Der Prinz bei den Bettlern

  • Autor: Twain, Mark

Am nächsten Tag brach die Bande ins Winterlager auf. Die Stimmung war mürrisch. Schweigsam und durstig gingen sie über matschigen Boden. Das Wetter war grau und winterlich kalt.

Der Kraftprotz sorgte dafür, dass der kleine König von Canty in Ruhe gelassen wurde. Dafür musste Edward aber mit Hugo gehen. Während des Tages wurde die Luft milder und nach einiger Zeit hob sich auch die Stimmung der ganzen Gruppe. Sie wurden sogar wieder so übermütig, dass die anderen Leute, die ihnen auf dem Weg begegneten, auswichen und Beleidigungen einsteckten, gegen die man sich normalerweise wehren würde.

Sie stahlen Wäsche von der Leine fremder Häuser. Zwischendurch ruhten sie sich im Gras aus. In einer kleinen Ortschaft forderte Hugo den kleinen König auf, seinem Broterwerb, dem Betteln nachzukommen. Doch Edward weigerte sich und behauptete, gar nicht zu wissen, wie das gehe.

"Spiel dein Theater ruhig weiter … Aber wenn du dich zu betteln weigerst, was machen wir dann? Plündern wir dieses Haus da drüben!"

Der kleine König antwortete: "Hör auf mit dem langweiligen Geschwätz!"

Da wurde Hugo ärgerlich. "Du willst weder betteln noch stehlen. Was soll das? Ich werde jetzt betteln und du bist der Lockvogel. Und wenn du nicht spurst …"

Edward wollte gerade eine erhabene Antwort geben, da fuhr ihm Hugo über den Mund: "Still. Da kommt ein gutmütig aussehender Mann. Ich werde jetzt so tun, als hätte ich Magenkrämpfe. Wenn er herkommt, dann heul los, was das Zeug herhält. Verstanden? Du wirst ganz mitleidig tun und ihm erklären, dass ich dein armer kranker Bruder bin. Dann fragst du nach einem Penny. Hast du mich verstanden, Jack? Und du hörst nicht auf mit dem Gejammer, bis er seine Taschen geleert hat."

Und schon begann Hugo mit dem Theater. Und es war kaum zu glauben, aber der Fremde fiel tatsächlich darauf herein. Hugo wälzte sich auf dem Boden: "Oh Grundgütiger, mein Bruder wird Euch gleich alles erzählen …" Und schon zog der Fremde seine Geldtasche heraus und meinte: "Komm, wir tragen deinen Bruder in dieses Haus da drüben …"

Da stellte Edward klar: "Ich bin nicht sein Bruder."

Doch der Fremde bezichtigte ihn der Lüge und beschimpfte ihn als hartherzigen egoistischen Kerl. "Wer sonst sollte das denn sein?", rief er aufgebracht.

Edward rief: "Ein Bettler und Dieb! Zieht ihm mit eurem Stock eins über und ihr werdet eine Blitzheilung erleben!"

Hugo wollte diese Wunderheilung gar nicht erst abwarten. Er rannte wie von einem Löwen verfolgt davon. Natürlich schimpfte der enttäuschte Samariter. Der kleine König blieb zurück und verlor keinen Moment, seine frisch gewonnene Freiheit zu nutzen. Er floh in die entgegengesetzte Richtung und wurde erst langsamer, als er glaubte, genügend Vorsprung zu haben. Immer wieder blickte er ängstlich zurück. Stunden später klopfte er hungrig an ein Bauernhaus. Doch bevor er etwas sagen konnte, jagte man ihn fort.

Enttäuscht wanderte er weiter und er schwor sich, das nächste Mal besser zu reagieren. Erst gegen Abend getraute er sich wieder, an einem Haus zu klopfen. Auch hier wurde er mit den schlimmsten Beschimpfungen weggejagt.

Die Dunkelheit brach herein und mit ihr der Frost. Immer noch wanderte der kleine König durch die Gegend. Noch nie war er nachts alleine im Freien gewesen. Außerdem schmerzten seine Füße und er fühlte sich müde und ausgebrannt. Die Nacht fühlte sich unheimlich an. Er hörte Geräusche und Stimmen, doch wirklich sehen konnte er niemanden. Selbst das Rascheln der Blätter erschreckte ihn.

Irgendwann sah er eine Laterne vor einem offenen Scheunentor. Aber es waren Knechte drinnen. Da versteckte er sich, bis die beiden Burschen weggingen. Danach nahm er sich zwei herumliegenden Pferdedecken, die er im Namen der Krone Englands leihen wollte, und bereitete sich ein Lager. Glücklich lag er unter den Decken, die nach Pferd rochen und schon abgenutzt waren. Trotz seines Hungers fiel er in einen leichten Schlaf.

Plötzlich, mitten in der Nacht, stupfte ihn etwas. Der kleine König hielt erschrocken die Luft an. Nach einer Weile schlummerte er wieder ein. Doch wieder wurde er durch ein Stupfen wach. Vorsichtig tastete er in Armeslänge um sich herum. Seine Hand folgte einem warmen Seil, an dem ein Kalb hing. Das Seil entpuppte sich nämlich als Kälberschwanz.

Froh, dass sich das unbekannte Wesen als freundliches Tier herausgestellt hatte, beschloss er, mit dem Kalb Freundschaft zu schließen - trotz des Standesunterschiedes. Er kuschelte sich an das warme Kälbchen und fühlte sich warm und geborgen wie in seinem Daunenbett im Palast.

Wieder in Freiheit konnte ihn auch niemand mehr zum Betteln zwingen. Er befand sich weit weg von dem Gesindel und hatte ein Dach überm Kopf und angenehme Gesellschaft. Allein das genügte, ihn glücklich zu machen! Selbst der starke Wind konnte ihm keine Furcht mehr einjagen. Der kleine König fand das Leben so schön!

Bald war er an seinen neuen Freund gekuschelt eingeschlafen. Um ihn herum bellten Hunde, der Wind heulte um die Scheune und das Kälbchen schnaufte, während es draußen regnete - doch der kleine König schlief friedlich. Das kleine Kälbchen schlief ebenfalls tief und fest, denn die Tatsache, dass er sein Lager mit dem König teilte, beeindruckte ihn wenig.