Die Geschichte von der himmlischen Vergeltung

  • Autor: Autor Unbekannt

Omar war ein Eremit. Er lebte zurückgezogen und enttäuscht von der Welt auf einem Berg und dachte über den Lauf der Welt nach. Hier in den Bergen war er zu der Erkenntnis gekommen, dass das Leben von Allah gesteuert wurde, dass das Gute belohnt und das Schlechte bestraft wurde.

Da sah er unten im Tal einen Reiter, der Rast machte. Er war vom Pferd abgestiegen, um aus einer frischen Wasserquelle zu trinken. Dabei hatte er seinen Beutel neben sich gelegt. Als er auch seinem Pferd zu trinken gegeben hatte, ruhte er sich noch eine Weile aus, dann ritt er weiter. Seinen Beutel aber vergaß er.

Kurze Zeit später kam ein anderer Reiter, sah den Beutel, nahm ihn mit und ritt davon. Kurze Zeit später kam wieder ein Holzfäller, legte seinen Beutel ab, trank aus der Quelle und ruhte sich aus. In dem Moment aber kam der erste Reiter zurück.

Er sah den Beutel da liegen, und weil er glaubte, der Holzfäller habe ihn genommen, zog er sein Schwert und schlug dem Holzfäller den Kopf ab. Dies alles sah Omar, der Einsiedler, und er fragte sich:

„Allah, was hat das hier für einen Sinn. Der Dieb entkommt mit dem Gewinn, ein Unschuldiger wird erschlagen und ein Reiter wird zum Mörder. Das ist doch keine gute und gerechte Welt. Allah, ich frage dich, wo ist hier die Gerechtigkeit?“ Doch der Himmel antwortete ihm nicht.

Am nächsten Tag zog ein weiser Mann über die Berge. Er machte bei Omar dem Einsiedler eine Pause, trank etwas Wasser und aß Datteln. Omar erzählte ihm die Geschichte und fragte ihn nach dem Sinn.

Der Fremde lächelte. „Sei nicht ungeduldig, mein Freund“, sagte er. „Es gibt keinen Zufall, und alles, was geschieht hat einen Sinn.“ „Was immer es ist, ich verstehe es nicht“, sagte Omar. Da erzählte ihm der Fremde eine Geschichte.

„In meiner Heimatstadt passierte es einmal, dass zehn Verbrecher, Räuber und Mörder, gehenkt werden sollten. Die Galgen sollten Tag und Nacht bewacht werden, damit niemand die Leichen oder die Kleider zu einem anderen Zweck stehlen konnte.

Als der Richter am nächsten Morgen über den Platz ging, sah er einen Mann, der gehenkt war, obwohl dieser Mann nie verurteilt worden war. Da verhörte der Richter die Wächter. Sie gaben zu, sie seien abends eingeschlafen und am nächsten Tag sei einer der Mörder verschwunden gewesen. Da sei zufällig ein Bauer den Weg entlang gekommen. Er hatte im Wald ohne Familie und Freunde gelebt.

Und weil die Wächter Angst hatten, dass die Flucht des Mörders bemerkt werden könnte, hatten sie diesen Mann gehenkt. Der Richter verstand den Sinn der Tat nicht und wollte schon mit den Wächtern schimpfen. Aber weil er wissen wollte, wen die Wächter gehenkt hatten, ließ er seinen Sack öffnen, den er immer bei sich trug. Und siehe da, eine zerstückelte Leiche befand sich darin.“

„Wie schrecklich!“, rief Omar. „Und was hatte das zu bedeuten?“ „Nun, der Bauer war ein Mörder gewesen. Das hatte zwar niemand gewusst, aber trotzdem bekam er ganz zufällig seine gerechte Strafe.“ „Aber auch die Wächter hatten sich schuldig gemacht“, rief Omar.

„Du hast recht“, entgegnete der Fremde. „Auch sie werden ihrem Schicksal nicht entkommen.“ Sie schwiegen lange. Die Sonne senkte sich und es wurde Abend.

„Ich muss doch noch einmal auf meine Geschichte zurückkommen“, begann Omar noch einmal. „Ich sehe den Sinn immer noch nicht.“ „Das kannst du auch nicht“, erwiderte der Fremde. „Du hast ja nur einen kleinen Ausschnitt gesehen. Alles Leben ist eine Kette vorn Ereignissen, die sich nach strengen Gesetzen vollziehen.“

„Kennst du das Geheimnis des Reiters und der Holzfällers vollständig“, wollte Omar wissen. „Man sagt, dass du ein Weiser bist.“ „Ja, ich kenne es“, erwiderte der Fremde. Dann saß er eine Weile ganz still und starrte ins Leere.

Endlich, nach einer langen Weile begann er zu sprechen. „Höre zu, mein Freund. Der Reiter, der den Beutel vergaß, war ein Räuber und hatte den Beutel gestohlen. Und der Mann, der dann später den Beutel an sich nahm, war der Sohn des Bestohlenen. Er hatte den Räuber um sein Erbe gebracht. Lange schon verfolgte er die Spur des Räubers, doch er holte sie nie ein. Zuletzt schenkte ihm Allah das Geld zurück.“

„Und warum musste der Holzfäller sterben?“, wollte Omar wissen. „Er hatte zunächst einmal nichts mit dem Beutel zu tun. Aber viele Jahre vorher hat dieser Holzfäller im Wald einen Reisenden erschlagen. Niemand hat den Mörder gefunden. Nun hat ihn die himmlische Vergeltung getroffen.

Der Reiter aber wusste nicht, was er tat. Doch auch seine Vergeltung wird kommen. Er reitet durch die Nacht und auch er kann seinem Schicksal nicht entkommen. Den Mann aber, den du für den Dieb hieltest, bringt seinem Vater das Geld zurück. Er war ein geiziger Mann und wird im Stillen beschließen, sich zu bessern, weil er nicht mehr lange zu leben hat.

Und so ist es niemals zu spät, umzukehren.“ Da schwieg Omar und dachte an seine Kleinmütigkeit. Der Fremde aber lächelte ihn an und reichte ihm die Hand.

„Lebwohl mein Freund“, sagte er. „Und lerne Gelassenheit und Geduld. Es gibt viel Leid in der Welt, viel Licht und Schatten, viel Sichtbares und Unsichtbares, die alle miteinander wie ein Teppich verknüpft sind.

Aber die Welt ist auch voller Wunder, die Allah, der Erhabene, nicht ohne Sinn angeordnet hat, ganz wie in den Märchen, die uns aus langer vergangener Zeit erzählen.“