Die Perlenkönigin

Es war einmal ein kleines Fischerdorf, das an einem großen See lag. Alle Jahre wieder kam dort eine schöne Unbekannte ans Ufer. Und jedes Mal kam sie mit einem prächtigen Schifflein gefahren, das so aussah, als wäre es aus lauter Perlen zusammengefügt. Niemand wusste, woher sie kam und wohin sie ging, wenn sie wieder verschwand.

Die Fischerleute hatten die schöne Unbekannte aber sehr lieb, denn sie streute am Ufer immer Perlen aus und winkte den Kindern, diese aufzulesen. Da waren die Kinder dann geschäftig und freuten sich am schönen Farbenspiel der Perlen. Wenn die Perlen dann alle aufgesammelt waren, kamen die Fischer und Fischerinnen und trugen eine ordentliche Mahlzeit auf: Fische, Brot und guten Wein. Die schöne Unbekannte verneigte sich freundlich, aß einige Bissen und trank ein wenig von dem Weine.

Oft passierte es auch, dass sich Prinzen und Edelleute aus fernen Ländern einstellten, wenn die schöne Unbekannte ans Ufer kam. Die vielen Besucher waren auf Brautschau, denn es ging die Rede um, dass die schöne Unbekannte ebenso reich an Schätzen wie an Leibesschönheit sei. Wen wundert's da, dass man bald nur noch von der Perlenkönigin sprach. Doch jeder, der sich um ihre Gunst bewarb, musste drei Proben bestehen. Und bisher waren alle Bewerber kläglich gescheitert.

Die erste Probe war es, die Haarfarbe der Perlenkönigin zu erraten, denn ihr Haupt war stets dicht verschleiert. Was hatten die Bewerber nicht schon alles geraten: schwarz, rot, blond, braun, weiß, grün, grau und blau.

Die zweite Probe war, sich die Halskette der Perlenkönigin umzuhängen. Wurden die hell glänzenden Perlen dann trübe, war das ein schlechtes Zeichen, und die schöne Dame fing an zu weinen. Ihre Tränen wurden aber zu ebenso hellen Perlen, wie sie bereits an der Kette waren. Die neuen Perlen fügte die schöne Unbekannte ihrer Kette hinzu und nahm diese wieder an sich. Und wenn die Kette dann wieder am Halse der Jungfrau hing, glänzten die Perlen auch wieder hell und wundersam.

Die dritte und letzte Probe war, zu erraten, was die Perlenkönigin auf der Brust trug. Und so schlau die Bewerber auch waren, sie konnten es nicht herausfinden. Keiner gewann die Gunst der schönen Unbekannten, und wäre er auch der reichste Fürst gewesen.

Manche versuchten es auch mit List, um etwas Näheres über den Verbleib Perlenkönigin zu erfahren. Doch blieben alle Anstrengungen fruchtlos, denn das Perlenschifflein entschwand den Blicken der Menschen immer viel zu schnell.

Es gab aber einen Knaben unter den Dorfkindern, den hatte die Perlenkönigin unter allen Kindern am liebsten. Sie nahm ihn bei jedem Besuch in ihre Arme und drückte ihn herzlich. Der Knabe hatte die schöne Dame auch sehr lieb, doch er wurde größer und wagte sich bald nicht mehr, die Perlen aufzulesen. Auch musste er jetzt oft mit seinem Vater auf den See fahren und fischen.

So war die Perlenkönigin schon mehrere Male ans Ufer gestiegen und hatte ihren lieben Fischerknaben nicht gesehen. Da wurde sie sehr traurig, denn ihr Herz hatte gerade diesen Jüngling auserwählt. Und darum wünschte sie sich um so mehr, dass der schöne Fischersohn einst die drei Proben bestehen möge.

Eines Abends beschloss die Perlenkönigin, den geliebten Fischersohn unsichtbar aufzusuchen. Als der goldene Mond aufgegangen war und sich im Wasser spiegelte, fuhr das Perlenschifflein wieder durch die Wellen. Die Perlenkönigin trat unerkannt in die kleine Kammer des Geliebten und beugte sich sanft über den Schlafenden. Dann löste sie ihre Perlenkette vom Hals und hängte sie dem Jüngling um. Welch eine Freude! Die Perlen blieben so hell und klar wie zuvor. Die Perlenkönigin küsste darauf den Teuren und entschwand. Der Jüngling aber war nun in Liebe zur Perlenkönigin entbrannt, doch es fehlte ihm der Mut, sich der Geliebten zu nähern.

Als die Perlenkönigin wieder einmal am Lager des Jünglings weilte, erwachte dieser aus dem Schlafe. Da nahm die Perlenkönigin ihre Perlenkette und hängte sie dem Geliebten um den Hals. Die Perlen aber glänzten so hell wie zuvor. Da liefen der Perlenkönigin warme Tränen über die Wangen. Sie warf den Schleier zurück, nahm ihre Haare und trocknete ihre Tränen. Der Jüngling sah nun, dass ihre Haare ganz golden waren.

Dann schlug die Perlenkönigin ihr Kleid ein wenig auf und ein heller Spiegel auf ihrer Brust warf das Bild des Jünglings sanft und schön zurück. Die Perlenkönigin war aber in großer Sorge, denn sollte die Perlenkette nur ein einziges Mal am Halse des Geliebten trüb werden, hätte sie sich nicht mehr nähern dürfen.

Es kam die Zeit, wo die Perlenkönigin wieder zum Fischerdorf fuhr und in gewohnter Weise Perlen für die frohen Kinder ausstreute. Dieses Mal waren besonders viele Fürsten und edle Herren gekommen, um der schönen Perlenkönigin den Hof zu machen. Auch der Fischerjüngling stand etwas abseits, denn er wollte sich der Angebeteten endlich nähern. Als die hohen Herren an den drei Proben wie gewohnt gescheitert waren, kam die Reihe an den Jüngling.

Er neigte bescheiden den Kopf und sprach: "Oh, deine Haare müssen golden sein." In diesem Augenblick fiel der Schleier herab, und ihre goldnen Locken wallten hernieder. Dann hängte die Perlenkönigin ihre Perlenkette um den Hals des Jünglings, und sie blieb rein und glänzend. Jetzt sprach der Fischer: "Ein reiner schöner Spiegel muss auf deiner Brust sein, holde Jungfrau!" Da öffnete die Perlenkönigin ihr Kleid ein wenig, und der klare Spiegel auf der Brust zeigte ein sanftes schönes Bild, das Bild des Jünglings.

Da ertönte vom Perlenschifflein ein heller Jubel und fröhliche Musik. Ein Reihe schöner Frauen und blühender Männer erhob sich vom Schifflein und nahm das holde Paar in die Mitte. Dann glitt das Perlenschifflein auf spiegelheller Wasserfläche zur Perleninsel, wo die Heimat der Perlenkönigin war. Dort lebte das Brautpaar fortan in großem Glück und beide sahen das kleine Fischerdorf nie mehr wieder.