Die Barabasümpfe

  • Autor: Verne, Jules

Ein Glück für Michael Strogoff, dass er Hals über Kopf die Poststation verlassen hatte. Die Soldaten von Ivan Ogareff strömten sofort aus, um alle Straßen zu bewachen und erteilten sämtlichen Postmeistern entsprechende Anweisungen, um die Flucht des Kuriers zu verhindern.

Aber es war zu spät: Michael Strogoff jagte mit seinem Pferd bereits in östlicher Richtung davon. Omsk lag genau in der Mitte zwischen Moskau und Irkutsk und ihm blieben höchsten zehn Tage Zeit, vor den Invasionstruppen sein Zeil zu erreichen.

Ivan Ogareff musste durch den dummen Zwischenfall mit seiner Mutter zumindest einen Verdacht haben. Was unser Kurier aber nicht wissen konnte, war die Gefangennahme seiner armen Mutter.

Er trieb sein Pferd voran und wollte es bei der nächsten Poststation gegen ein Gespann austauschen. Doch die Tataren waren ihm zuvor gekommen. Bei der Station Kulikowo traf er auf leere Ställe und verwaiste Häuser. So blieb ihm nichts übrig, als sein Pferd zu schonen. Er sattelte es für eine Stunde ab, ehe er weitergaloppierte.

Am 30. Juli, gegen neun Uhr morgens erreichte er die Station Turumoff, die am Rand der Barabasümpfe lag. Diese Sümpfe, die sich von Norden nach Süden zogen und über dreihundert Kilometer breit waren, galten im Sommer als nahezu unpassierbar. Aber genau durch dieses Gebiet führte die direkte Straße nach Irkutsk.

Zu dieser Jahreszeit war dieses Land ein ungesunder, verseuchter, übelriechender Sumpf. Michael Strogoff lenkte sein Pferd zunächst durch ein Torfmoor. Das Steppengras wurde durch eine Art Heide mit Sträuchern und verkrüppelten Bäumchen abgelöst.

Dazwischen gab es Tausende von Blumen in allen Farben. Die Straße war in halbwegs ordentlichem Zustand. An manchen Stellen überbrückten aneinandergebundene Holzbohlen die unwegsamen Stellen. Michael Strogoff galoppierte, ob er festen oder sumpfigen Boden unter sich hatte, und ließ sein Pferd über die teilweise verfaulten Planken springen.

Am Schlimmsten waren die Stechmücken, die Ross und Reiter quälten. Sein Pferd bäumte sich immer wieder auf. Man musste schon sehr sattelfest sein. Aber der Kurier kannte keine körperlichen Schmerzen. Ihn trieb nur ein Gedanke: Ich muss rechtzeitig ans Ziel kommen.

Als Michael Strogoff einsehen musste, dass sein Pferd bald vor Erschöpfung zusammenbrechen würde, hielt er in einem der wenigen Dörfer, das sich in den Barabasümpfen befand. Er rieb den zerstochenen Körper des Tieres mit warmem Fett ein und gab ihm eine ordentliche Ration Futter. Diese Nacht würde er in diesem elenden Dorf, in dem die wenigen Bürger sich mit Pechmasken und schwelenden Feuern vor den Stechmücken schützten, bleiben müssen.

Am nächsten Morgen ritt er weiter. Zwei Tage kämpfte er sich durch den Sumpf. Immer wieder legte er Pausen ein, damit sich sein treues Tier erholen konnte. Schließlich erreichte er die Ortschaft Kamsk, die wie eine kleine wohnliche Oase mitten in den grauenhaften Sümpfen lag.

Hier wurde der Fluss Tom, der am Ort vorbeifloss, kanalisiert. Dadurch hatte sich das Sumpfgebiet in üppige Weidelandschaft verwandelt. Dort hätte sich der Kurier ohne Probleme ein neues Pferd kaufen können. Michael Strogoff wägte ab, und entschied, seinem zuverlässigen Begleiter treu zu bleiben.

Der Kauf eines neuen Pferdes hätte zu viel Aufmerksamkeit auf ihn gelenkt. So gönnte er sich und dem Tier eine Nacht Pause.

Nach zwei weiteren Tagen war es endlich soweit und er verließ die Barabasümpfe. Der trockene Hufschlag seines Pferdes sagte ihm, dass er wieder harten sibirischen Boden unter sich hatte.

Jetzt trennten ihn noch eintausendfünfhundert Kilometer von Irkutsk.

Die von den Hufen zertrampelten Felder in den Ebenen bewiesen, dass die Tataren hier durchgezogen waren. Bei seinem Ritt durch diesen Landstrich musste Michael Strogoff sehr vorsichtig sein. Rauchwolken am Horizont waren ein Zeichen, dass Dörfer in Flammen standen.

Nach einigen Kilometern traf er auf eine menschenleere Straße. Links und rechts davon war alles niedergebrannt. Nur eine einzelne Hütte rauchte noch. Er ritt näher und entdeckte einen uralten Mann, der von einem Rudel weinender Kinder umgeben war. Eine junge Frau kniete neben ihm, sie stillte einen Säugling.

Michael Strogoff stieg von seinem Pferd und fragte:

"Waren die Tataren hier?"

"Natürlich, sonst würde mein Haus nicht brennen", antwortete der Alte.

"Ein Heer oder nur eine Abteilung?"

"Ein ganzes Heer. Angeführt von Feofar-Khan. Er hat bereits Tomsk überfallen."

"Und Kolywan?"

"Nein, dort brennt es noch nicht."

"Ich danke dir. Lebe wohl!"

Michael Strogoff legte der unglücklichen Frau fünfundzwanzig Rubel in den Schoß und ritt weiter. Um Tomsk musste er einen großen Bogen machen. Es war sinnvoll über Kolywan zu reiten. Also gab er seinem Pferd die Sporen und steuerte direkt den Obi an. Von dessen Ufern trennten ihn noch vierzig Kilometer.

Ob er eine Stelle finden würde, an der er übersetzen konnte? Gab es noch Boote oder Fähren, oder hatten die Tataren alles mitgenommen und zerstört?

Trotz aller Vorsicht kam er gut voran. Im Dunkeln verließ es sich auf den Instinkt seines Pferdes. Er war gerade einmal abgestiegen, um sich zu orientieren, als er glaubte, fernes Hufgetrappel zu hören. Er legte sein Ohr auf den Boden und tatsächlich! Es musste eine Reiterschwadron sein. Waren es Russen oder Tataren?

"Ich muss hier weg", sagte Michael Strogoff leise. Er sah sich um und entdeckte eine schwarze Masse etwa hundert Schritte von der Straße entfernt. Er führte sein Pferd am Zügel und kam so in wenigen Minuten in ein kleines Lärchenwäldchen, in das er das Tier so weit es ging, hineinführte.

Es war stockfinster und so schlich er sich an den Waldrand, um die Truppe vorbeireiten zu sehen. Kaum hatte er sich hinter einen Busch gekauert, näherten sich die Reiter mit Fackeln dem Wald. Michael Strogoff schlich wie ein Indianer zurück, und erkannte, dass die Reiter anhielten.

Offenbar wollten die ungefähr fünfzig Soldaten hier rasten und ihre Pferde ausruhen lassen. Der Kurier ließ sich nicht aus der Ruhe bringen und schlich sich wieder näher heran. Vielleicht konnte er verstehen, was gesprochen wurde.

Michael Strogoff erkannte in den Männern usbekische Soldaten, die sich in tatarischer Sprache unterhielten. Dadurch konnte der Kurier jedes Wort verstehen. Und was er da hörte, war für ihn von besonders großem Interesse.

"Dieser Kurier kann unmöglich weit von hier sein", sagte Einer.

"Was, wenn er Omsk nicht verlassen hat?"

"Das soll uns nur recht sein! Dann braucht Oberst Ogareff nicht befürchten, dass die Depesche, die der Kurier zweifelsfrei bei sich trägt, an ihrem Ziel ankommt."

"Es wird behauptet der Kerl sei Sibirier. Die Alte scheint ein zähes Luder zu sein."

Bei diesen Worten klopfte Michael Strogoff das Herz bis zum Hals.

"Ganz recht. Sie hat wohl abgestritten, dass der Mann ihr Sohn sei, aber mit dieser Lüge kommt sie nicht durch. Ogareff wird die alte Hexe schon zum Reden bringen."

Jede Silbe war für Michael Strogoff wie ein Stich mit einem Dolch. Man hatte ihn also als Kurier des Zaren identifiziert und seine gute Mutter gefangen genommen. Dieser elende Ivan Ogareff - erst verriet er sein Vaterland und jetzt folterte er die gute Marfa!

Eines war klar, er musste vor diesen usbekischen Reitern den Obi erreichen. Er musste sofort aufbrechen. Die Dunkelheit und der Überraschungsmoment sollten ihm helfen, den Soldaten davonzureiten.

Die drohende Gefahr verzehnfachte seinen Mut. Er streichelte sein Pferd und brachte es geräuschlos auf die Beine. Das gescheite Tier folgte ihm. Um nicht entdeckt zu werden, wollte Michael Strogoff so spät wie möglich aufsteigen und davongaloppieren.

Doch er hatte Pech. Eines der usbekischen Pferde nahm Witterung auf und trabte auf ihn zu. Der Reiter lief seinem Pferd hinterher und erkannte im ersten Morgengrauen eine Silhouette. Er schrie: "Alarm!"

Die ganze Mannschaft sprang hoch und alle stürzten zu ihren Pferden. Michael Strogoff blieb nur noch eines: Sich in den Sattel schwingen und davonpreschen. Als er im Sattel saß, krachte der erste Schuss. Die Kugel riss seinen Mantel auf.

Er gab seinem Tier die Sporen und jagte davon - in Richtung Obi.

Die Soldaten nahmen augenblicklich die Verfolgung auf. Die Reiter, die dem Kurier zu nah kamen, schoss er vom Pferd.

Ungefähr eine halbe Stunde lang konnte er einen ausreichenden Abstand halten, doch er erkannte, dass sein Tier am Ende seiner Kräfte war. Es konnte nicht mehr. Da tauchte ungefähr zwei Kilometer entfernt eine helle Linie auf - der Obi!

Mit letzter Anstrengung brachte er sein Pferd bis ans Ufer des Flusses. Natürlich gab es weder eine Fähre noch ein Boot. Die Usbeken waren kaum fünfzig Schritte von Michael Strogoff entfernt. So rief er:

"Los mein Freund. Hinein ins Wasser - es ist unsere letzte Chance!"

Ross und Reiter sprangen in den reißenden Strom, der hier wohl fast fünfhundert Meter breit war. Die Soldaten am Ufer legten an und schossen auf den Kurier, der mitten in der Strömung trieb.

Tödlich getroffen sank das Pferd unter Michael Strogoff weg. Der Kurier konnte seine Stiefel gerade noch rechtzeitig aus den Steigbügeln ziehen, bevor das Tier in den Wellen verschwand.

Er selbst tauchte augenblicklich ab und schwamm in kräftigen Zügen dem anderen Ufer entgegen. Der Kugelregen verfehlte ihn, wenn er kurz auftauchte, um Luft zu holen.