hier geschehen ist." Mit schreckgeweiteten Augen flehte die alte Haushälterin noch den Segen der Vorsehung auf ihre neue Herrschaft herab und schlich dann zitternd in ihre Stube.

 

 

 

2. Familie Otis lernt ihren Geist kennen

Der Sturm wütete die ganze Nacht hindurch, aber sonst ereignete sich nichts von besonderer Bedeutung. Als die Familie zum Frühstück erschien, fanden sie den grässlichen Blutfleck wieder unverändert auf dem Fußboden vor. "Ich glaube nicht, dass die Schuld bei Pinkertons Fleckenreiniger liegt.", sagte Washington Otis. "Ich habe ihn stets mit Erfolg angewendet. Also muss es das Gespenst sein." Und damit rieb er zum zweiten Male den Fleck weg, aber am nächsten Morgen war er wieder da. Ebenso am dritten Morgen, obwohl Mr. Otis die Bibliothek verschlossen und den Schlüssel in seine Tasche gesteckt hatte.

Jetzt interessierte sich die ganze Familie für die Sache. Mr. Otis begann zu glauben, dass es vielleicht zu skeptisch von ihm gewesen war, die Existenz aller Gespenster zu leugnen. Mrs. Otis wollte der Psychologischen Gesellschaft beitreten und Washington schrieb einen langen Brief an die Herren Myers & Podmore über die Unvertilgbarkeit blutiger Flecken im Zusammenhang mit Verbrechen.

In der nächsten Nacht wurde jeder Zweifel an der Existenz von Gespenstern für immer endgültig beseitigt. Der Tag war heiß und sonnig gewesen. Die Familie fuhr in der Kühle des Abends spazieren und kehrte erst gegen neun zurück, um das Abendessen einzunehmen. Die Unterhaltung berührte in keinster Weise Gespenster. Es war also nicht einmal die Grundbedingung jener erwartungsvollen Aufnahmefähigkeit gegeben, die oft dem Erscheinen solcher Phänomene vorangeht. Die Gesprächsthemen waren solche, wie sie unter Amerikanern der besseren Klasse üblich sind. Man sprach beispielsweise über die ungeheure Überlegenheit von Miss Fanny Davenport über Sarah Bernhard als Schauspielerin und über die Schwierigkeit, Grünkern- oder Buchweizenkuchen selbst in den besten englischen Häusern zu bekommen. Auch die hohe Bedeutung von Boston in Hinsicht auf die Entwicklung der Weltseele, die Vorzüge des Freigepäcksystems beim Zugfahren und die angenehme Weichheit des New Yorker Akzents im Gegensatz zum schleppenden Londoner Dialekt wurde Gegenstand der Unterhaltung. Das Übernatürliche wurde nicht erwähnt und auch über Sir Simon wurde nicht gesprochen. Man trennte sich um elf Uhr und eine halbe Stunde später war alles dunkel.

Um Punkt ein Uhr erwachte Mr. Otis von einem Geräusch auf dem Korridor vor seiner Tür. Es klang wie Rasseln von Metall und schien jeden Augenblick näher zu kommen. Der Gesandte stand sofort auf und zündete ein Licht an. Er war ganz ruhig und fühlte sich den Puls, der nicht im Geringsten fieberhaft war. Das sonderbare Geräusch war immer noch zu hören, dazu deutlich Schritte. Mr. Otis zog seine Pantoffeln an, nahm eine längliche Phiole von seinem Nachttisch und öffnete die Tür.

Sich direkt gegenüber sah er im blassen Mondenschein einen alten Mann von ganz schrecklichem Aussehen. Die Augen des Alten waren rot wie brennende Kohlen, sein langes graues Haar fiel in wirren Locken über seine Schultern und seine altmodische Kleidung war schmutzig und zerschlissen. Schwere, rostige Fesseln hingen ihm an Füßen und Händen.

Mr. Otis holte tief Luft und sagte dann: "Mein lieber Herr, ich muss Sie bitten Ihre Ketten ein wenig zu schmieren. Hier habe ich eine kleine Flasche von Tammanys Rising Sun Lubricator. Ein einmaliger Gebrauch genügt. Ich werde diese Flasche hier neben das Licht stellen. Mit Vergnügen besorge ich Ihnen mehr davon." Er stellte das Fläschchen auf einen kleinen Marmortisch, schloss die Tür und legte sich wieder zu Bett.

Für einen Augenblick war das Gespenst von Canterville starr vor Empörung, dann schleuderte es die Flasche wütend auf den Boden und floh den Korridor hinab. Dabei stieß es ein dumpfes Stöhnen aus und verbreitete gespenstisch grünes Licht. Es hatte gerade die große Eichentreppe erreicht, als sich eine Tür öffnete und zwei kleine weißgekleidete Gestalten erschienen. Ein großes Kissen sauste am Kopf des Gespenstes vorbei. Da war keine Zeit mehr zu verlieren. Hastig nutzte es die vierte Dimension als Mittel zur Flucht und verschwand durch die Täfelung. Im Haus wurde es wieder ruhig.

Als das Gespenst sein kleines geheimes Zimmer im linken Schlossflügel erreicht hatte, lehnte es sich erschöpft an einen Mondstrahl. Mühsam kam es wieder zu Atem und versuchte sich seine Lage klar zu machen. Niemals war es in seiner glänzenden und ununterbrochenen Laufbahn von dreihundert Jahren so sehr beleidigt worden. Wehmütig dachte es an die Herzoginmutter, die bei seinem Anblick Krämpfe bekommen hatte und an die vier Hausmädchen, die hysterisch wurden als es sie bloß durch die Vorhänge eines der unbewohnten Schlafzimmer anlächelte. Es dachte auch an den Pfarrer, dessen Licht es eines Nachts ausgeblasen hatte und der seitdem von einer Nervenstörung geplagt wurde. Und es dachte an die alte Madame de Tremouillac, die eines Morgens ein Skelett in ihrem Zimmer sitzen sah, das ihr Tagebuch las. Daraufhin hatte sie mit einer Gehirnentzündung sechs Wochen lang im Bett gelegen. Als sie wieder gesund war, wurde sie eine treue Anhängerin der Kirche und brach jede Verbindung zu dem bekannten Freigeist Monsieur de Voltaire ab. Schließlich erinnerte es sich auch an die entsetzliche Nacht, als der böse Lord Canterville in seinem Ankleidezimmer halb erstickt gefunden wurde. Er hatte einen Karobuben im Hals und ehe er starb beichtete er noch, dass er Charles James Fox mit eben dieser Karte bei Crockfords um fünfzigtausend Pfund Sterling betrogen hatte und dass ihm nun das Gespenst die Karte in den Hals gesteckt habe.

Alle seine großen Taten kamen ihm in den Sinn; von dem Kammerdiener, der sich in der Kirche erschoss, weil er eine grüne Hand hatte an das Fenster klopfen sehen bis hin zu der schönen Lady Stutfield, die immer ein schwarzes Samtband um den Hals tragen musste, um die Spur von fünf eingebrannten Fingern auf ihrer Haut zu verdecken. Schließlich hatte sich die Lady im Karpfenteich ertränkt. Wie ein Künstler versetzte sich das Gespenst im Geiste wieder in seine besten Rollen und lächelte bitter, als es an sein letztes Auftreten als "Roter Ruben oder das erwürgte Kind" dachte, oder an sein Debut als "Riese Gibeon, der Blutsauger von Bexley Moor". Es erinnerte sich auch an die Furore, die es gemacht hatte, als es an einem Juli-Abend mit seinen eigenen Knochen Kegel spielte. Und nach alledem kommen solche elenden, modernen Amerikaner daher, bieten ihm Rising-Sun-Öl an und werfen ihm Kissen an den Kopf! Es war kaum auszuhalten. Noch nie in der gesamten Weltgeschichte war ein Gespenst so schlecht behandelt worden. Das Gespenst schwor Rache und blieb bis zum Morgengrauen in tiefe Gedanken versunken.

 

 

 

3. Das Otis-Gespenst

Beim Frühstück am nächsten Morgen wurde das Gespenst natürlich des Längeren besprochen. Der Gesandte war verständlicherweise etwas ungehalten, dass sein Geschenk so missachtet worden war. Er rügte die Zwillinge dafür, dass sie das Gespenst mit Kissen beworfen hatten, was die beiden mit fröhlichem Gelächter quittierten. "Wenn das Gespenst den Sun Rising Lubricator nicht verwenden möchte, dann müssen wir ihm wohl die Ketten wegnehmen. Bei dem Lärm auf dem Korridor kann man unmöglich schlafen." Damit beendet Mr. Otis das Gespräch am Frühstückstisch.

Das Gespenst jedoch zeigte sich eine ganze Woche lang nicht. Nur der Blutfleck wurde beständig erneuert. Dieser Umstand war sehr seltsam, da Türen und Fenster stets fest verschlossen und verriegelt waren. Darüber hinaus wechselte der Fleck beständig seine Farbe. Zuweilen war er mattrot, dann wieder leuchtend oder tiefpurpurn und einmal fand die Familie den Fleck sogar in hellem Smaragdgrün vor! Diese koloristischen Metamorphosen amüsierten natürlich alle sehr, so dass am Abend Wetten darüber abgeschlossen wurden. Nur Virginia ging auf keinen Scherz ein und beteiligte sich auch nicht an den Wetten. Beim Anblick des Blutflecks war sie jedes Mal sehr betrübt und als der Fleck Smaragdgrün schillerte, brach sie in Tränen aus.

Am Sonntagabend erschien das Gespenst zum zweiten Mal. Alle waren zu Bett gegangen, als plötzlich ein furchtbares Getöse in der Halle alle aufschreckte. Sie stürzten hinunter und fanden eine umgestürzte alte Rüstung auf dem Steinfußboden liegen. Das Gespenst von Canterville saß in einem hochlehnigen Armstuhl und rieb sich mit verzweifeltem Schmerz seine Knie. Die Zwillinge hatten ihre Flitzebogen mitgebracht und schossen zweimal auf das Gespenst. Da sie lange an ihrem Schreiblehrer geübt hatten, trafen sie auch zielsicher. Mr. Otis richtete seinen Revolver auf den Geist und rief ihm nach kalifornischer Etikette zu: "Hände hoch!" Da fuhr der Geist mit wildem Wutgeheul in die Höhe und mitten durch die Familie hindurch wie Rauch. Er blies dabei Washingtons Kerzenlicht aus und ließ sie alle in völliger Dunkelheit zurück.

Oben an der Treppe hatte sich das Gespenst ein wenig erholt und beschloss, in sein berühmtes diabolisches Gelächter auszubrechen, das sich bei mehr als einer Gelegenheit als nützlich erwiesen hatte. Lord Rakers Perücke soll es in einer Nacht gebleicht und drei der französischen Gouvernanten der Lady Canterville so entsetzt haben, dass sie vor der Zeit und ohne Kündigung ihre Stellung aufgaben. So lachte er denn sein fürchterlichstes Lachen, bis das alte hochgewölbte Dach davon gellte. Kaum war das letzte grausige Echo verklungen, erschien Mrs. Otis auf der Bildfläche. "Ich fürchte, Ihnen ist nicht ganz wohl. Ich bringe Ihnen daher eine Flasche von Dr. Dobells Tropfen. Wenn es Verdauungsbeschwerden sind, so wird Ihnen das Mittel vorzüglich helfen."

Der Geist betrachtete Mrs. Otis zornrot und wollte sich auf der Stelle in einen großen schwarzen Hund verwandeln. Dieses Kunststück hatte ihm großen Ruhm eingebracht, beispielsweise die Geistesgestörtheit von Lord Cantervilles Onkel, doch bevor der Geist sich verwandeln konnte, hörte er Schritte und sah von seinem Plan ab. Er begnügte sich damit, phosphorizierend zu werden und mit einem dumpfen Kirchhofswimmern zu verschwinden. Als er in seinem Zimmer angekommen war, brach er völlig zusammen. Die Rohheit der Zwillinge und die Tropfen von Mrs. Otis waren eine Sache, viel schlimmer aber war die Tatsache, dass er die alte Rüstung nicht mehr hatte tragen können. Er hatte gehofft, ein Gespenst in voller Rüstung würde auch diese modernen Amerikaner erschüttern. Noch dazu war es doch seine eigene Rüstung, die er mit großem Erfolg auf dem Turnier in Kenilworth getragen hatte. Aber als er sie heute hatte anlegen wollen, hatte ihn das Gewicht der Rüstung so erdrückt, dass er darunter zu Boden gestürzt war, sich beide Knie aufgeschlagen und die Hand heftig verstaucht hatte.

Mehrere Tage nach diesem Vorfall fühlte sich das Gespenst von Canterville ernsthaft krank. Es verließ das Zimmer nur, um den Blutfleck in Ordnung zu halten. Da es sich so sehr schonte, erholte es sich schließlich wieder und wagte einen neuen Versuch, den Gesandten und seine Familie zu erschrecken. Dazu wählte es Freitag, den 13. August und beschäftigte sich den ganzen Tag damit, seine Kleidervorräte zu prüfen. Schließlich entschied es sich für einen großen weichen Hut mit roter Feder, ein Laken mit Rüschen an Hals und Armen sowie einen rostigen Dolch. Gegen Abend kam ein heftiger Regenschauer und der Sturm rüttelte an den Türen und Fenstern des Schlosses. Dieses Wetter liebte das Gespenst.

Sein Plan sah so aus: Es wollte in Washingtons Zimmer schleichen, am Fußende des Bettes auftauchen und wirres Zeug reden, um sich dann schließlich bei geisterhafter Musik den Dolch dreimal ins Herz zu stoßen. Auf Washington war das Gespenst nämlich besonders böse, da er immer wieder den Blutfleck entfernte. Wenn es dann dem jungen Mann einen namenlosen Schrecken versetzt hatte, wollte es in das Schlafzimmer von Mr. und Mrs. Otis eindringen und dort eine eiskalte Hand auf die Stirn von Mrs. Otis legen. Ihrem zitternden Mann wollte es dazu entsetzliche Geheimnisse aus dem Beinhaus zuzischen. Soweit war der Plan klar. Die kleine Virginia hatte dem Gespenst nie etwas zuleide getan und es auch nicht beleidigt. Daher wollte es sich mit ein paar tiefen Seufzern aus dem Kleiderschrank zufrieden geben oder vielleicht mit zitternden Fingern an ihrem Betttuch zerren, bevor es den Zwillingen eine ordentliche Lektion erteilte. Ihnen wollte es sich auf die Brust setzten, um das erstickende Gefühl eines Alpdruckes hervorzurufen und im Anschluss daran als grüner eiskalter Leichnam zwischen ihnen stehen, bis sie vor Schrecken gelähmt waren. Zum Schluss wollte er mit gebleichten Knochen und rollenden Augäpfeln im Zimmer herumkriechen als "Stummer Daniel" oder "Das Skelett des Selbstmörders". Diese Rolle hatte bei mehr als einer Gelgenheit großen Eindruck gemacht und schien ihm so gut wie seine Darstellung des "Martin, des Verrückten, oder das verhüllte Geheimnis" zu sein.

Um halb elf hörte er die Familie zu Bett gehen. Die Zwillinge machten noch eine Weile Lärm, aber um ein Viertel zwölf war alles still. Als es Mitternacht schlug, machte sich das Gespenst auf den Weg. Die Familie Otis schlief, unbekümmert um das nahende Verhängnis. Durch den Sturm und den Regen hörte man Mr. Otis schnarchen.

Leise trat der Geist aus der Vertäfelung hervor. Ein böses Lächeln umspielte seinen grausamen, faltigen Mund, so dass sogar der Mond sein Gesicht verbarg. Er schlurfte weiter wie ein böser Schatten. Einmal kam es ihm vor, als rufe jemand seinen Namen. Er blieb stehen und lauschte, aber es war nur das heisere Bellen eines Hundes auf dem nahen Bauernhof. So schlich er leise weiter und murmelte wunderliche Flüche aus dem sechzehnten Jahrhundert vor sich hin. Dann und wann stach er mit seinem rostigen Dolch in die Luft. Er hatte die Ecke des Korridors erreicht, der zu Washingtons Zimmer führte. Er blieb einen Moment stehen und der Wind blies ihm seine lange grauen Locken um den Kopf. Das Leinentuch bewegte sich gespenstisch. Die Uhr schlug ein Viertel und er fühlte, dass die Zeit gekommen war.

Er lächelte zufrieden, tat einen Schritt und sah um die Ecke. Im gleichen Augenblick fuhr er mit einem jammervollen Schreckenslaut zurück und verbarg sein bleiches Gesicht in den knochigen Händen. Gerade vor ihm stand ein entsetzliches Gespenst, bewegungslos wie eine Statue und fürchterlich wie der Traum eines Wahnsinnigen. Der kahle Kopf glänzte, das Gesicht war fett, rund und weiß. Ein grässliches Lachen entstellte seine Züge zu einem ewigen Grinsen. Aus den Augen kamen rote Lichtstrahlen, der Mund war eine weite Feuerhöhle und ein scheußliches weißes Gewand verhüllte die Gestalt des Riesen. Auf seiner Brust prangte ein Plakat mit einer sonderbaren Schrift in alten Buchstaben. Sicherlich war dies ein Bericht seiner wilden Missetaten, denn in der rechten Hand hielt das Ungeheuer eine Keule aus blitzendem Stahl.

Der Geist hatte noch nie in seinem Leben ein Gespenst gesehen. Er erschrak furchtbar und floh, nachdem er einen zweiten entsetzten Blick auf die grauenhafte Erscheinung geworfen hatte. Er lief so schnell, dass er über sein Laken stolperte und seinen rostigen Dolch in einen Jagdstiefel des Gesandten fallen ließ. In seinem Zimmer angekommen, warf er sich auf das Bett und versteckte sich unter seiner Decke. Nach einer Weile aber rührte sich doch der tapfere alte Canterville-Charakter und das Gespenst beschloss, zu dem anderen Geist zu gehen und ihn anzusprechen, sobald der Morgen graute. Als es zu dämmern begann, ging er zurück zu der Stelle, an der er das Ungeheuer entdeckt hatte. Vielleicht war es ja deutlich angenehmer, zwei Gespenster zusammen zu sein als eines allein. Vielleicht konnte er mit Hilfe dieses neuen Freundes sogar gegen die frechen Zwillinge zu Felde ziehen. Als das Gespenst an die Stelle kam, bot sich ihm ein grausiger Anblick. Dem anderen Gespenst musste ein Unglück zugestoßen sein. Das Licht in seinen Augen war erloschen und die glänzende Keule seiner Hand entfallen. Es selbst lehnte in einer sehr unbequemen Stellung an der Wand. Als Sir Simon das fremde Gespenst am Arm zog, fiel zu seinem Entsetzen dessen Kopf ab und rollte auf den Boden, während der Körper in sich zusammen fiel. Sir Simon hielt eine weiße Bettgardine und einen Besenstiel in der Hand, Küchenbeil und Kürbis lagen zu seinen Füßen. Unfähig, diese Verwandlung zu begreifen, packte Sir Simon das Plakat. Im grauen Licht des Morgens las er:

Das Otis-Gespenst.
Der einzig wahre und originale Spuk.
Vor Nachahmung wird gewarnt.
Alle anderen sind unecht.

Jetzt verstand er! Man hatte ihn hereingelegt! Und er hatte sich hereinlegen lassen. Der alte, wilde Canterville-Blick kam in seine Augen. Er kniff den zahnlosen Mund zusammen, warf seine knochigen Hände in die Luft und stieß einen Schwur aus! Wenn Chanticleer zum zweiten Male in sein lustiges Horn stieße, würden entsetzliche Bluttaten geschehen, und Mord würde auf leisen Sohlen durch das Haus schleichen.

Kaum hatte er diesen Schwur ausgestoßen, da krähte vom roten Ziegeldach eines Bauernhauses der Hahn. Das Gespenst lachte hohl und dumpf und wartete. Stunde um Stunde verging, aber der Hahn krähte nicht wieder. Als das Hausmädchen um halb acht kam, musste das Gespenst seine grausige Nachtwache aufgeben und ging tief in Gedanken über die Geschehnisse der Nacht in sein Zimmer. Dort schlug es in verschiedenen alten Ritterbüchern nach und fand heraus, dass Chanticleer noch immer zweimal gekräht hatte, wenn jemand diesen Schwur ausgestoßen hatte. "Zum Teufel mit diesem faulen Hahn!", brummte das Gespenst und legte sich in seinem kostbaren ehernen Sarg zur Ruhe.

 

 

 

4. Das Gespenst von Canterville hat's schwer

Am folgenden Tag war der Geist sehr schwach und müde. Die furchtbaren Anstrengungen der letzten vier Wochen begannen, ihn anzugreifen. Seine Nerven waren zum Zerreißen gespannt und das kleinste Geräusch ließ ihn erschreckt in die Höhe fahren. Fünf Tage blieb er still auf seinem Zimmer und gab sogar die ewige Sorge um den Blutfleck im Wohnzimmer auf. Wenn die Familie Otis diesen Fleck nicht wollte, dann war sie auch nicht wert, diesen Fleck zu bekommen. Offensichtlich waren diese Leute sowieso von niedriger Bildung und nicht im Stande, den Wert eines Hausgespenstes zu schätzen.

Die Frage nach überirdischen Erscheinungen und der Entwicklung der Himmelskörper war natürlich eine ganz andere Sache, aber die ging ihn nichts an. Seine Pflicht war es, einmal in der Woche auf dem Korridor zu spuken und jeden ersten und dritten Mittwoch im Monat von dem großen bunten Glasfenster aus wirres Zeug in die Halle hinab zu schwatzen. Von diesen beiden Verpflichtungen konnte er sich nicht freimachen. Sein Leben war ein äußerst böses Leben gewesen, aber in allen Dingen, die mit dem Übernatürlichen zusammenhingen, war er außerordentlich gewissenhaft. Und so wanderte er an den folgenden drei Freitagen sehr gewissenhaft zwischen zwölf und drei Uhr nachts die Korridore auf und ab. Er gab genauso gewissenhaft darauf Acht, dass er weder gehört noch gesehen wurde. Er zog die Stiefel aus und trat so leise wie nur möglich auf die alten, wurmstichigen Böden. Er trug einen weiten schwarzen Samtmantel und gebrauchte gewissenhaft den Sun Rising Lubricator, um seine Ketten damit zu schmieren.

Zuerst fühlte sich das Gespenst ein wenig gedemütigt, aber schließlich war es vernünftig genug einzusehen, dass alles bis zu einem gewissen Grad seinen Zwecken diente. Trotz und alledem hörten vor allem die Zwillinge nicht auf, dass Gespenst zu ärgern und zu belästigen. Ständig waren Stricke im Korridor gespannt, über die das Gespenst im Dunkeln fiel oder es glitt auf einer fettigen Butterspur aus, die die Zwillinge hergerichtet hatten. Diese Beleidigung versetzte das Gespenst so in Wut, dass es beschloss, noch eine allerletzte Anstrengung zu unternehmen, um seine Würde und seine gesellschaftliche Stellung zu sichern. Er wollte den jungen Etonschülern in der nächsten Nacht als "Kühner Ruprecht oder der Graf ohne Kopf" erscheinen.

Mehr als siebzig Jahre war es her, dass der Geist in dieser Rolle aufgetreten war. Damals hatte er die hübsche Lady Barbara Modish so erschreckt, das sie ihre Verlobung mit dem Großvater des jetzigen Lord Cantervilles löste. Sie brannte mit dem schönen Jack Castletown nach Gretna Green durch und erklärte, sie wolle um keinen Preis in eine Familie hineinheiraten, die einem so abscheulichen Gespenst erlaube, in der Dämmerung auf der Terrasse spazieren zu gehen. Jack Castletown wurde später von Lord Canterville im Duell erschossen und Lady Barbara starb, noch ehe das Jahr vergangen war, an einem gebrochenen Herzen. So war das Erscheinen damals ein voller Erfolg gewesen. Allerdings war mit dieser Rolle in Hinsicht auf eines der größten Geheimnisse des Übernatürlichen sehr viel Mühe verbunden. Drei volle Stunden brauchte der Geist für die Vorbereitungen. Als alles fertig war, war er sehr zufrieden. Obwohl ihm die großen ledernen Reitstiefel ein wenig zu weit waren und er auch nur eine der beiden Pistolen hatte finden können, befriedigte ihn sein Aussehen sehr und um ein Viertel nach ein Uhr glitt er aus der Wandtäfelung hervor. Er schlich den Korridor hinab und fand die Tür zum Zimmer der Zwillinge nur angelehnt. Er wünschte sich einen effektvollen Auftritt und stieß daher die angelehnte Tür weit auf und -schwupp- fiel ein schwerer Wasserkrug auf ihn. Sofort war er bis auf die Haut durchnässt und hörte gleichzeitig unterdrücktes Gekicher vom Bett her kommen. Er erlitt einen schweren Schock und lief so schnell er konnte in sein Zimmer zurück. Den nächsten Tag lag er mit einer heftigen Erkältung im Bett und sein einziger Trost war, dass er bei der Sache seinen Kopf nicht bei sich gehabt hatte. Wäre dies der Fall gewesen, so hätten die Folgen durchaus ernst sein können.

Danach gab er alle Hoffnungen auf, diese ordinären Amerikaner überhaupt noch zu erschrecken. Er begnügte sich in der Regel damit, in Pantoffeln über den Korridor zu schleichen. Dabei trug er ein dickes, rotwollenes Tuch um den Hals, aus Angst vor Zugluft und eine kleine Armbrust für den Fall, dass die Zwillinge ihn angreifen sollten.

Der Hauptschlag aber, der gegen ihn geführt wurde, geschah am 19. September. Er war in die große Eingangshalle gegangen, da er sich dort am sichersten fühlte. Er unterhielt sich damit, boshafte Bemerkungen über die Platinfotografien von Mrs. und Mr. Otis zu machen, die nun statt der Canterville-Ahnenbilder in der Halle hingen. Er war ordentlich aber einfach gekleidet. Sein langes Laken wies nur hier und dort bräunliche Flecken von der Friedhofserde auf und seine Kinnlade hatte er mit einem Stück gelber Leinwand hochgebunden. Darüber hinaus hatte er eine kleine Laterne und den Spaten eines Totengräbers bei sich. Es war das Kostüm von "Jonas, dem Grablosen oder der Leichenräuber von Chertsey Barn". Es ging so gegen ein Viertel auf drei Uhr morgens zu und allem Anschein nach rührte sich nichts. Langsam schlenderte der Geist zur Bibliothek, um doch einmal wieder nach dem Blutfleck zu sehen. Plötzlich sprangen aus einer dunklen Ecke zwei Gestalten hervor, wedelten wild mit den Armen und schrieen laut "Buhhh".

In panischen Schrecken eilte das Gespenst zur Treppe. Dort aber stand Washington mit der Gartenspritze. Von seinen Feinden umzingelt blieb dem Gespenst nichts anderes übrig, als durch den Ofen zu verschwinden, der glücklicherweise nicht brannte. Auf höchst beschwerliche Art und Weise gelangte er durch Ofenrohre und Kamine in sein Zimmer zurück, wo er verzweifelt, schmutzig und erschöpft ankam. Nach diesem Erlebnis wurde er nie mehr auf einer nächtlichen Expedition angetroffen. Die Zwillinge warteten auf sein Erscheinen und streuten Nussschalen auf die Korridore, aber es war vergebens. Offensichtlich waren die Gefühle des armen Gespenstes so verletzt, dass es sich nicht mehr zeigen wollte.

Mr. Otis nahm sein großes Werk über die Geschichte der demokratischen Partei wieder auf, das ihn schon seit Jahren beschäftigte. Mrs. Otis organisierte ein wundervolles Preiskuchenbacken, das die ganze Grafschaft aufregte. Die Jungen spielten mit Vergnügen Lacrosse, Euchre, Poker und andere amerikanische Nationalspiele und Virginia ritt auf ihrem Pony im Park spazieren. Dabei begleitete sie der junge Herzog von Cheshire, der die letzten Wochen der großen Ferien auf Schloss Canterville verleben durfte. Alle nahmen an, dass der Geist das Schloss verlassen habe. Mr. Otis schrieb sogar einen Brief an Lord Canterville, der in seiner Antwort seine große Freude darüber ausdrückte, dass der Geist fort sei.

Die Familie Otis aber hatte sich getäuscht. Der Geist war noch im Hause. Und er war entschlossen, die Sache keinesfalls ruhen zu lassen. Schon gar nicht als er hörte, dass der junge Herzog von Cheshire unter den Gästen weilte. Der Großonkel des jungen Herzogs -Lord Francis Stilton- hatte einst mit Oberst Carbury um tausend Guineen gewettet, dass er mit dem Geist Würfel spielen wollte. Am nächsten Morgen war er in einem Zustand hilfloser Lähmung im Spielzimmer auf dem Boden liegend gefunden worden. Zwar erreichte er ein hohes Alter, konnte aber zeitlebens nichts anderes mehr sagen als zwei Atout. Diese Geschichte kannte damals jeder, obwohl man versuchte, sie zu vertuschen. Der Geist wollte natürlich zeigen, dass er seine Macht über die Stiltons noch nicht verloren hatte und so traf er Vorkehrungen, Virginias Verehrer in seiner berühmten Rolle als "Vampirmönch" oder "Der blutlose Benediktiner" zu erscheinen. Dies war eine so fürchterliche Verkleidung, dass Lady Startup an jenem verhängnisvollen Neujahrsabend 1764 vor Schreck von einem Gehirnschlag getroffen wurde. Drei Tage später war sie tot, nachdem sie noch schnell alle Cantervilles enterbt und ihren ganzen Besitz einem Apotheker aus London vermacht hatte. Im letzten Moment aber verhinderte die Angst vor den Zwillingen den Auftritt des Gespenstes beim jungen Lord Cheshire, der friedlich in seinem Bett schlummerte.

 

 

 

5. Virginia und das Gespenst

Wenige Tage später ritten Virginia und ihr Verehrer über die Brockleywiesen spazieren. Beim Springen über eine Hecke zerriss ihr Reitkleid derart, dass sie eilig nach Hause ritt und dort über die Hintertreppe das Schloss betrat, um nicht gesehen zu werden. Als sie an dem alten Gobelinzimmer vorbeikam, stand dessen Türe halb offen. Virginia meinte, das Kammermädchen ihrer Mutter in dem Zimmer gesehen zu haben und trat ein, um sich das Kleid ausbessern zu lassen. Zu ihrer großen Überraschung fand sie das Gespenst von Canterville!

Es saß am Fenster und beobachtete, wie das matte Gold des vergilbten Laubes durch die Luft flog und die roten Blätter einen wilden Reigen in der langen Allee tanzten. Den Kopf hatte es in die Hand gestützt und wirkte so niedergeschlagen, dass Virginia, die eigentlich erst hatte fliehen wollen, von tiefem Mitleid ergriffen wurde. Sie beschloss, das Gespenst zu trösten und da ihr Schritt leicht und seine Traurigkeit groß war, bemerkte das Gespenst Virginia erst, als sie zu ihm sprach.

"Sie tun mir so leid. Aber morgen müssen meine Brüder nach Eton zurück und wenn Sie sich dann wie ein gebildeter Mann benehmen, wird Sie niemand mehr ärgern." Der Geist sah das Mädchen erstaunt an. "Das ist ein ganz unsinniges Verlangen einem Geist gegenüber. Ich muss mit meinen Ketten rasseln und durch Schlüssellöcher stöhnen. Das ist mein einziger Lebenszweck." Virginia antwortete: "Das ist überhaupt kein Lebenszweck. Sie wissen, dass Sie ein böser, schlechter Mensch gewesen sind. Mrs. Umney hat uns erzählt, dass Sie Ihre Frau getötet haben und es ist unrecht, jemanden umzubringen!" Der Geist seufzte und nickte. "Das stimmt. Aber es geht niemanden etwas an. Das war eine reine Familienangelegenheit. Außerdem war es nicht so, wie du denkst. Meine Frau war sehr hässlich und hat mir niemals die Manschetten so gestärkt, wie ich es wollte. Sie verstand nichts vom Kochen. Das alles ist zwar lange her, aber es war auch nicht nett von ihren Brüdern, mich zu Tode hungern zu lassen, bloß weil ich sie getötet habe."

Virginia bot dem Geist ein Butterbrot, aber der lehnte ab. "Nein, danke. Ich esse jetzt nie mehr etwas. Trotzdem vielen Dank. Sie sind viel netter als der Rest Ihrer abscheulichen, groben und vulgären Familie." Virginia verbot dem Geist, so über ihre Familie zu sprechen. Dann sagte sie aufgebracht: "Sie sind selber grob und abscheulich. Denken Sie, ich weiß nicht, dass Sie mir alle Farben aus meinem Tuschkasten gestohlen haben, um den Blutfleck immer wieder zu erneuern. Erst nahmen Sie alle Rottöne, dann auch Smaragdgrün und Chromgelb. Schließlich konnte ich nur noch Mondscheinlandschaften in Chinesisch-Weiß und Indigo malen. Ich habe Sie nie verraten, obwohl noch nie jemand etwas von grünen Blutflecken gehört hat!" Das Gespenst sah sie zerknirscht an. "Was sollte ich denn tun? Blut ist heutzutage so schwer zu bekommen. Und als Ihr Bruder mit seinem Fleckenreiniger anfing, sah ich nicht ein, warum ich nicht Ihre Farben benutzen sollte. Außerdem haben wir Cantervilles beispielsweise blaues Blut! Aber Ihr Amerikaner macht euch ja nichts daraus." Virginia funkelte ihn an. "Was wissen Sie schon. Sie sollten mal etwas für Ihre Bildung tun. Wandern Sie doch nach Amerika aus. Mein Vater wird Ihnen sicherlich eine freie Überfahrt verschaffen. Wenn Sie in New York sind, garantiere ich Ihnen großen Erfolg. Ich kenne viele Menschen, die tausend Dollar dafür geben würden, einen Großvater zu haben und unendlich viel mehr für ein Familiengespenst. Aber Amerika würde Ihnen wahrscheinlich nicht gefallen, weil wir keine Ruinen und Altertümer haben." Der Geist antwortete: "Keine Ruinen? Keine Altertümer? Aber Sie haben doch die Marine und Ihre Umgangsformen." Virginia sprang auf. "Das reicht! Ich werde jetzt Vater bitten, den Zwillingen noch acht Tage länger Ferien zu geben."

Sie drehte sich um und wollte das Zimmer verlassen. Da sprang auch der Geist auf. "Ach bitte, gehen Sie nicht, Miss Virginia. Ich bin so einsam und so unglücklich. Ich weiß nicht mehr, was ich tun soll. Ich möchte schlafen und kann es doch nicht." Virginia musterte den Geist, der sich wieder auf seinen Stuhl sinken ließ. "Das ist doch albern. Wenn man schlafen will, dann legt man sich ins Bett und schläft. Das können schon die allerkleinsten Kinder." Der Geist nickte. "Aber ich kann es nicht. Ich habe schon seit dreihundert Jahren nicht mehr geschlafen. Ich bin so müde! Miss Virginia, weit hinter jenen Wäldern liegt ein kleiner Garten. Dort wächst langes Gras. Es blühen die großen weißen Sterne des Schierlings. Die Nachtigallen singen die ganze Nacht hindurch und der kalte kristallene Mond schaut nieder und die Trauerweide breitet ihre Arme über den Schläfer aus." Virginia war auf die Erde gesunken und schaute zu dem alten faltigen Gesicht des Geists auf. "Armes Gespenst. Sie meinen den Garten des Todes. Wäre das das Fleckchen, an dem Sie schlafen könnten?" Ihre Lippen zitterten. Der Geist sah sie ruhig an. "Ja, Tod! Der Tod muss schön sein. In der weichen, braunen Erde zu liegen, während das lange Gras über einem hin und her schwankt. Der Stille lauschen und kein Gestern, kein Morgen haben. Die Zeit und das Leben vergessen, im Frieden sein. Helfen Sie mir! Sie können mir helfen, die Tore des Todes zu öffnen, denn auf Ihrer Seite ist stets die Liebe, und die Liebe ist stärker als der Tod.

Virginia zitterte als der Geist sie nach der alten Inschrift am Fenster Bibliothek fragte. Sie hatte sie oft gelesen:

Wenn ein goldenes Mädchen es dahin bringt,
dass es sündige Lippen zum Beten zwingt,
wenn die dürre Mandel unter Blüten sich senkt,
ein unschuldiges Kind seine Tränen verschenkt,
dann wird dies Haus wieder ruhig und still
und Friede kehrt ein auf Schloss Canterville.

"Was soll das bedeuten?", fragte Virginia. "Das heißt, dass Sie über meine Sünden weinen müssen. Ich habe keine Tränen. Sie müssen für meine Seele beten, denn ich habe keinen Glauben. Und wenn Sie immer gut und sanft gewesen sind, dann wird der Engel des Todes mit mir Erbarmen haben. Sie werden entsetzliche Gestalten im Dunkeln sehen. Schauriges wird an ihr Ohr dringen. Ihnen wird aber kein Leid geschehen, denn gegen die Reinheit eines Kindes sind die Gewalten der Hölle machtlos."

Virginia antwortete nicht. Der Geist sah auf ihren gesenkten Kopf herab und rang die Hände. Plötzlich erhob sie sich, bleich, aber entschlossen. "Ich habe keine Angst. Ich will den Engel bitten, Erbarmen mit Ihnen zu haben."

Mit einem leisen Freudenausruf erhob sich der Geist. Er griff nach Virginias Hand und küsste sie nach alter Art. Seine Finger waren eiskalt, aber seine Lippen brannten wie Feuer. Er führte sie durch das dämmerdunkle Zimmer. In den verblassten grünen Gobelin waren kleine Jäger gewirkt, die in ihre Hörner bliesen. Sie schienen Virginia zu zu winken und zu rufen: "Kehre um!" Aber der Geist fasste Virginias Hand noch fester und sie schloss die Augen. Schreckliche Tiere mit Eidechsenschwänzen und feurigen Augen sahen sie vom Kaminsims an und grinsten: "Nimm dich in Acht. Vielleicht sieht man dich nie wieder, Virginia!" Aber der Geist ging noch schneller voran und Virginia hörte nicht auf die Stimmen. Am Ende des Zimmers hielt das Gespenst an und murmelte einige Worte, die Virginia nicht verstand. Sie schlug die Augen auf und sah die Wand vor sich verschwinden. Eine große, schwarze Höhle tat sich auf. Ihr wurde schrecklich kalt und etwas zerrte an ihrem Kleid. "Schnell, schnell! Sonst ist es zu spät!", rief der Geist. Und schon hatte sich die Wand hinter ihnen geschlossen und das Gobelinzimmer war leer.

 

 

 

6. Wo ist Virginia?

Als Virginia nicht zum Tee erschien, machte Mrs. Otis sich noch keine Gedanken. Virginia ging oft um diese Zeit in den Garten, um Blumen zu pflücken. Aber als es sechs Uhr schlug und Virginia immer noch nicht wieder da war, wurde sie doch unruhig und schickte die Zwillinge aus, nach ihr zu sehen. Diese kamen unverrichteter Dinge wieder zurück und hatten keine Spur von ihr entdecken können. Nun waren alle auf das äußerste beunruhigt und Mr. Otis erinnerte sich plötzlich, dass er vor wenigen Tagen Fahrendes Volk im Park hatte übernachten lassen. Sofort machten er und Washington sich auf den Weg, diese Menschen zu finden und nach Virginia zu fragen.

Der junge Lord Cheshire war außer sich vor Sorge und begleitet Mr. Otis und Washington auf der Suche. Sie konnten das Fahrende Volk nicht finden und so ritt Mr. Otis heim und schickte Depeschen an alle Polizeiposten der Grafschaft in denen er sie bat, nach einem Mädchen zu forschen, das entführt worden sei. Er selbst ritt mit Washington und dem Lord Cheshire weiter nach Ascot.

Am Bahnhof erkundigte man sich nach Virginia und der Stationsvorstand telegrafierte auf der Strecke hinauf und hinunter. Er versicherte Mr. Otis, dass man gewissenhaft recherchieren würde. Mr. Otis ritt mit Washington und dem jungen Herzog nach Bexley. Dieses Dorf lag ungefähr vier Meilen entfernt und hatte eine große Wiese, auf der Fahrendes Volk gern lagerte. Sie weckten die Gendarmen, konnten aber nichts in Erfahrung bringen. Schließlich mussten sie ohne etwas erreicht zu haben, umkehren. Todmüde und mit gebrochenen Herzen kamen sie gegen elf Uhr wieder im Schloss Canterville an. Auch im Schloss hatte man nichts Neues von Virginia gehört. Sogar den Karpfenteich hatte man abgelassen, aber nichts entdeckt.

In der Halle standen alle Dienstboten aufgeregt beieinander und Mrs. Otis lag in der Bibliothek auf einem Sofa, außer sich vor Angst um Virginia. Die alte Haushälterin wusch ihr die Stirn mit Eau de Cologne und war genauso verzweifelt wie alle anderen. Mr. Otis bestellte schließlich das Dinner für die ganze Familie. Es war eine trübselige Mahlzeit. Kaum einer sprach ein Wort, sogar die Zwillinge waren vor Schreck stumm. Als alle gegessen hatten, schickte Mr. Otis alle zu Bett, obwohl der junge Herzog inständig bat, aufbleiben zu dürfen. Am Morgen wollte man sofort Scotland Yard telegrafieren.

Es schlug Mitternacht als alle den Speisesaal verließen und als der letzte Schlag verklungen war, hörte man plötzlich ein furchtbares Gepolter und dann einen durchdringenden Schrei. Ein wilder Donner erschütterte das Haus, ein Strom überirdischer Musik durchzog das Haus. Die Wandtäfelung flog mit tosendem Lärm auf und dort stand, blass und weiß mit einer kleinen Schatulle in Hand - Virginia.

Alle stürmten hinauf zu ihr. Mrs. Otis presste sie an sich und der junge Herzog erstickte sie fast mit seinen Küssen. Die Zwillinge aber vollführten einen wilden Indianertanz um die Gruppe herum. Dann rief Mr. Otis: "Virginia! Wo bist du gewesen? Wir sind meilenweit über Land geritten um dich zu suchen. Deine Mutter hat sich zu Tode geängstigt. Nie wieder sollst du so einen dummen Streich machen!" Virginia sah ihren Vater an und sagte ruhig: "Papa, ich war bei dem Gespenst. Es ist tot und du musst kommen, um es zu sehen. Es ist in seinem Leben ein schlechter Mensch gewesen. Aber nun hat es alle seine Sünden bereut und bevor es starb, gab es mir diese Schatulle mit sehr kostbaren Juwelen." Und Virginia führte ihre staunende Familie durch die Öffnung in der Wandtäfelung in einen engen Korridor. Washington nahm ein Licht vom Tisch und folgte den anderen. Sie gelangten zu einer schweren Eichentür, die mit rostigen Nägeln beschlagen war. Die Tür flog auf, als Virginia sie berührte und gab den Blick in ein kleines niedriges Zimmer mit gewölbter Decke und vergittertem Fenster frei. Ein schwerer eiserner Ring war in die Wand eingelassen. Daran angekettet lag ein riesiges Skelett. Es war der Länge nach auf dem Fußboden ausgestreckt. Die langen fleischlosen Finger versuchten nach einem Teller und einem Krug zu greifen, die gerade so aufgestellt waren, dass die Hand sie nicht erreichen konnte.

Virginia kniete neben dem Skelett nieder und betet still. Die anderen betrachteten die Tragödie mit Staunen bis plötzlich einer der Zwillinge rief: "Schaut doch. Der alte verdorrte Mandelbaum blüht. Ich kann die Blüten im Mondlicht sehen." Virginia sah aus dem Fenster. "Gott hat ihm vergeben.", sagte sie und ihr Gesicht strahlte in unschuldiger Freude. "Du bist ein Engel.", rief der junge Herzog, schloss sie in seine Arme und küsste sie.

 

 

 

7. Die letzte Ruhe

Vier Tage nach diesen Ereignissen verließ ein Trauerzug nachts um elf Uhr das Schloss Canterville. Acht schwarze Pferde zogen den Leichenwagen. Neben dem Wagen schritten Diener mit brennenden Fackeln und der ganze Zug machte einen höchst feierlichen Eindruck. Lord Canterville war extra zu diesem Begräbnis aus Wales gekommen und saß im ersten Wagen neben Virginia. Dann kamen Mrs. und Mr. Otis, Washington und dann die Zwillinge. Im letzten Wagen saß Mrs. Umney, der man das Recht eingeräumt hatte, an der Beerdigung teilzunehmen, nachdem das Gespenst sie fast fünfzig Jahre lang erschreckt hatte.

In der Ecke des Friedhofes war ein tiefes Loch gegraben worden, genau unter der Trauerweide. Hochwürden August Dampier hielt eine höchst eindrucksvolle Grabrede. Nach der Zeremonie löschten die Diener ihre Fackeln und während der Sarg hinuntergelassen wurde, legte Virginia ein Kreuz aus weißen und rosafarbenen Mandelblüten darauf nieder. Der Mond kam hinter einer Wolke hervor und übersilberte den kleinen Friedhof. Im Gebüsch sang eine Nachtigall und Virginia dachte an die Beschreibung vom Garten des Todes. Ihre Augen füllten sich mit Tränen und auf der Rückfahrt sprach sie kein Wort.

Am nächsten Morgen hatte Mr. Otis eine Unterredung mit Lord Canterville wegen der Juwelen. Sie waren von hervorragender Schönheit, besonders ein Halsschmuck von Rubinen in altvenezianischer Fassung, ein Meisterwerk der Kunst des sechzehnten Jahrhunderts. Die Juwelenwaren so wertvoll, dass Mr. Otis zögerte, ob seine Tochter sie annehmen könnte.

Lord Canterville aber erhob keinen Anspruch auf die Juwelen, da er der Meinung war, dass Virginia Sir Simon einen höchst wichtigen Dienst geleistet hatte. So sagte er zu Mr. Otis: "Ganz zweifellos sind die Juwelen Miss Virginias Eigentum. Und wäre ich herzlos genug, sie ihr fortzunehmen, so würde doch binnen einer Woche der böse alte Bursche wieder aus seinem Grab aufstehen und mir das Leben hier zur Hölle machen." Mr. Otis musste schließlich Virginia erlauben, das Geschenk des Gespenstes zu behalten. Als sie im Frühjahr 1890 als die junge Herzogin von Cheshire bei der Gelegenheit ihrer Hochzeit bei Hofe vorgestellt wurde, erregten ihre Juwelen allgemeine Bewunderung.

Virginia heiratete ihren jugendlichen Verehrer, sobald sie mündig geworden war. Sie waren ein entzückendes Paar und liebten einander so sehr, dass sich jeder über ihre Heirat freute. Oder sagen wir - fast jeder. Mr. Otis selbst war zunächst nicht so begeistert, obwohl er den jungen Herzog gern mochte. Aber in der Theorie waren ihm alle Titel zuwider. Sein Widerstand wurde schließlich jedoch völlig besiegt. Der Herzog und seine junge Frau kamen nach den Flitterwochen nach Canterville. Am Nachmittag wanderten sie zu dem kleinen Friedhof unter den Tannen. Man hatte nach vielen Schwierigkeiten entschieden, nur die Initialen seines Namens und den Vers vom Fenster in der Bibliothek auf den Grabstein von Sir Simon zu gravieren. Die Herzogin streute wundervolle Rosen auf das Grab. Mit ihrem Mann schlenderte sie zu der halbverfallenen Kanzel in der alten Abtei. Dort setzte sie sich auf eine der umgestürzten Säulen, er legte sich zu ihren Füßen ins Gras und rauchte eine Zigarette. Verliebt blickte er in ihre Augen. Dann plötzlich warf er die Zigarette fort. "Virginia, eine Frau soll keine Geheimnisse vor ihrem Mann haben. Du hast mir nie gesagt, was dir begegnet ist, als du mit dem Gespenst verschwunden bist." Virginia erwiderte: "Das habe ich niemandem gesagt. Bitte verlang nicht von mir, es dir zu erzählen. Der arme Sir Simon. Ich bin ihm zu großem Dank verpflichtet. Lach nicht! Er hat mich einsehen gelernt, was das Leben ist und was der Tod bedeutet und warum die Liebe stärker ist als beide zusammen."

Der Herzog stand auf und küsste seine junge Frau zärtlich. "Du kannst dein Geheimnis behalten, solange mir nur dein Herz gehört.", flüsterte er. "Das Herz hat dir schon immer gehört.", antwortete Virginia. "Aber unseren Kinder kannst du einmal das Geheimnis sagen, nicht wahr?" Virginia errötete...