Die Abenteuer des Sherlock Holmes: Ein Skandal in Böhmen

  • Autor: Doyle, Arthur C.

1. Kapitel 1
2. Kapitel 2
3. Kapitel 3

 

 

1. Kapitel 1

Von Irene Adler sprach Sherlock Holmes fast immer nur als von der Frau. Für ihn verkörperte sie das weibliche Geschlecht wie keine andere. Dabei empfand er für sie keineswegs so etwas wie Liebe; nein, sein kühler, präziser und ausgesprochen scharfer Verstand erlaubte ihm solche Empfindungen einfach nicht, sie waren ihm sogar regelrecht unangenehm.

Mir erschien Holmes immer als die perfekteste Denk- und Beobachtungsmaschine, die die Welt je gesehen hat, aber ein guter Liebhaber ist er wohl nie gewesen. Über große Gefühle sprach er stets nur mit Hohn und Spott; allerdings diente ihre Beobachtung hervorragen dazu, Motive und Taten von Menschen zu erklären. Ihn selbst störten und verwirrten solche Empfindungen eher und deshalb ließ er sie ganz einfach nicht zu.

Durch meine Heirat hatte ich Sherlock Holmes in der letzten Zeit kaum gesehen, denn ich lebte mit meiner jungen Frau natürlich nicht mehr bei ihm in der Baker Street. Aus Zeitungsberichten wusste ich aber, dass er sich nach wie vor mit der Lösung von Kriminalfällen beschäftigte, die die Polizei als hoffnungslos aufgegeben hatten.

Ich hatte meine Tätigkeit als Arzt wieder aufgenommen und so kam ich eines Abends - es war der 20. März 1888 - von einem Patientenbesuch zurück.

Mein Weg führte mich durch die Baker Street an seiner Wohnung vorbei. Da seine Zimmer hell erleuchtet waren und ich den Schatten seiner Gestalt im Zimmer erkannte, beschloss ich, ihm einen Besuch abzustatten.

Die Art wie er sich bewegte und seine ganze Haltung sagte mir, der Holmes sehr gut kannte, dass er bei der Arbeit war. Als ich die Türglocke zog, wurde ich eingelassen und zu seinem Zimmer geschickt, das ich früher selbst mit ihm zusammen bewohnt hatte.

Er begrüßte mich nicht gerade überschwänglich, aber ich glaube doch, dass er sich freute, mich wieder zu sehen. Er sprach kaum etwas, bot mir aber sowohl eine seiner Zigarren als auch einen Drink an, blieb vor dem Kamin stehen und musterte mich in seiner für ihn typischen Art.

"Die Ehe bekommt Ihnen und sie haben anscheinend seit unserer letzten Begegnung siebeneinhalb Pfund an Gewicht zugelegt, außerdem praktizieren sie wieder, was sie mir bisher nicht erzählt haben"

"Zugenommen habe ich sieben Pfund", gab ich zurück und woher wissen Sie, dass ich wieder als Arzt arbeite?"

"Nun ich sehe und ziehe daraus meine Schlussfolgerungen. Und ich weiß noch mehr: Sie sind vor kurzem sehr nass geworden und Sie haben ein sehr ungeschicktes und nachlässiges Dienstmädchen."

Völlig überrascht antwortete ich: "Mein lieber Holmes, hätten sie ein paar Jahrhunderte früher gelebt, wären Sie sicherlich als Hexer verbrannt worden. Woher um Himmels Willen wissen Sie….??? Sie haben mit beiden Behauptungen recht, aber wie sie darauf kommen, ist mir schleierhaft."

Holmes lachte in sich hinein, rieb sich seine langen Hände und meinte: "Nichts einfache als das: Der Zustand Ihrer Schuhe verrät mit, dass Sie durch Schlamm gegangen sind, und dieser wurde nur sehr schlecht entfernt und der Sohlenrand wurde dabei durch sieben fast parallele Schnitte beschädigt.

Daraus schließe ich:

a) Sie waren bei schlechtem Wetter unterwegs und
b)Ihr Dienstmädchen versteht nicht viel vom Schuhereinigen und ist dabei auch noch unvorsichtig; zu meinem Schluss, dass Sie wieder als Arzt tätig sind komme ich folgendermaßen:
c)\tSie bringen den Geruch von Jod mit ins Zimmer, Ihr rechter Zeigefinger hat einen schwarzen Fleck von Silbernitrat und die Beule seitlich an Ihren Hut verrät, wo Sie Ihr Stethoskop untergebracht haben. Was kann das anderes bedeuten, als dass Sie praktizierendes Mitglied der ärztlichen Zunft sind?"

Über die Leichtigkeit, mit der er seine Schlussfolgerungen erklärte, musste ich lachen. "Ich bin jedes Mal wieder verblüfft, wenn Sie das Resultat Ihrer Beobachtungen vortragen. Aber wenn Sie dann Ihre Gedankengänge erklären, denke ich jedes Mal wieder, dass sie so lächerlich einfach sind, dass ich auch selbst hätte darauf kommen können. Und doch gelingt es mir nicht, obwohl ich sicherlich über genauso gute Augen verfüge wie Sie."

"Das stimmt schon, mein lieber Watson. Sie sehen wohl, aber Sie beobachten nicht. Lassen Sie mich den Unterschied an einem kleine Bespiel demonstrieren: Sie haben doch häufig die Stufen zu meinen Zimmern gesehen und sind sie sogar selbst gegangen." "Ja sehr häufig, sicherlich einige hundert Male." "Nun, wie viele sind es?" "Wie viele? Ich weiß es nicht" "Sehen Sie, genau das meine ich! Sie haben gesehen aber nicht beobachtet. Ich weiß, dass es 17 Stufen sind, denn ich habe gesehen und beobachtet."

Nach diesem kleinen Wortwechsel meinte er, er habe da übrigens eine Sache, die mich interessieren könnte. Er reichte mir ein rosafarbenes, schweres Blatt Briefpapier, das bisher offen auf dem Tisch gelegen hatte und bat mich seinen Inhalt laut vorzulesen. Es sei mit der letzten Post gekommen.

Der Brief enthielt weder Datum noch Unterschrift oder Adresse. In dem Schreiben wurde für diesen Abend ein Besucher bei Sherlock Holmes angekündigt, der eine Maske tragen werde. Darüber hinaus wurden in dem Brief die Zuverlässigkeit und Diskretion von Holmes gelobt, die er zuletzt bei einem Auftrag eines europäischen Königshauses an den Tag gelegt habe.

Ich frage Holmes, ob er ahne, wer ihn am Abend aufsuchen werde. Er verneinte das und lehnte es als schweren Fehler ab, darüber zu spekulieren, da ihm noch viel zu wenige Fakten bekannt seien.

Aber zu dem Brief sagte er dann doch einiges. Zunächst aber befragte er mich, was ich von dem Brief halte. "Es handelt sich um ein recht teueres Papier, das mindestens eine halbe Krone je Bogen kostet und sich eigentümlich stark und steif anfühlt. Wer ein solches Papier benutzt, ist sicherlich ein wohlhabender Mann."

Holmes stimmte mir zu, machte mich dann auf die Buchstaben aufmerksam, die als Wasserzeichen in das Papier eingearbeitet war. Mir sagten diese Buchstaben nicht viel, ich hielt sie aber für ein Firmenzeichen oder den Namen des Herstellers.

Holmes leitet daraus allerdings weit mehr ab. Durch Verwendung eines dicken Lexikonbandes stellte er fest, dass das Papier in einer Papiermühle in Böhmen hergestellt worden war. Und aus dem Stil, in dem der Brief geschrieben war schlussfolgerte Holmes, dass der Schreiber Deutscher sein müsse.

Draußen waren die Geräusche von Rädern und von Pferdehufen zu hören, woraus Holmes nicht nur schloss dass die Ankunft seines Gastes unmittelbar bevorstehe, sondern er konnte auch exakte Angaben zu dem Gespann machen, die durch einen Blick aus dem Fenster bestätigt wurden.

Ich wollte mich rasch verabschieden, aber Holmes bat mich zu bleiben und meinte, dass er eventuell meine Hilfe in der Angelegenheit gebrauchen könne.

Schon klopfte es an der Tür und auf Holmes "Herein" betrat ein unglaublich großer Mann den Raum. Er trug prächtige Kleidung, so prächtig, wie man es in England schon fast für ein Zeichen schlechten Geschmacks halten könnte.

Seine Jacke war pelzbesetzt, sein mit Seide gefütterter Umhang wurde von einer Brosche aus einem großen Beryll, einem äußerst wertvollen Edelstein, zusammengehalten. Die bis zur halben Wade reichenden Stiefel waren ebenfalls mit Pelz besetzt. In der Hand trug er einen Hut mit breiter Krempe und sein Gesicht wurde im oberen Teil von einer Halbmaske bedeckt.

Wer aus Gesichtszügen auf den Charakter eines Menschen zu schließen weiß, würde in diesem Mann einen Menschen mit starkem Charakter und großer Entschlusskraft bis hin zum Eigensinn erkennen.

"Haben Sie meinen Brief erhalten, in dem ich Ihnen meinen Besuch ankündigte?" Er sprach mit ausgeprägtem deutschen Akzent und sah unsicher zwischen Holmes und mir hin und her.

"Bitte nehmen Sie Platz. Erlauben Sie mir, Ihnen meinen Freund und Kollegen Dr. Watson vorzustellen, der mir hin und wieder bei der Arbeit an meinen Fällen behilflich ist. Darf ich fragen, mit wem ich es zu tun habe?"

"Sie können mich als Grafen von Kramm ansprechen, einen Adligen aus Böhmen." Der Graf deutete an, dass er eigentlich lieber mit Holmes alleine sprechen würde, der aber machte ganz klar, dass er sich das Anliegendes Grafen nur anhören würde, wenn auch ich im Raum wäre.

Der Graf begann seine Erläuterungen damit, dass er zunächst Holmes und auch mich für 2 Jahre zu absolutem Stillschweigen über die gleich zu hörende Angelegenheit verpflichtete; er behauptete, dass sie zum jetzigen Zeitpunkt so wichtig sei, dass sie sogar für die europäische Geschichte von Bedeutung habe. In 2 Jahren aber sei sie hoffentlich unwichtig geworden. Nachdem Holmes und ich uns mit unserer Schweigepflicht einverstanden erklärt hatten begann der Graf mit seinem Bericht.

Mit allerlei Umständen versuchte er noch immer seine Identität vor uns zu verbergen, was ihm aber nicht gelang, denn Holmes sagte ihm auf den Kopf zu, dass erschon vom ersten Augenblick an gewusst habe, dass sein Besucher niemand anderes als Seien Majestät der König von Böhmen sei. Holmes kannte sogar seinen vollständigen Namen und seine Titel: Wilhelm Gottsreich Sigismond von Ormstein, Großherzog von Cassel-Falstein und erblicher König von Bohemia.

Völlig überrascht aber auch verzweifelt gab der Gast zu, tatsächlich der König selbst zu sein und er erklärte, dass sein Anliegen so heikel sei, dass er es unbedingt persönlich mit Sherlock Holmes besprechen müsse, ohne dass ein Mittelsmann eingeschaltet sei.

Dann kam er ohne weiter Umschweife zur Sache: er hatte vor ca. 5 Jahren, damals noch Kronprinz, eine junge Frau, eine bekannte Abenteuerin - Irene Adler - kennen gelernt, sich in die verliebt und "mit ihr eingelassen". Aus dieser Zeit besitze Irene Adler Briefe und ein Bild seiner Majestät mit denen sie nun versuche ihn zu erpressen, schlimmer noch ihn zu ruinieren.

Holmes bat mich, in seinem umfangreichen Dokumentationssystem nachzusehen, was es an Informationen über Irene Adler enthalte. Das war in etwa folgendes: 1858 in New Jersey geboren, Sängerin (Altistin), Engagement an der Mailänder Scala und Primadonna an der kaiserlichen Oper in Warschau. Rückzug von der Opernbühne, lebt seither in London.

Holmes fragte nach gesetzlichen Papieren, Urkunden evtl. Heiraturkunde; nichts dergleichen existiere, beteuerte der König Das bisher Erfahrene beeindruckte Holmes wenig und ließ ihn kein wirkliches Problem erkennen, da man sowohl die Handschrift, das Briefpapier als auch das Siegel als Fälschung oder durch Diebstahl in unrechtmäßigen Besitzt gelangt, darstellen könne. Auch die Fotographie des Kronprinzen könne gekauft worden sein.

Hier aber lag das Problem: Auf dem Bild waren beide zusammen zu sehen. Das sah auch Holmes als eine ausgesprochene Unachtsamkeit seitens des Königs an, fand aber immer noch kein wirkliches Problem darin. Man könne schließlich versuchen, Frau Adler die Fotografie abzukaufen. Das sei versucht worden, Irene Adler weigere sich aber das Bild zu verkaufen.

Dann könne man versuchen es stehlen zu lassen. Auch das sei ergebnislos versucht worden und nicht nur einmal sondern 5 Mal sei dieser Versuch fehlgeschlagen. Irene Adler drohe nun damit, dieses Bild der Verlobten des Königs bzw. deren Familie zu schicken und zwar genau an dem Tag, an dem die Verlobung des Königs öffentlich bekannt gegeben werde. Das sollte in 3 Tagen, am kommenden Montag also, der Fall sein.

Sherlock Holmes übernahm den Fall. Er klärte noch die weiteren Details wie Anschrift von Frau Adler, Londoner Adresse des Königs und nicht zuletzt die Frage des Honorars und der Spesen. Für die laufenden Ausgaben erhielt er 300 Pfund in Gold und 700 Pfund in Banknoten, die er dankend quittierte.

Der König war im Langham-Hotel unter dem Namen des Grafen von Kramm erreichbar und Frau Adler wohnte unter der Adresse: Briony Lodge, Serpentine Avenue, St. John`s Wood. Holmes letzte Frage galt der Größe des Fotos. Es hatte Kabinett- Format.

Dann verabschiedete Holmes eilig den König und auch mich, bat mich aber, am folgenden Tag um 15 Uhr wieder bei ihm zu sein, um sich mit mir über die ganze Angelegenheit zu unterhalten.

 

 

 

2. Kapitel 2

Wie verabredet war ich Punkt 3 Uhr bei der Wohnung von Sherlock Holmes, aber er war noch nicht wieder zu Hause. Seine Wirtin erzählte mir, er habe das Haus vor acht Uhr am Morgen verlassen und sei bisher noch nicht zurückgekehrt. So beschloss ich, es mir vor dem Kamin gemütlich zu machen und auf Holmes zu warten.

Der Fall hatte mich schon längst in seinen Bann gezogen, auch wenn er weniger dunkel und geheimnisvoll zu sein schien als die letzten Verbrechen , über die ich zuletzt berichtet habe. Schon die außergewöhnlich hohe Stellung des Klienten gab der Geschichte ihren eigenen Charakter.

Außerdem hatte ich immer meine Freude daran, meinen Freund bei der Lösung seiner Fälle zu beobachten, denn er hatte eine ungewöhnliche Begabung Situationen zu erfassen, daraus Schlüsse zu ziehen und dadurch die verzicktesten Rätsel zu lösen. Bisher war er immer erfolgreich gewesen, so dass mir nicht im Traum eingefallen wäre, es könne jemals anders ein.

Kurz vor vier betrat plötzlich ein betrunken wirkender Stallbursche mit wirrem Haar, langen Koteletten, gerötetem Gesicht und schlampiger Kleidung den Raum. Ich musste mehrmals genau hinschauen, um in diesem Burschen meinen Freund zu erkennen und das, obwohl ich seine grandiosen Verkleidungskünste gut kannte.

Holmes nickte mir kurz zu und verschwand in seinem Schlafzimmer, um nach ca. 5 Minuten in seiner gewohnten Tweedjacke und auch sonst respektabel gekleidet wieder zum Vorschein zu kommen. In lautes Gelächter ausbrechend ließ er sich vor dem Kamin nieder und streckte sich genüsslich.

Immer noch lachend begann er von seinen Erlebnissen zu berichten. "Mein lieber Watson, Sie können sich nicht vorstellen, wie ich meinen Vormittag zugebracht habe und was mir doch ziemlich Ungewöhnliches widerfahren ist."

"Nun ich vermute, Sie haben versucht etwas über Irene Adlers Haus und vielleicht auch über ihre Lebensgewohnheiten in Erfahrung zu bringen."

"Ganz richtig, was mir übrigens auch gelungen ist. Aber was ich dann erlebt habe ist doch zu ungewöhnlich, als dass Sie es erraten könnten. Ich verließ gegen acht Uhr heute Morgen in der Verkleidung eines arbeitslosen Stallburschen das Haus. Sie müssen wissen, Pferdepfleger halten eng zusammen und helfen sich stets untereinander. Daher ist es gut, zu ihnen gute Beziehungen zu pflegen.

Ich begab mich also zu Briony Lodge, die ich schnell gefunden hatte. Es handelt sich um eine sehr schöne zweistöckige Villa. Die Vorderfront liegt direkt an der Straße, nach hintern heraus gibt es einen Garten. Die Haustür besitzt eines der sicheren Chubbschlösser, während die fast bis auf den Boden reichenden Fenster im Salon nur schlecht gesichert sind. Der große Salon ist gut möbliert und befindet sich von der Haustür aus gesehen rechts.

Außer der Tatsache, dass man das Korridorfenster von Dach der Garage aus von außen erreichen kann, gibt es keine weiteren Besonderheiten, die mir an dem Haus aufgefallen wären.

Also gesellte ich mich nun zu den Stallburschen und Pferdepflegern, half ihnen bei ihrer Arbeit und erfuhr so alles, was ich über Irene Adler und ihre Lebensgewohnheiten erfahren wollte.

Sie ist offensichtlich eine bezaubernde Person, die allen Männer in ihrer Umgebung den Kopf verdreht hat, aber sie lebt doch sehr ruhig.

Gelegentlich singt sie bei Konzerten, verlässt aber ansonsten selten das Haus außer zu ihren täglichen Ausfahrten. Immer um 17 Uhr nachmittags fährt sie fort und kehrt um Punkt 19 Uhr zum Dinner zurück. Herrenbesuch empfängt sie nur von einem Herren, das allerdings täglich mindestens ein- oft auch zweimal.

Auch zu ihm konnten mir die Kutscher etwas erzählen. Er heißt Godfrey Norten, ist Rechtsanwalt und wohnt am Innern Temple. Er scheint eine besonders wichtige Rolle in unserem Fall zu spielen.

Allerdings bin ich mir über die Beziehung der beiden noch nicht im Klaren: ist er ihr Anwalt und sie seine Klientin, sind sie nur miteinander befreundet oder ist sie seine Geliebte? Das zu wissen wäre wichtig, um Vermutungen über den Verbleib des Bildes anstellen zu können. Ist er nur ihr Anwalt, so wird sich das Bild mit großer Wahrscheinlichkeit bei ihm befinden, ist er ihr Geliebter, ist das höchst unwahrscheinlich.

Als ich noch darüber nachdachte, ob ich weiterhin Briony Lodge beobachten sollte oder aber den Räumlichkeiten des Mr. Norten einen Besuch abstatten sollte, fuhr eben dieser Herr vor der Villa fuhr, stürmte in das Haus und blieb ca. eine halbe Stunde. Ich konnte beobachten, wie er aufgeregt gestikulierend hin und her lief und mit jemandem sprach, anzunehmen, dass es Irene Adel war, die ich aber nicht sehen konnte.

Als Mr. Norten das Haus wieder verließ, war er in noch größerer Eile als zuvor, er stürmte zu dem Wagen und wies den Fahrer an so schnell als möglich zu zwei Adressen zu fahren, die letzte war St. Monica Kirche in der Edgeware Road. Er bot ihm eine zusätzliche Bezahlung, falls er sein Ziel in weniger als 20 Minuten erreichen würde.

Kaum war der Wagen weg, kam ein kleiner Landauer vorgefahren, der Kutscher in nur halb zugeknöpfter Uniform, das Pferdegeschirr mit noch offenen Schnallen. Der Wagen war noch kaum zum Stehen gekommen, als Irene Adler eilig einstieg und dem Fahrer dieselbe Adresse nannte und ebenfalls wünschte, in weniger als 20 Minuten dort anzukommen.

Ich beschloss, den beiden zu folgen und glücklicherweise kam auch sofort eine Mietkutsche, so dass auch ich den Fahrer aufforderte, so schnell als möglich zur Kirche St. Monica zu fahren. Ich glaube, ich bin in meinem ganzen Leben noch nicht so schnell kutschiert worden, dennoch kam ich etwas später bei der Kirche an als die beiden anderen. Ich ging in die Kirche hinein und dort war niemand außer Mr. Norten, Irene Adler und ein Geistlicher im Ornat.

Alle drei drehten sich plötzlich zu mir um und Godfrey Norten kam eilig auf mich zu und schleppte mich fast zum Altar. So wurde ich etwas unfreiwillig Trauzeuge bei Mr. und Mrs. Nortens Trauung. Daran scheint irgendetwas nicht ganz legal gewesen zu sein, denn der Priester war jedenfalls nicht bereit, ohne Zeugen die Amtshandlung vorzunehmen. Von der Braut erhielt ich als Lohn einen Sovereign, den ich wohl in Zukunft als Souvenir an meiner Uhrkette tragen werde."

"Welch unerwartete Wendung!" "Ja, und zunächst dachte ich auch, unser ganzer Plan könnte scheitern, aber an der Kirchtüre verabredete sie sich mit ihm für 5Uhr, wie gewöhnlich im Park und dann trennten sich die beiden, er fuhr zurück nach Temple und sie in ihr Haus.

Ich traf noch einige eigene Vorkehrungen und nun bin ich hier. Zunächst brauche ich eine Kleinigkeit zu essen, dazu bin ich den ganzen Tag noch nicht gekommen und dann wird es Zeit, mich auf meine neue Rolle vorzubereiten, denn heute Abend wird noch einiges geschehen. Dazu benötige ich übrigens wieder Ihre Hilfe, lieber Doktor."

"Mit dem größten Vergnügen, mein lieber Sherlock."

"Und es macht Ihnen nichts aus, eventuell dabei Gesetzte zu übertreten und in Gefahr zu geraten, verhaftet zu werden?" "Nicht wenn es dabei um eine gute Sache geht." "Das tut es." "Dann können Sie sich ganz auf mich verlassen." "Gut, Watson, dann will ich Ihnen während des Essens erklären, was Ihre Aufgabe sein wird. Die Zeit drängt ein wenig, wir müssen in spätestens 2 Stunden wieder vor Briony Lodge sein, denn dann wird Madame Irene von ihrer Ausfahrt zurückkehren und wir dürfen sie nicht verpassen.

Dann erklärte er mir, dass er bereits einiges arrangiert habe und ich zwar anwesend sein müssen, mich aber in nichts einmischen dürfe, egal was passiere. Meine einzige Aufgabe bestünde darin, mich in der Nähe der Salonfenster aufzuhalten, ihn zu beobachten und auf ein Zeichen von ihm hin, eine Rauchrakete, die er mir aushändigte, in den Salon zu werfen und "Feuer" zu schreien. Alles andere sollte ich ihm überlasen. Nach Beendigung meiner Aufgabe sollte ich mich zur Straßenecke begeben und auf ihn warten. Er werde zehn Minuten später wieder bei mir sein. Soweit meine Anweisungen, die ich befolgen sollte.

Des Weiteren erläuterte er mir seinen Plan noch etwas genauer und was wohl geschehen werde, nicht ohne mich nochmals darauf aufmerksam zu machen, mich aus allem, was ich sehen würde, tunlichst herauszuhalten.

Holmes verschwand nun erneut in seinem Schlafzimmer und kehrt wenig später in der Maske eines liebenwürdigen, einfältigen Geistlichen zurück. Dabei trug er nicht einfach nur ein Kostüm, nein er schien sein ganzes Wesen ausgewechselt zu haben. Mit Leib und Seele war er in seine Rolle geschlüpft. Der Bühne war mit Holmes ein glänzender Schauspieler, der Wissenschaft ein glänzender Denker verloren gegangen, als er sich entschieden hatte, Spezialist für die Lösung von Verbrechen zu werden.

Viertel nach 6 verließen wir Holmes Wohnung und kamen 10 Minuten vor 19 Uhr bei Briony Lodge in der Serpentine Road an. Mich erstaunte es ein wenig, dass die kleine Straße in der ruhigen Wohngegend um diese Zeit recht bevölkert war. In der Nähe des Hauses flanierten einige gut gekleidete junge Leute, zwei Soldaten unterhielten sich mit einem Kindermädchen, ein Scherenschleifer ging noch seinem Handwerk nach und an der Ecke standen einige schäbig gekleidete Männer, die rauchten und miteinander lachten.

Holmes und ich unterhielten uns während dessen über den möglichen Aufenthaltsort des gesuchten Bildes. Holmes ging davon aus, dass es sich im Haus befinden werde. Die anderen denkbaren Varianten, nämlich dass es sich bei Mrs. Adlers Bankier oder bei ihrem Rechtsanwalt befände, schloss Holmes nahezu aus.

Er glaubte, dass es am ehesten Irenes Adlers Sicherheitsbedürfnis entspreche, das Bild an einem sicheren Ort in ihrem eigenen Haus aufzubewahren. So könne sie verhindern, dass ihr "Jetzt-Ehemann" das Bild zu sehen bekäme, was ihr nach ihrer Heirat sicherlich sehr wichtig sei und andererseits sei es dort leicht von ihr zu erreichen, wenn sie es benutzten wolle.

"Aber wie und wo wollen Sie das Bild genau suchen?" "Ich werde es nicht suchen, ich werde Irene Adler dazu bringen, dass sie mit den Aufbewahrungsort selbst zeigt." "Und sie glauben, das wird sie freiwillig tun?" "Sie wird nicht anders können, aber kommen Sie, ich höre ihren Wagen kommen. Halten Sie sich von jetzt an, genauestens an Ihre Anweisungen."

Schon bog der kleine Landauer um die Straßenecke und hielt vor Irene Adlers Haus. In der Hoffnung sich ein wenig Geld zu verdienen rannten einige der Männer herbei und wollten beim Aussteigen behilflich sein.

Es kam wie es kommen musste, der eine stieß den anderen zur Seite ein dritter und vierter mischte sich ein und schon war der schönste Streit im Gange, der dann auch schnell in Handgreiflichkeiten ausartete und schon flogen die Fäuste und Irene Adler befand sich mitten in diesem Durcheinander.

Jetzt griff Holmes in das Geschehen ein. Er näherte sich Irene Adler, um sie zu schützen, doch noch bevor er sie erreichte traf ihn offenbar ein Schlag, er schrie auf und ging zu Boden. Blut rann in Strömen über sein Gesicht. Die an der Schlägerei beteiligten Männer rannten in alle Richtungen davon, während die anderen, die bisher unbeteiligt zugesehen hatten nun heran drängten um Irene Adler und dem Verletzen zu helfen.

Irene Adler lief die Stufen zur Haustür hinauf, drehte sich oben aber um und erkundigte sich nach dem Befinden des tapferen Herren. "Er ist tot", schrie einer, "Nein, nein, er lebet, aber er ist doch sehr verletzt", rief ein anderer. "Jedenfalls kann er nicht hier auf der Straße liegen, dürfen wir ihn hineinbringen?" "Natürlich, kommen Sie, bringen Sie ihn in den Salon, dort steht eine bequeme Couch."

Gesagt getan, Holmes wurde ins Haus getragen. Ich hatte inzwischen meine Position an den Fenstern des Salons bezogen und konnte die ganze Situation in Ruhe beobachten. Von dort konnte ich sehen, dass sich Irene Adler äußerst liebevoll um den Verletzen kümmerte. Ich fragte mich, ob Holmes in dieser Lage nicht das schlechte Gewissen plagte, ich jedenfalls schämte mich ein wenig, wollte Holmes aber in keinem Falle im Stich lassen.

Da sah ich, das Holmes sich aufgesetzt hatte und anscheinend nach Luft rang. Die Fenster des Salons wurden geöffnet und schon sah ich, dass Holmes das verabredete Zeichen gab. Also warf ich die Rauchrakete in den Salon und rief "Feuer".

Sofort stimmten alle Umstehenden in meinen Schrei ein und rannten durcheinander. Unmittelbar darauf hörte ich die Stimme von Sherlock Holmes, wie er versicherte, dass es sich um einen Fehlalarm handele. Ich nutzte den Augenblick und schlüpfte durch die schreiende Menge und begab mich, wie vereinbart, zur Straßenecke. Wenige Minuten später spürte ich den Arm meines Freundes an meinem und wir verließen schnell den Ort des Geschehens.

Als wir in eine kleine Seitenstraße einbogen, lobte Holmes mich wegen meiner sehr gut erledigten Aufgabe. Ich fragte ihn, ob er die Fotografie habe, was er verneinte, aber er wisse nun ganz genau, wo sie sich befinde. Er wolle am nächsten Morgen zusammen mit dem König zurückkehren und das Bild wieder in den rechtmäßigen Besitz seiner Majestät geben.

Weder verstand ich ganz, wie Holmes sein Wissen über den Aufbewahrungsort erlangt hatte, noch konnte ich mir vorstellen, wie er das Bild am nächsten Morgen in seine Besitz bringe wolle. Und so erklärte er mir Folgendes.

"Dass der Tumult vor dem Haus inszeniert war, ist Ihnen sicherlich klar. Ich hatte ein wenig flüssige rote Farbe in der Hand, stürzte nach vorn, fiel und schlug die Hand vors Gesicht und schon war ich der Gegenstand des allgemeinen Mitleids. Ich wurde ins Haus gebracht und geradewegs in den Salon, wo ich das Bild vermutete. Es musste dort oder in ihrem Schlafzimmer sein. Dann bat ich um frische Luft, die Fenster wurden geöffnet und Sie hatten die Gelegenheit, die Rauchrakete zu werfen und den Feueralarm auszulösen.

Und Irene Adler reagierte genau so, wie ich es erwartet hatte. Wie jede Frau, die denkt ihr Haus stehe in Flammen, griff sie instinktiv nach dem, was ihr am wertvollsten ist, in ihrem Fall nach der Fotografie. Sie befindet sich in einem Fach hinter einer beweglichen Wandverkleidung über dem Klingelzug.

Mrs. Adler hatte die Fotografie gerade in der Hand und ich konnte einen kurzen Blick darauf werden, als ich ihr zurief, es handle sich um einen falschen Alarm. Darauf hin schob sie das Bild zurück, besah sich die Rauchrakete und verließ den Raum. Seither habe ich sie nicht mehr gesehen.

Ich erhob mich, entschuldigte mich und verschwand schleunigst aus dem Haus. Ich habe noch kurz überlegt, ob ich das Bild sofort an mich bringen sollte, aber da der Kutscher das Zimmer betrat und mich intensiv musterte, verwarf ich den Gedanken. Stattdessen werden wir morgen zusammen mit dem König in aller Frühe bei Mrs. Adler vorsprechen und bei dieser Gelegenheit das Bild in unseren Besitz bringen.

Wir werden so früh kommen, dass Irene Adler noch nicht aufgestanden ist, so haben wir freie Bahn im Salon, in den man uns sicher führen wird. Bis Madame angekleidet ist und zu uns in den Salon kommen wird, wird sie uns und die Fotografie schon nicht mehr vorfinden. Für seine Majestät aber wird es eine Genugtuung sein, wenn er das Bild eigenhändig wieder in seinen Besitz bringen kann. Sie sehen also, unser Fall ist so gut wie gelöst. Jetzt muss ich nur noch den König informieren.

In der Baker Street angekommen suchte Holmes kurz in der Manteltasche nach seinem Schlüssel, als er von einem jungen Mann, der eilig vorüber schritt mit "Gute Nacht, Mr. Sherlock Holmes" angesprochen wurde. "Ich habe die Stimme schon einmal gehört", meine Holmes. "Ich frage mich, wer das gewesen sein kann."

 

 

 

3. Kapitel 3

Diese Nacht verbrachte ich bei meinem Freund in der Baker Street. Wir waren noch beim Frühstück, als seine Majestät der König von Böhmen ins Zimmer stürmte.

"Sie haben das Bild wirklich?" "Nein noch nicht, aber Sie werden es gleich wieder in Ihren Händen halten." Ungeduldig drängte der König zum Aufbruch und bot an, gemeinsam in seiner Kutsche nach Briony Lodge zu fahren.

Auf der Fahrt informierte Holmes den König darüber, dass Irene Adler seit gestern verheiratet war, was den König sehr erstaunte. Aber er schloss sich der Meinung von Sherlock Holmes an, dass nicht besseres geschehen könne, als dass Irene ihren Gatten wirklich liebe, denn damit entfalle jeder Grund, dem König weitere Schwierigkeiten zu machen.

Doch auf irgendeine Weise schien er noch immer der verlorenen Liebe zu Irene Adler nachzutrauen. "Welch eine fantastische Königin hätte sie sein können, wäre sie nur von meinem Stande gewesen…." Den Rest der Fahrt über schwieg er.

Als wir in der Serpentine Avenue ankamen, stand die Tür von Briony Lodge offen und eine ältere Frau stand im Eingang.

"Mr. Sherlock Holmes?" "Der bin ich in der Tat." "So hatte sie also Recht. Meine Herrin sagte mir, dass sie vermutlich kommen würden. Sie ist heute Morgen in aller Frühe mit ihrem Gatten abgereist und hat die Insel bereits verlassen. Sie beabsichtigt auch nicht, jemals wieder nach England zurück zu kehren"

Der König war entsetzt: "Und die Fotografie? So ist alles verloren?" "Wir werden sehen…" Holmes ging an der Dienerin vorbei in den Salon, auf den Klingelzug zu und öffnete das gestern gesehene Fach. Er zog eine Fotografie und eine Brief hervor. Das Bild zeigte Irene Adler im Abendkleid, jedoch ohne den König. Der Brief war an Sherlock Holmes persönlich adressiert. Holmes riss den Brief auf und wir drei lasen ihn.

Irene Adler hatte ihn in der Nacht geschrieben. Sie beschrieb darin, seit wann sie Verdacht geschöpft habe und wie sie Sherlock Holmes erkannt habe. Der junge Mann vom Vorabend, der Holmes so freundlich einen guten Abend gewünscht hatte und dessen Stimme Holmes zu kennen glaubte, war niemand anderes als Irene Adler, die ihm in Männerkleidung bis zur Baker Street gefolgt war. So wusste sie, dass sie wirklich von Sherlock beobachtet wurde.

Sie und ihr Ehemann hielten es für ratsam, sich der weiteren Verfolgung durch Holmes und den König durch Flucht auf das Festland zu entziehen. Dem König von Böhmen ließ sie ausrichten, dass er sich des Bildes wegen keine Sorgen zu machen brauche. Sie werde es nicht gegen ihn verwenden und er solle unbesorgt heiraten wen er wolle. Sie habe einen besseren Mann gefunden als ihn und werde von diesem aufrichtig geliebt.

Das Bild behalte sie nur zu ihrem eigenen Schutz, damit sie sicher sein könne, dass auch er gegen sie nicht mehr weiter vorgehe. Sie hinterlasse ihm aber eine andere Fotografie, von der sie annehme, dass sie ihm vielleicht doch noch etwas bedeute. Damit verabschiedete sich Irene Norten, geborene Adler.

Der König war immer noch von Irene fasziniert und bedauerte noch einmal, dass eine Heirat wegen des Standesunterschiedes nicht möglich gewesen war.

Holmes entschuldigte sich bei seiner Majestät, dass er die Angelegenheit nicht vollends zu einem guten Ende hatte bringen können. Der König sah das aber völlig anders. Er meinte, da er wisse, dass Irene Adler ihr Wort in jedem Falle halten werde, hätte die Sache in seinen Augen nicht erfolgreicher erledigt werden können.

Diese Äußerung erfreute Holmes sichtlich. Der König bedankte sich noch einmal überschwänglich und fragte Holmes, wie er ihn weiter für seine Arbeit belohnen könne und bot ihm einen wertvollen Ring an, den Holmes aber dankend ablehnte. Stattdessen wünschte er sich etwas ganz anderes, nämlich die Fotografie von Irene Adler. Der König war äußerst erstaunt, erfüllte aber seine Bitte.

Holmes verabschiedete sich mit einer Verbeugung von seiner Majestät ohne dessen hingestreckte Hand zu beachten und machte sich in meiner Begleitung auf den Weg zurück zu seiner Wohnung.

So hatte Irene Adler also Sherlock Holmes mit seinen eigenen Waffen geschlagen und mit Scharfsinn seine Pläne vereitelt. Seither habe ich Holmes nie wieder über die Schläue von Frauen spotten hören. Und von Irene Adler sprach er immer nur unter Verwendung des ehrenvollen Titels: die Frau.