Der Prinz verschwindet

  • Autor: Twain, Mark

Plötzlich überkam die beiden Freunde bleierne Müdigkeit. In königlicher Manier befahl der kleine König, ihm seine Lumpen abzunehmen. Hendon entkleidete ihn ohne Widerspruch und brachte den Jungen zu Bett.

Da seine Liegestatt damit belegt war, wusste er erst nicht, wo er nun nächtigen sollte. Doch der kleine König, der diese Ratlosigkeit bemerkt hatte, riet ihm: "Legt Euch als Wache vor die Tür!" Daraufhin schlief er tief und fest ein. Hendon legte sich seinem Schicksal ergebend vor die Tür und überlegte, dass der Kleine seine Rolle zu gut spielte. Und da er in den letzten sieben Jahre manche Nacht noch bescheidener zugebracht hatte, wollte er jetzt auch nicht jammern.

Er schlief erst früh am Morgen ein, dafür wachte er erst gegen Mittag auf. Sein Schützling schlief noch. Da nahm er heimlich Maß an dem Kleinen - er konnte ja nicht ewig in diesen Lumpen herumlaufen. Er war gerade fertig, als der kleine König erwachte, um sich über die kühle Luft zu beklagen. Außerdem wollte er wissen, was Hendon bei ihm so nah am Bett gemacht habe.

"Ich gehe einige Minuten weg, werde aber gleich wieder zurück sein", sagte Hendon. Aber während er den König zudeckte, schlief er schon wieder ein. Tatsächlich kam Hendon nach einer halben Stunde wieder zurück. Er hatte beim Händler einen Anzug gekauft; zwar aus billigem Stoff, aber sauber und warm. Hendon bedauerte, nicht mehr Geld zur Verfügung zu haben, um dem Jungen einen neuen Anzug kaufen zu können. Trotzdem summte er zufrieden vor sich hin.

Während der kleine König noch im Schlaf verweilte, flickte er den Anzug und besserte ihn aus, wo es nötig war. Auf die Schuhe war er sehr stolz. Wahrscheinlich ist der Junge das ganze Jahr über barfuß gelaufen, dachte er. Aber er wird sich schon dran gewöhnen.

Er summte weiter sein Lied von der Frau, die einst in London lebte … während seine Gedanken wieder zu seinem Geldbeutel schwirrten. "Das Zimmer nebst Frühstück ist bezahlt und es würde immer noch für zwei Esel reichen und für die Tage, bis wir in Hendon Hall ankommen. Und dort, mein Kleiner, werden wir im Überfluss leben können", dachte er laut vor sich hin.

Zwischendrin stach er sich mit der Nadel, doch er war von seinen langen Reisen gewohnt, die Arbeit der Frauen selbst zu verrichten. Stolz betrachtete er sein gepflegtes Werk. Fast besser, als ein Schneider es gemacht hätte, dachte er.

Nun war es an der Zeit, den Jungen aufzuwecken, sich auf den Weg nach Southwark aufzumachen. "Sire, darf ich Sie bitten, aufzustehen?" Nichts rührte sich. Er versuchte es noch einmal. Als sich wieder niemand bewegte, schlug er die Zudecke zurück: Der Knabe war weg!

Der entsetzte Hendon ließ seinen Blick durch das Zimmer gleiten und erkannte, dass auch die lumpigen Kleider des Jungen fehlten. Wütend schrie er nach dem Wirt. Stattdessen trat just in diesem Moment der Hausknecht mit dem Frühstück ein. An ihm ließ er seine ganze Fassungslosigkeit aus. "Wo ist er!", schrie er. "Was ist geschehen, du Mistkerl!" Der arme Hausknecht brachte vor Schreck kein Wort heraus.

Nach einer Weile konnte der zitternde Knecht berichte, dass ein junger Kerl den Buben abgeholt hätte. Ihm hätte man gesagt, der gnädige Herr würde nach ihm schicken und auf der anderen Seite der Brücke, am Ufer von Southwark, auf ihn warten. Natürlich wäre der Junge ungehalten gewesen, ob der frühzeitigen Störung seiner Nachtruhe. Doch er hätte daraufhin seine Lumpen angezogen und wäre dem Fremden gefolgt.

"Als ich von meinem kurzen Ausflug zurückkam, war das Bett so gerichtet, als läge der Junge noch drin … wie kann das sein?", erboste sich Hendon. Der Hausknecht antwortete prompt: "Der junge Mann machte sich am Bett zu schaffen, vielleicht war er es."

Hendon war klar, dass man nur Zeit gewinnen wollte und den Vorsprung herausholen. "War der Mann alleine?", fragte er weiter. Erst zögerte der Knecht aber nach einer Weile - Hendon setzte ihn in seiner Wut gewaltig unter Druck - erinnerte er sich daran, dass den Beiden ein grässlicher Kerl gefolgt sei. Hendon fragte noch nach der Richtung, in die die fremden Männer mit dem Jungen gegangen waren. Dann schickte er den Hausknecht erbost zum Teufel. "Verschwinde, geh mir aus den Augen, bevor ich mich vergesse!", schrie er.

Fluchtartig verließ der Knecht die Kammer. Hendon überholte ihn auf der Treppe und brummelte vor sich hin: "Bestimmt war es dieser gemeine Kerl, der behauptet hatte, sein Vater zu sein. Jetzt habe ich meinen kleinen König verloren. Doch ich werde nicht aufgeben! Ganz England werde ich nach ihm absuchen. Der arme Kleine!"

Während Hendon sich ins Gewühl auf der Brücke begab, murmelte er: "Er war verärgert, der Kleine … Trotzdem zog er sich an und begab sich auf den Weg, um meiner Bitte nachzukommen. Dieser liebe Junge. Für keinen anderen Menschen auf der Welt hätte er das getan, da bin ich mir sicher!"