Der Huldigungszug

  • Autor: Twain, Mark

Der echte König zog durchs Land, von Bettlern angepöbelt, mit Verbrechern in einer Gefängniszelle und als Narr und Gauner bezeichnet. Tom Canty dagegen freute sich nun schon einige Zeit über die schönen Seiten des Lebens.

Täglich wurde sein Selbstbewusstsein größer und er benahm sich, als wäre ein Leben bei Hof für ihn das Selbstverständlichste von der Welt. Inzwischen ließ er sich sogar von hohen Damen die Hände zum Abschied küssen, ohne verlegen zu erröten. Ebenso fügte er sich den Bekleidungszeremonien und an den majestätischen Mahlzeiten fand er Gefallen.

Der Satz: "Macht Platz für den König!", erfüllte ihn mit Stolz und Freude. Überhaupt liebte er die Rolle des Monarchen und man hatte den Eindruck, er wäre nicht mehr nur das Sprachrohr des Lordprotektors. Tom Canty, ehemaliger König des Kehrichthofs, war glücklich als König von England.

Jedoch wurde er nicht erhaben. Auf sanfte Art machte er sich für die Armen und Unterdrückten stark. Und er ließ niemals zu, dass jemand ihn wegen seiner Güte kritisierte.

In den ersten Tagen hatte Tom noch häufig über den netten Prinzen nachgedacht. Sein königlicher Doppelgänger, der ihm zu seinem Recht verhelfen wollte, der ihn so höflich behandelt hatte, war ihm nicht gleichgültig. Während der ersten aufwühlenden Tage und Nächte wünschte Tom Canty sich nichts sehnlicher, als dass der echte Prinz wiederkommen möge.

Doch mit der Zeit vergaß er über den glanzvollen Ereignissen seine eigene Herkunft und den echten Prinzen. Nur noch selten dachte er über den armen Edward nach, doch in jenen Momenten schämte er sich sehr. Auch um seine Mutter und die armseligen Schwestern trauerte er nicht mehr. Er hatte lediglich Angst, sie könnten eines Tages verdreckt in den Palast kommen und ihn kompromittieren.

So sank Tom Canty am Abend des 19. Februars in einen glücklichen Schlaf, denn am nächsten Morgen sollte er zum König von England gekrönt werden. Zur gleichen Stunde verweilte der zerlumpte, halb verhungerte Edward, der wahre König von England, auf Londons Straßen. Er beobachtete vor der Westminster-Abtei die Menschen, die noch letzte Vorbereitungen für die königliche Krönungsfeier trafen.

Tom Canty erwachte am nächsten Morgen unter Kanonenschüssen, die signalisierten, welch ein großer Tag dem Volke Englands bevorstand. Wieder einmal wurde Tom mit der prunkvollen Flotte die Themse hinuntergeleitet. Der Huldigungszug durch London sollte gemäß alter Sitte am Tower beginnen.

Bei Toms Ankunft jubelte die Menge und in Begleitung des Lordprotektors, Herzog von Somerset, bewegte sich die majestätische Prozession voran. Glanzvoll gekleidete Adlige, Ratsherren und andere wichtige Herren begleiteten den Zug. Sie trugen rote Satinroben und goldene Ketten auf der Brust. Die Handwerksgilden erschienen in ihrer Festtagskleidung.

Die Menschen sandten Bittgebete zum Himmel und hießen ihren König willkommen. Tom dankte diesen aufrichtigen Leuten, die allesamt Untertanentreue bewiesen. Wenn sie ihm zuriefen: "Gott segne eure Majestät", so antwortete er: "Gott segne Euch!" Dies ließ das Volk jubeln und Toms Herz schwoll an vor Stolz. Hierfür lohnte es sich zu leben, er war König und Idol dieses Volkes.

Entlang des Weges erkannte Tom alte Bekannte aus dem Kehrichthof wieder. Ach, wenn einer von ihnen sie nur erkennen könnte, das wäre ein Glück. Doch gleichzeitig wurde ihm klar, dass er sich verleugnen müsste. Sonst wäre alles, was er besaß in Gefahr. Die Prozession ging weiter und Tom ließ seine schmutzigen Weggefährten von damals in lauten Jubel ausbrechen, ohne dass sie ahnten, wen sie da bejubelten.

Als Gnadengabe warf Tom gelegentlich eine Hand voll neuer Münzen, die mit seinem Bild geprägt waren, in die Menschenmenge. Das Jubelgeschrei der Leute wollte kein Ende nehmen. Tom genoss den Ruhm und die Ehre, die ihm hier zuteilwurde.

Gerade wollte er wieder eine Handvoll Münzen werfen, da erblickte er in der Menschenmenge das Gesicht seiner Mutter. Ohne nachzudenken, schlug er die Hände vors Gesicht, die Innenseite nach Außen gekehrt - eine Eigenheit, die seine Mutter sofort erkannte.

Sie rannte wie blind durch die Menge, durch die Absperrung der Wachen hindurch. Verzweifelt umklammerte sie sein Bein und rief: "Oh mein liebes Kind!" Tom sah die Liebe in ihrem Gesicht. Immer noch verklärt sah er zu, wie die Wachen die Frau in die Menge zurückschleuderten. Im letzten Moment fing er einen derart traurigen Blick von ihr auf, dass ihm vor Scham die Wangen glühten. Da fiel die gesamte königliche Würde in sich zusammen.

Die Prozession wollte kein Ende nehmen, ebenso der Menschen Jubelgeschrei. Doch Tom Canty nahm alles nur noch wie in einem Traum wahr. Der Lordprotektor bemerkte den Stimmungswandel und flüsterte ihm zu: "Nicht träumen, Majestät. Das Volk wird unruhig, wenn euer trüber Blick sie trifft. Hebt den Kopf und lächelt."

Wie gewünscht riss sich Tom zusammen und die Menschen jubelten wieder heftiger, geblendet von der hoheitlichen Pracht. Freizügig streuten die hohen Herren Münzen unter die Leute. Gegen Ende der Prozession kam Toms Traurigkeit wieder zum Vorschein und der Lordprotektor griff noch einmal ein. "Majestät, alle Welt sieht Euch zu. Diese vermaledeite Bettlerin, sie hat Euch verhext."

Der majestätisch gekleidete Junge blickte den Herzog an und erklärte: "Sie war meine Mutter!"

Der Lordprotektor stöhnte verzweifelt auf. "Großer Gott! Dies sind wahrhaft schlimme Zeichen. Er ist wieder wahnsinnig geworden!"