Der Klabautermann

  • Autor: Autor Unbekannt

Es ist schon ziemlich lange her, da lebte einmal auf der Insel Rügen in der Ostsee ein Mann, der vor Kraft nur so strotze und Bäume hätte ausreißen können, wenn man ihm Gelegenheit dazu gegeben hätte. Jan Classen hieß er, war von Beruf Fischer und immer im Streit mit den Naturmächten um ihn herum.

Sein Haus hatte er auf einem der Kreidefelsen der Insel gebaut. Nahe am Abgrund, aber so hoch, dass selbst bei stürmischer See die Wellen und Wogen seinem Heim nichts anhaben konnte. Jedes Mal, wenn das Wetter wieder einmal stürmisch umher ging und die Menschen in Angst und Schrecken versetzte, dann stellte sich Jan Classen an den Felsrand und erhob seine Stimme. „Du kannst uns nichts anhaben. Mein Häuschen steht hoch oben auf dem Felsen, mein Boot ist sicher und meine Hand stark“, brüllte er dem Meer entgegen, das dann jedes Mal noch ein wenig wilder tobte.

Nur seine Frau Helge mochte den Fischer dann noch zu bändigen. „Sag nicht solche Worte“, versuchte sie ihn immer und immer wieder zu beschwichtigen. „So redet man nicht. Das bringt Unglück!“ Doch Jan hob nur die Schultern. Was interessierte ihn das Geschwätz einer Frau schon.

Helge Classen war groß gewachsen und so wie ihr Mann vom Wetter gegerbt. Noch erkannte man in ihrem Gesicht die verblühende Schönheit, die es einstmals ausgestrahlt hatte. Ja, Helge Classen war ein hübsches junges Ding gewesen, dem viele junge Männer gerne den Hof gemacht hatten. Viele von denen waren aus gutem Haus gewesen und hätten ihr ein vortreffliches Leben in Reichtum bescheren können. Ein Leben ohne Mühen und Arbeit. Doch Helge hatte sich für Jan Classen entschieden, den armen Fischer.

In ihn hatte sie sich verliebt, und auch er liebte die junge Frau von Herzen, auch wenn er manchmal ein wenig grob mit ihr umging. Helge hatte alle Warnungen ihrer Mutter in den Wind geschlagen und dem eigensinnigen Mann das Ja-Wort gegeben.

ie Ehe war über die Jahre hinweg glücklich geblieben. Helge war ihrem Mann nicht nur eine gute Frau, sondern half ihm auch fleißig bei der Arbeit. Mitunter fuhr sie sogar mit ihm hinaus aufs Meer, um ihn beim Fischfang zu unterstützen. Doch eines trügte das Glück der Eheleute. Noch immer hatten sie kein eigenes Kind, und darüber war vor allen Dingen Helge mehr als traurig. Wie gerne hätte sie einen kleinen Jungen oder ein kleines Mädchen in den Armen gewiegt.

Jan Classen war im Gegensatz zu seiner Frau ein Eigenbrödler. Nicht zuletzt aus diesem Grund hatte er sein kleines Haus weit außerhalb des Dorfes auf den Klippen der Kreidefelsen gebaut. Immerhin hatte er bei dem Bau berücksichtigt, eine Wasserquelle in der Nähe zu haben, um so seiner Frau das Wasserholen nicht allzu schwer zu machen.

Diese Quelle sprudelte das frischeste Wasser überhaupt in der Gegend, doch sie barg irgendein Geheimnis, das hatte Helge schon bei ihrem ersten Besuch gespürt. Irgendwie hatte sie das Gefühl gehabt, dass jemand sie ansah und sich ein Gesicht im Wasser gespiegelt hatte, das nicht das ihre gewesen war.

Doch als sie zu Hause ihrem Mann von diesem Erlebnis erzählte, da hatte er sie nur herzhaft ausgelacht. Eines Tages aber, als Helge wieder einmal mit ihren Eimern an der Quelle saß, kam Knut, der alte Ziegenhirt, daher und sprach sie an. „Du dummes Weib“, sagte er, „was tust du denn da? Du kannst doch aus dieser Quelle kein Wasser holen. Weißt du denn nicht, dass das hier der Eingang zu der Behausung des Klabautermanns ist?“

Vor lauter Schreck ließ Helge den Eimer fallen. „Was“, stammelte sie voller Entsetzen. „Hier wohnt der alte Wassergeist, der so viel Unheil über die Seeleute bringt?“ „So ist es“, entgegnete der alte Mann. „Nimm dich vor ihm in acht.“

Doch auch als Helge ihrem Mann Jan von diesem Erlebnis berichtete, lachte er nur. „Du glaubst doch nicht wirklich diesen Unsinn, den dir der alte Ziegenhirte erzählt hat“, spottete er höhnisch. Und damit war für ihn die Sache erledigt.

Helge aber ging fortan nur noch mit einem mulmigen Gefühl zur nahe gelegenen Quelle. Denn jedes Kind kannte zu dieser Zeit die Sagen um den Klabautermann, der bei Unwettern ganze Besatzungen und ihre Schiffe auf den Grund des Meeres beförderte. Kaum hatten die Seeleute dann ihren letzten Atemzug getan, da soll der Klabautermann jedes Mal in gellendes Gelächter ausgebrochen sein – so erzählte man sich auch auf Rügen unheimliche Geschichten über ihn.

Helge war so unglücklich über den vermeintlichen Nachbarn, dass sie eines Tages ihrem Mann vorschlug, ein neues Haus im Dorf zu bauen. Sie wolle auch alle Ersparnisse dafür opfern, bettelte sie. Doch Jan Classen wollte erneut von dem Ansinnen seiner Frau nichts wissen.

Eines Tages, als Helge wieder einmal am Ufer des Baches saß, in den die Quelle des Klabautermanns ihr Wasser sprudelte, da wurde sie plötzlich durch ein lautes Platschen unmittelbar neben sich aus ihren Gedanken gerissen. Als sie den Blick ins Wasser lenkte, sah sie dort ein Kind zappeln und strampeln – und zog es sofort heraus.

An Land prustete das Menschenkind, das sich schnell als kleiner, vielleicht dreijähriger Junge entpuppte. Auf Helges Frage, wer er sei und woher er komme, konnte der Kleine aber nur sagen: „Bautzmann!“ Ein komischer Name, dachte Helge bei sich und sah sich um. Doch nirgends war ein Erwachsener zu sehen, zu dem der Kleine hätte gehören können. So nahm sie ihn mit nach Hause, trocknete ihn und gab ihm zu essen.

Eine Schönheit, dass hatte die besorgte Frau gleich auf den ersten Blick gesehen, war der Junge nun wirklich nicht. Er hatte eine dicke Knollennase, weit auseinander liegende Augen, die grau schimmerten, und Beine so krumm, dass man hätte meinen können, er könnte darauf kaum laufen. Seine Haare hingen in langen schwarzen Strähnen herunter und der Körper war knorrig und starr. Nein, eine Schönheit war Bautzmann nun wirklich nicht.

Als Jan Classen am Abend dieses Tages vom Fischfang nach Hause kam, da staunte er nicht schlecht! Ein Kind, damit hatte er nun beim besten Willen nicht gerechnet. Natürlich war den Eheleuten schnell klar, dass sie den Jungen nicht einfach bei sich behalten konnten. Seine Eltern würden sicher schon nach ihm suchen.

Gleich am nächsten Morgen zog also Jan Classen ins Dorf aus, um sich nach den Eltern oder anderen Anverwandten des Kindes zu erkundigen. Doch niemand schien den Jungen zu vermissen. Niemand hatte gehört, dass ein Kinder verloren gegangen war. So kam es, dass Classens auch nach Wochen noch nicht wussten, wohin der Knabe, den sie Klaus getauft hatten, nun wirklich gehörte. Und so beschlossen Jan und Helge, Klaus Bautzmann einfach bei sich aufzunehmen.

Der Kleine machte sich gut und durfte mit Jan sogar hin und wieder einmal hinaus aufs Meer fahren. Zunächst war Jan dabei ein wenig bange gewesen, doch der Kleine zeigte an Bord eine unheimliche Standfestigkeit. Als er dann doch einmal über Bord gegangen war, stellte Jan sogleich fest, dass Klaus wie ein Fisch im Wasser schwimmen konnte. Das hätte er dem Kind gar nicht zugetraut!Vielleicht ist der Junge ja doch älter als er aussieht, dachte er bei sich, verschwendete dann aber keinen weiteren Gedanken daran, sondern kehrte zu seiner Arbeit zurück.

Wenn Klaus nicht mit seinem Vater hinaus aufs Meer fuhr, dann half er der Mutter zu Hause bei ihren täglichen Pflichten. Einmal, als die beiden wieder zur Quelle gegangen waren, um Wasser zu holen, begegnete ihnen Knut der Ziegenhirte. Voller Entsetzen blickte er auf den Knaben und zog Helge beiseite. „Weibsbild“, raunzte er sie an, „weißt du denn nicht, wen du da an deiner Seite hast?“ „Das ist Klaus, unser Findelkind“, erwiderte Helge. „Klaus? Du hast wohl wirklich keine Ahnung“, sagte Knut. „Das ist der Klabautermann höchstpersönlich!“

Nun musste auch Helge über den Mann lachen: „Der Klabautermann ist also ein unschuldiges kleines Kind“, sagte sie spöttisch und drehte sich zum Gehen um. Der Kleine war seiner Mutter gefolgt und rief ihr zu: „Lass uns nach Hause gehen, Bautzmann hat Hunger.“ Als Knut der Ziegenhirte das Wort Bautzmann vernahm, zuckte er zusammen. Doch er sagte nichts mehr, sondern ging zurück zu seinen Ziegen, die ein Stück entfernt friedlich grasten.

So zogen die Monate ins Land. Seit dem Frühjahr lebte Klaus nun schon bei seinen Pflegeeltern. Inzwischen war es Herbst geworden und auf der Ostsee tobte ein herrlicher Sturm nach dem anderen. Die Unwetter bereiteten den Fischer arge Probleme, und so manche Frau hatte Angst um ihren Mann. Denn die mussten ja auch bei stürmischer See für den Unterhalt der Familien sorgen.

Auch Jan Classen fuhr mit seinem Boot hinaus aufs Meer. „Mir passiert nichts!“, sagte er eigenwillig, als Helge ihn wieder einmal auf die Gefahren ansprach. Dabei versprach das Wetter an diesem Tag mehr als schlecht zu werden. Schon peitschte der Regen über das Wasser, bäumten sich die Wellen auf. Doch Jan Classen fuhr unbeirrt hinaus.

Auch den kleinen Klaus hatte an diesem Tag eine große Unruhe gepackt. Und in einem unbeobachteten Augenblick war er Helge entschlüpft. Bis zum Einbruch der Dunkelheit hatte sie sich noch keine Sorgen um den Verbleib des Kindes gemacht, denn es passierte schon öfter einmal, dass Bautzmann längere Zeit von zu Hause weg blieb. Doch es wurde dunkler und dunkler - und von dem Kind war weit und breit nichts zu sehen. Da packte Helge große Sorge und sie machte sich auf die Suche nach dem Kind.

Draußen tobte noch immer ein unbändiger Sturm. Alle Mächte des Himmels schienen sich verschworen zu haben. Von dem Kind aber gab es keine Spur. Ganz unvermittelt traf Helge wieder auf den alten Ziegenhirten, den sie bat, sie bei der Suche nach Klaus zu unterstützten.

Knut verzog zuerst das Gesicht, doch dann willigte er ein. „Ich denke“, so sagte er, „wir brauchen gar nicht lange suchen. Folge mir!“ Und dann ging er mit Helge durch die Nacht, hinaus an den entfernt gelegenen Hertasee, dessen Wasser aufgrund seiner Färbung keinen guten Ruf bei den Dorfbewohner genoss. Niemand wäre je auf die Idee gekommen, hier auch nur seinen Fuß hinein zu setzen, geschweige denn sein Trinkwasser zu holen. „Hier werden wir den Klaus sicher nicht finden“, rief Helge gegen den tosenden Wind an. Doch Knut erwiderte nur: „Warte es ab!“

Kaum hatte er die Worte ausgesprochen, als sich über dem See eine unheimliche Lichtgestalt zeigte. Herta, die weiße Frau, präsentierte sich in dieser Nacht in ihrer vollen Pracht. Wie ein Schleier leuchtete ihr Haar in der Dunkelheit. Das gab es doch gar nicht! Sollten hier etwa alle Wassergeister, Kobolde und Erdgeister zum Leben erweckt werden. Helge traute ihren Augen nicht.

Aber sie sah das Geschehen dort auf dem See ja mit eigenen Augen. Entsetzt blickte sie zu dem alten Ziegenhirten, der noch immer an ihrer Seite stand. Gerade als Helge etwas zu ihm sagen wollte, sah sie aus dem Augenwinkel heraus einen verschrobenen Gnom aus dem Wasser aufsteigen. Keine Frage, das musste der Klabautermann sein. Und obwohl er viele Jahre älter war als ihr Klaus, ihr Bautzmann, erkannte sie mit den Augen der Mutter den Sprößling sofort. Da wusste Helge, was der alte Knut damals gemeint hatte, als er den Bautzmann das erste Mal erblickt hatte! Ja, dieser Sohn war nun für sie verloren. Betrübt ging Helge nach Hause zurück.

Unterdessen hatte sich auf dem Meer ein solcher Sturm breit gemacht, wie ihn die Welt bis dahin noch nicht gesehen hatte. Jan Classen kämpfte unermüdlich mit den gewaltigen Kräften des Meeres, doch je mehr Intensität er in sein Tun steckte, desto schlimmer brauste und sauste es um ihn herum. Schon verließen ihn die Kräfte. Nein, so wurde er sich nun bewusst, dieses Mal würde ihn das Meer besiegen. Er blickte dem Tod ins Auge.

Doch gleich einer Halluzination sah er plötzlich eine Gestalt vorne auf dem Kiel seines Bootes sitzen. Gnomengleich und mit langem Bart. Irgendwo hatte er dieses Gesicht schon mal gesehen. Nur wo? „Bist du es“, fragte Jan erschrocken. „Bist du der Klabautermann? „Hat nun mein letztes Stündlein geschlagen?“

Furchterregend lachte das Männlein auf. „Ja, ich bin es“, entgegnete es dem Fischer. „Ich bin ... Klaus Bautzmann.“ Da schwanden Jan Classen die Sinne und er wusste, dass er dem Tod nun nicht mehr entrinnen konnte. So ergab er sich in sein Schicksal.

Doch der Klabautermann meinte es gut mit dem Mann. Als Jan nämlich die Augen wieder aufschlug, lag er nicht mehr in seinem Boot auf tobender See, sondern in seinem weichen und warmen Bett. An seiner Seite saß Helge, seine Frau, und hielt ihm die Hand. „Wir haben dich heute Morgen am Strand gefunden“, erklärte sie ihm auf seine fragenden Blicke hin. „Du warst bewusstlos und verletzt.“

Ja, nun spürte es Jan auch. Er fühlte sich schwach und ausgelaugt, zugleich aber auch von einer Leichtigkeit beschwingt, wie noch nie zuvor in seinem Leben. Der Klabautermann hatte ihn also nicht geholt.

Jan Classen war von diesem Tage an ein anderer Mensch. Weder aufbrausend noch selbstsüchtig. Das Häuschen an den Klippen gab er auf und erbaute ein hübsches Heim gemeinsam mit seiner Frau Helge mitten im Dorf. Zu beider Glück wurde Helge schwanger und gebar einen prächtigen Sohn, der der Stolz seiner Eltern wurde.

Klaus aber sahen sie nie wieder...