Das Lügenmärchen

Das Lügenmärchen

[von Ernst Moritz Arndt]

Ich will euch erzählen und will auch nicht lügen:
Ich sah zwei gebratene Ochsen fliegen,
sie flogen gar ferne-
sie hatten den Rücken gen Himmel gekehrt,
die Füße wohl gegen die Sterne.

Ein Amboss und ein Mühlenstein,
die schwammen bei Köln wohl über den Rhein,
sie schwammen gar leise-
ein Frosch verschlang sie alle beide
zu Pfingsten wohl auf dem Eise.

Es wollten vier einen Hasen fangen,
sie kamen auf Stelzen und Krücken gegangen,
der erste konnte nicht sehen,
der zweite war stumm, der dritte war taub,
der vierte konnte nicht gehen.

Nun denkt sich einer, wie dieses geschah:
Als nun der Blinde den Hasen sah
Auf grüner Wiese grasen,
da rief es der Stumme dem Tauben zu,
und der Lahme erhaschte den Hasen.

Es fuhr ein Schiff auf trockenem Land,
es hatte die Segel gen Wind gespannt
und segelt im vollen Laufen –
da stieß es an einen hohen Berg,
da tät das Schiff ersaufen.

In Straßburg stand ein hoher Turm,
der trotzte Regen, Wind und Sturm
und stand fest über die Maßen.
Den hat der Kuhhirt mit seinem Horn
Eines Morgens umgeblasen.

Ein altes Weib auf dem Rücken lag.
Sein Maul wohl hundert Meter weit auftat,
es ist wahr und nicht erlogen,
drin hat der Storch fünfhundert Jahr
seine Jungen großgezogen.

So will ich hiermit mein Liedlein beschließen,
und sollt es auch die werte Gesellschaft verdrießen,
will trinken und nicht mehr lügen:
Bei mir zu Land sind die Mücken so groß
Als hier die grössesten Ziegen.