Die Abenteuer des Sherlock Holmes: Die fünf Apfelsinenkerne

  • Autor: Doyle, Arthur C.

Vor mir liegen gerade meine Aufzeichnungen und Berichte, die ich in den Jahren 1882 bis 1890 über die Fälle angefertigt habe, die Sherlock Holmes in dieser Zeit bearbeitet hat. Es ist gar nicht so leicht zu entscheiden, über was es sich lohnt zu berichten und was von den vielen Fällen doch nicht ganz so interessant ist um erzählt zu werden.

Einige von Holmes Fällen sind ja sogar durch die Presse gegangen und haben so eine gewisse Bekanntheit erreicht.

Ziel meiner Aufzeichnungen ist es, über Fälle zu berichten, bei denen die besonderen Qualitäten meines Freundes zur Lösung ganz unbedingt erforderliche waren.

Die herausragende Fähigkeit meines Freundes liegt darin, Fälle durch analytisches Geschick und strenge logische Beweisführung zu lösen. Dennoch gibt es aber auch Fälle, bei denen der Zufall zu Hilfe kommt und bei denen auch Sherlock Holmes auf Vermutungen angewiesen ist.

Einer dieser Fälle ereignete sich im Jahr 1887 und ist in vielen Punkten so außergewöhnlich, dass ich mich dazu entschlossen habe, hier über ihn zu berichten, obwohl es in seinem Zusammenhang einige noch immer ungelöste Fragen gibt, die sehr wahrscheinlich auch nie aufgeklärt werden können.

Es war Ende September und draußen stürmte es außergewöhnlich heftig. Es hatte bereits den ganzen Tag geregnet und auch am Abend trommelten die Regentropfen noch regelrecht gegen die Fenster und der Wind heulte immer lauter ums Haus und in den Kaminen.

Sherlock und ich verbrachten diesen Abend gemeinsam in der Baker Street, da meine Frau für einige Tage ihre Tante besuchte und ich die Gelegenheit nutzte, in dieser Zeit meinen alten Freund Holmes wieder zu sehen.

Er saß an der einen Seite des Kamins und las in seinen Aufzeichnungen einiger Kriminalfälle und ich hatte es mir mit einer Seefahrergeschichte von Clark Russell gemütlich gemacht. Nach einer Weile vermischten sich die lauten Geräusche des Sturms und des Regens mit meinen Gedanken und Vorstellungen der Geschichte, so dass ich glaubte dass Rauschen der Wellen und der Brandung zu hören.

Wir sahen beide erstaunt auf, als es an der Haustüre läutete.

"Erwarten Sie heute Abend noch einen Freund?" "Außer Ihnen, lieber Watson, habe ich keinen Freund, aber ich habe auch niemanden sonst eingeladen. Vielleicht handelt es sich um einen Klienten. Allerdings muss es sich dann um einen sehr dringenden Fall handeln. Wer würde sich wohl sonst bei diesem Wetter und zu so später Uhrzeit freiwillig nach draußen begeben?"

Wir hörten Schritte auf dem Flur und dann klopfte es auch schon an Sherlock Holmes Türe. Auf das "Herein" betrat ein junger Man, schätzungsweise Anfang Zwanzig, den Raum, der sehr gepflegt gekleidet war. Sein Gesicht war blass und seine Augen und sein Blick verrieten Furcht.

Er entschuldigte sich für die späte Störung und dafür, dass er mit nassen Kleidern und tropfendem Schirm deutliche Spuren des scheußlichen Wetters mit in die Stube bringe.

Holmes nahm ihm den Mantel und den Schirm ab und hängte beides an den Haken an der Wand, seinem Gast bot er einen Stuhl nahe am Kamin an.

"Sie kommen aus dem Südwesten?" Erstaunt antwortete der junge Mann "Ja, aus Horsham". "Nun die Mischung aus Lehm und Kreide auf Ihren Schuhkappen ist recht verräterisch. Aber nun zur Sache, was führt Sie zu mir?

Der junge Mann erklärte, dass er dringend Rat und Hilfe benötige und dass Major Prendergast ihm Sherlock empfohlen habe, da er nur die besten Erfahrungen mit Holmes gemacht habe. Außerdem wisse er, dass Sherlock extrem erfolgreich sei und so gut wie jeden Fall lösen könne.

Sherlock erinnerte sich sofort an den Fall, um den es im Zusammenhang mit dem Major gegangen war. Es stimme zwar, dass er nur selten Misserfolge zu verzeichnen hab, aber ganz ohne solche unangenehmen Erfahrungen verlaufe auch sein Beruf leider nicht. Allerdings sei er auch fast immer der, der als letztes um Rat gefragt werde, wenn alle anderen bereits versagt hätten.

Er forderte seinen späten Gast auf, mit seinem Bericht zu beginnen und ihm alle Einzelheiten seines Falls zu schildern.

Der junge Mann deutete an, dass es sich in seinem Fall um eine ausgesprochen geheimnisvolle und wie er meinte unerklärliche Verkettung von Ereignissen handle. Vor allem sei er selbst, John Openshaw, eigentlich gar nicht direkt in die Geschichte verwickelt, sondern sei erst durch eine Erbschaft in die ganze Sache hineingezogen worden.

Damit das alles zu verstehen sei, müsse er wohl ganz am Anfang der Geschichte beginnen, die weit in die Vergangenheit hineinreiche. Und so folgte nun sein Bericht:

"Mein Großvater hatte zwei Söhne, Elias und Joseph. Joseph war der Vater von John, Elias sein Onkel. Johns Vater lebte in Coventry, wo er eine kleine Fabrik besaß, die sehr erfolgreich wurde, als das Radfahren modern wurde. Joseph besaß nämlich ein Patent auf unzerstörbare Reifen. Seine Firma verkaufte er später so erfolgreich, dass er sich aus dem Geschäftsleben zurückziehen konnte und als wohlhabender Mann ein angenehmes Leben führen konnte.

Elias hingegen war nach Amerika ausgewandert, hatte dort eine Plantage erworben. So weit man wusste ging es ihm dort recht gut. Im amerikanischen Bürgerkrieg stieg er in der Armee bis zum Colonel auf und kehrte nach Ende des Krieges für weitere 3 oder 4 Jahre auf seien Plantage zurück.

Um 1870 kehrte er aber nach England zurück und erwarb eine kleinen Besitz in Sussex in der Nähe von Horsham. Er war in den Staaten recht wohlhabend geworden, konnte sich aber mit der Politik der Republikaner nicht anfreunden , die die Sklavenhaltung abgeschafft hatte und den "Negern", wie er sie nannte, die Freiheit gegeben hatten.

Elias lebte in Horsham sehr von der Außenwelt abgeschottet, er ging so gut wie nie in die Stadt und suchte keinerlei Bekanntschaften. Selbst seinen Bruder wünschte er nicht zu sehen. Er lebte ganz zurückgezogen auf seinem Besitz, wo er einige Felder rum ums Haus und eine Garten besaß. Dort suchte er sich seine Beschäftigung. Den Rest seiner Zeit verbrachte er in seinem Zimmer, das er manchmal tagelang nicht verließ.

Er war schon ein außergewöhnlicher Mann. Er war leidenschaftlich und aufbrausend, konnte schimpfen was das Zeug hält, trank Cognac in großen Mengen und rauchte wie ein Schlot.

Mir gegenüber verhielt er sich anders. Mich mochte er um sich haben, so sehr sogar, dass er meinen Vater bat, ich solle bei ihm wohnen. Wenn er nichts getrunken hatte, spielte er mit mir Dame und Backgammon. Im Haus und gegenüber seinen Geschäftspartnern machte er mich sehr schnell zu seinem Stellvertreter. Ich war gerade 16 Jahre alt, als ich praktisch der Herr in seinem Haus war. Ich konnte tun und lassen was ich wollte, solange ich ihn nicht störte.

Eine Eigenart hatte er allerdings noch, die erwähnenswert ist. Er hatte einen Raum im Haus ganz für sich, den nie jemand betreten durfte, auch ich nicht. Es war eher eine Art Rumpelkammer, aber er hielt sie sorgsam verschlossen. Ich hatte einmal versucht, durchs Schlüsselloch zu schauen und meine Neugier zu befriedigen, aber ich konnte nichts Außergewöhnliches entdecken.

Im März des Jahres 1883 kam es dann zu einem ganz ungewöhnlichen Vorfall. Mein Onkel erhielt einen Brief aus dem Ausland, genauer gesagt der Poststempel stammte aus Pondicherry. Als er den Brief öffnete, fielen 5 getrocknete Apfelsinenkerne auf den vor ihm stehenden Teller. Ich fand das lustig, aber als ich sein Gesicht sah, verging mir schlagartig das Lachen.

Sein Gesicht war bleich wie Kitt und er starrte erschrocken und mit weit aufgerissenen Augen auf den Umschlag, den er in seinen zitternden Händen hielt. "K.K.K.", kreischte er und "O Gott, mein Gott, meine Sünden holen mich ein!"

Auf meine Frage, was das zu bedeuten habe, antwortete er nur "Tod", stand auf, verließ den Raum und zog sich in sein Zimmer zurück, ohne noch irgendetwas zu sagen.

Ich blieb völlig entsetzt und verständnislos am Tisch zurück. Ich betrachtete das Kuvert, aber außer den 5 Apfelsinenkernen hatte es nicht enthalten. Innen auf der Klappe waren direkt über der Gummierung mit roter Tinte drei K hingekritzelt, sonst stand dort nichts.

Als ich nach oben gehen wollte, kam mein Onkel mir auf der Treppe entgegen. Er hatte den rostigen Schlüssel der Dachkammer und ein Messingkästchen in der Hand, das ähnlich aussah wie eine Geldkassette. "Sie können machen was sie wollen, aber ich werde sie noch matt setzen", sagte er, ohne mir zu erklären, was er damit meinte. Dann bat er mich, den Rechtsanwalt Fordham zu bitten, zu ihm zu kommen. Außerdem sollte Mary in seiner Stube Feuer machen.

Als der Anwalt da war, wurde auch ich in sein Zimmer gerufen. Im Feuer hatte er offensichtlich einige Papiere verbrannt, denn auf dem Rost lag ein Haufen schwarzer, flockiger Asche. Das Messingkästchen stand offen und war leer. Aber auf dem Deckel war das gleiche 3fache K eingeprägt, das ich zuvor auf dem Brief gesehen hatte.

Mein Onkel bat mich dann, ein Papier zu unterschreiben, das der Anwalt aufgesetzt hatte und den letzen Willen meines Onkels enthielt. Er vermachte seinen ganzen Besitz seinem Bruder, also meinem Vater, den ich dann später beerben würde.

Mein Onkel sagte mir dazu folgendes: "Ich hoffe, dass du an diesem Erbe deine Freude haben kannst. Aber ich kann das nicht wirklich vorhersagen. Es kann leider auch sein, dass sich die Dinge so entwickeln, dass mein Erbe alles andere als eine Freude für dich sein wird. Solltest Du das feststellen, so folge meinem Rat, den ich dir nun gebe. Vermache mein Erbe deinem tödlichsten Feind."

Wunschgemäß unterschrieb ich das Papier und Mr. Fordham, der Anwalt nahm es an sich. Die ganze Situation beeindruckte mich tief und löste auch eine unbestimmte Angst in mir aus, die ich nie mehr ganz abschütteln konnte. Allerdings wurde diese Angst mit den vergehenden Wochen, in denen nichts Ungewöhnliches geschah, schwächer.

Aber mein Onkel veränderte sich seit diesem Zeitpunkt sichtlich. Er trank mehr denn je und zog sich noch mehr zurück. Gesellschaft pflegte er noch weniger als sonst.

Er hielt sich fast nur noch in seinem Zimmer auf, dessen Tür er von inner verschloss. Gelegentlich aber, wenn er stark betrunken war, kam er herunter und stürzte wie wahnsinnig aus dem Haus, tobte durch den Garten, hielt einen Revolver in der Hand und schrie, dass er keinen Menschen fürchte und daher werde auch kein Mensch ihn einsperren wie ein Schaf.

War ein solcher Anfall vorbei, kam er mit lautem Getöse wieder ins Haus und sperrte alle Türen hinter sich zu. Er machte dann den Eindruck, dass er sich gegen das, was ihn offensichtlich in der Tiefe seiner Seele ängstigte, nicht mehr wehren konnte und sein Gesicht war nass von Schweiß.

Eines Nachts hatte mein Onkel wieder einen dieser Anfälle bei dem er völlig betrunken war. Aber diesmal kam er nicht zurück. Als wir ihn suchten, fanden wir ihn tot, mit dem Gesicht in einem kleinen Teich liegend, am Ende des Gartens.

Da es keinerlei Anzeichen von Gewaltanwendung gab, das Wasser nur 2 Fuß tief war und die Marotten meines Onkels allseits bekannt waren, erkannte das Gericht auf Selbstmord.

So kam mein Vater in den Besitz des Landes und Hauses sowie eines Bankguthabens von vierzehntausend Pfund.

Ich aber, der genau wusste, wie sehr mein Onkel sich vor dem Tod gefürchtet hatte, konnte nicht an einen Selbstmord glauben."

Hier unterbrach Sherlock Holmes den Bericht des jungen Mannes. Er meinte, er habe selten eine so bemerkenswerte Geschichte gehört. Er erfragte dann noch das Datum, an dem der Brief eingetroffen sei und das Datum des mutmaßlichen Selbstmordes.

"Der Brief kam am 10. März 1883. Mein Onkel starb in der Nacht zum 2. Mai desselben Jahres, also sieben Wochen später.

Nach dem Tode meines Onkels schlug ich meinem Vater vor, das Zimmer, das mein Onkel ja immer verschlossen gehalten hatte, genau zu untersuchen.

Wir fanden in dem Zimmer eine Menge Papiere und Notizbücher, die über die Zeit des Colonels in Amerika berichteten. Einige stammten aus der Zeit des Bürgerkrieges und zeigten, dass mein Onkel als tapferer Soldat gegolten hatte, der stets seine Pflicht erfüllt hatte.

Neben diesen Papieren und ansonsten wenig bedeutenden Dingen fanden wir auch das schon erwähnte Messingkästchen, dessen Inhalt mein Onkel ja verbrannt hatte. Auf der Innenseite des Deckels klebte ein Zettel mit den drei großen Buchstaben K.K.K. und darunter Briefe, Memoranden, Quittungen und Register. Das muss wohl der verbrannte Inhalt des Kästchens gewesen sein.

Anfang des Jahres 1884 bis Januar 1885 verlief alles problemlos. Es war beim Frühstück, wohl vier Tage nach Neujahr, als ich einen lauten Schrei aus dem Munde meines Vaters hörte. Mein Vater hatte gerade die Post geöffnet und hielt nun in der einen Hand der Umschlag und in der anderen 5 getrocknete Apfelsinenkerne.

Bisher hatte er über meine Erzählungen von den Erlebnissen mit meinem Onkel nur gelacht und sie als Ammenmärchen abgetan. Jetzt aber, wo er die gleiche Geschichte erlebte, schaute er doch verwirrt und ängstlich aus. "Was in aller Welt hat das zu bedeuten?" fragte er mich völlig irritiert. Mir blieb fast vor Schreck das Herz stehen und ich fragte nur, ob auch wieder die drei K auf dem Brief standen.

"So ist es, aber darüber steht noch etwas. Da steht: Legen Sie die Papiere auf die Sonnenuhr."

"Was soll dieser Unsinn und welche Sonnenuhr und welche Papiere? Von wo und von wem stammt dieser Brief"

"Es muss wohl die Sonnenuhr im Garten gemeint sein, eine andere kenne ich nicht und die Papiere sind vielleicht die, die Onkel Elias verbrannt hat", antwortete ich, "und der Brief ist in Dundee abgestempelt".

Mein Vater fasste sich recht schnell wieder und tat das Ganze als einen üblen Streich ab, von dem er sich nicht verschrecken lasse. Meine Bitte, den Vorfall der Polizei zu melden, schlug er mit den Worten in den Wind, dass er nicht wolle, dass man über seine unbegründeten Ängste lache. Und er verbot auch mir, zur Polizei zu gehen.

Ich fügte mich zwar dem Wunsche meines Vaters, aber ich hatte kein gutes Gefühl dabei.

Drei Tage später brach mein Vater auf, um für ein paar Tage eine guten alten Freund zu besuchen. Ich war darüber sehr froh, denn ich glaubte, dass meinem Vater weniger Gefahr drohe, wenn er nicht zu Hause sei. Das war allerdings ein schwerer Irrtum.

Zwei Tage nach seiner Abreise erhielt ich von Major Freebody, dem Freund meines Vaters ein Telegramm, in dem er mich bat, sofort nach Portsdown Hill zu kommen.

Mein Vater war in eine der tiefen Kalkgruben gefallen, die es in dieser Gegend sehr oft gibt. Bei diesem Sturz hatte er sich den Schädel gebrochen und er verstarb, ohne noch einmal das Bewusstsein erlangt zu haben.

Die Jury kam zu dem Schluss, dass es sich um einen Unfall gehandelt habe. Mein Vater sei in der Dämmerung losgegangen und habe wohl die Gefahr durch die Gruben nicht gekannt, zumal diese nicht eingezäunt sind.

Daran konnte und wollte ich nicht glauben, aber so sehr ich auch selbst nachforschte, ich konnte keinen Anhalt für ein Verbrechen oder gar einen Mord entdecken. Es gab keine Anzeichen für Gewaltanwendung, es gab keine Fußspuren und auch keine Berichte über Fremde, die in der Gegend gesehen worden wären. Und trotz dieser Ergebnisse bin ich mir noch immer fast sicher, dass mein Vater in ein Verbrechen mit hineingezogen worden ist und ihm zu Oper gefallen ist.

So kam ich in den Besitz des Hauses. Und da ich davon überzeugt war, dass ich in diesem Haus genauso sicher sein würde, wie in jedem anderen Haus, habe ich es behalten und lebe nun seit zwei Jahren und acht Monaten in dem Haus. Bis gestern habe ich geglaubt, der Fluch, der anscheinend auf meiner Familie lastet, sei mit dem Tod meines Vaters vom uns genommen. Aber ich habe mich wohl zu früh gefreut.

Gestern Morgen hat mich das Schicksal eingeholt. Es ist alles genau wie bei meinem Vater." Damit nahm der junge Mann ein zerknittertes Kuvert aus der Jackentasche und leerte den Inhalt auf den Tisch: 5 getrocknete Apfelsinenkerne. Der Poststempel stammt vom Postamt London Ost. Es steht wieder K.K.K. darin und "Legen Sie die Papiere auf die Sonnenuhr".

"Und was haben Sie bisher unternommen?" fragte Sherlock Holmes. Und als John Openshaw sagte "Nichts" war Sherlock doch einigermaßen überrascht.

Fast ein wenig verzweifelt antwortete er, dass er sich recht hilflos fühle, etwa so wie ein Kaninchen beim Anblick einer Schlange. Er habe das Gefühl, es sei in der Gewalt einer bösen Macht, der er sich weder durch Vorsicht noch durch irgendwelche Vorkehrungen entziehen könne.

Davon wollte Sherlock Holmes aber gar nichts hören. Er meinte, nur sofortiges entschlossenes Handeln könne in dieser Situation helfen. Sich der Verzweiflung hinzugeben, sei völlig falsch und gefährlich obendrein.

John Openshaw meinte dann, dass er ja bei der Polizei gewesen sei, aber seine Geschichte habe bei den Beamten nur ein müdes Lächeln hervorgerufen. Seiner Überzeugung nach habe der Inspektor seinen Bericht als Scherz aufgefasst und halte die Todesfälle seiner Verwandtschaft für ganz gewöhnliche Unfälle, so wie es ja auch vom Gericht festgestellt worden sei. Mit den ominösen Warnungen hätten sie sicherlich nicht das Geringste zu tun.

Dieses Verhalten der Polizei fand Sherlock Holmes völlig unverständlich. Allerdings hatte die Polizei die Situation doch so ernst genommen, dass man einen Polizisten abgestellt hatte, um John Openshaw in seinem Haus zu bewachen. Allerdings hatte dieser Polizist John nicht zu Holmes begleitet, sondern war weisungsgemäß in dem Haus in Horsham geblieben. Eine Tatsache, die Holmes völlig .indiskutabel fand.

Auch dass John erst 2 Tage nach Erhalt des Briefes zu ihm gekommen war machte die Sache in den Augen von Sherlock nicht einfacher. Es war schon viel wertvolle Zeit ungenutzt verstrichen.

Sherlocke Holmes fragte, ob John noch über andere Be- oder Hinweise verfüge. Er meinte, dass es noch etwas gebe, von dem er aber nicht wisse, ob es von Bedeutung sei. Er förderte ein Stück Papier zu Tage, das mit verblasster blauer Tinte beschrieben war. Dieses einzelne Blatt hatte John damals gefunden und aufgehoben, als sein Onkel die übrigen Papiere verbrannt hatte.

Dieses Blatt war offensichtlich aus einem Buch, evtl. aus einem Tagebuch, herausgerissen und laut John Openshaw handelte es sich mit Sicherheit um die Handschrift seines Onkels. Aber außer dass die Kerne erwähnt wurden, fand John nichts weiter Hilfreiches an den Notizen.

Folgendes stand auf dem Blatt:
"März 1869
4. Hudson ist gekommen. Dieselbe alte Plattform.
7. Schickte die Kerne an McCauley, Paramore und Swain in St. Augustine.
9. McCauley geklärt.
10. John Swain geklärt.
12. Paramore besucht. Alles in Ordnung"

Nachdem wir die Notizen gelesen hatten, gab Holmes das Blatt an John zurück und gab ihm folgende Anweidungen.

John sollte sofort nach Hause zurückkehren und das Blatt in das Messingkästchen stecken. In einer Mitteilung sollte er glaubhaft versichern, dass dies das einzige noch übrige Papier sei, die anderen seien von seinem Onkel Elias verbrannt worden. Das Kästchen solle er auf der besagten Sonnenuhr ablegen.

Außerdem ermahnte Holmes John, auf seinem Rückweg äußerst vorsichtig zu sein, denn er sei davon überzeugt, dass er sich tatsächlich in einer nicht zu unterschätzenden Gefahr befinde. Er hoffe aber, da es noch recht früh am Abend sei und die Straßen noch sehr belebt seien, dass John auf seinem Weg zur Waterloo-Station nichts geschehen werde.

John versicherte sich an alle Anweisungen halten zu wollen. Er werde äußerst vorsichtig sein und außerdem sei er bewaffnet. Damit gab sich Holmes zufrieden. Er erklärte seinem Klienten noch, dass er am nächsten Tag mit der Bearbeitung des Falles beginnen werde. Allerdings werde er das von London aus tun, da er glaube, dass des Rätsels Lösung in London und nicht in Horsham liege.

John verabschiedetes sich mit der Vereinbarung, dass er in ein oder zwei Tagen mitteilen wolle, was aus dem Kästchen und dem Blatt geworden sei. Dann verschwand er in die dunkle Nacht, in der es noch immer so stürmte und regnete, das man glauben konnte, die Elemente spielten verrückt.

Nachdem sich John Openshaw verabschiedet hatte, meinte Sherlock Holmes, das wir bisher kaum einen phantastischeren Fall zu bearbeiten hatten. Und er befürchte, dass sein Klient sich in äußerster Gefahr befinde.

Auf meine Frage, ob er auch schon wisse, welche Gefahr das sei und woher sie komme, meinte er, dass er den Ursprung der Gefahr zu kennen glaube.

Aber statt mir seine Gedanken zu diesem Punkt darzulegen, philosophierte er zunächst darüber, wie es möglich sein müsste, in Kenntnis einer einzigen Tatsache allein durch logische Ableitung eine ganze Kette von Geschehnissen herzuleiten und zwar sowohl Geschehnisse in der Vergangenheit als auch solche, die in der Zukunft liegen.

Außerdem vertrat er, wie er das auch früher schon getan hatte die These, dass es richtig sei, in seinem "Gehirnstübchen" nur das zu speichern, was man an Wissen auch sehr wahrscheinlich brauchen würde. Alles Übrige solle man in der "Rumpelkammer" seiner Bibliothek verstauen, aus der man es nach Wunsch und Bedarf jederzeit wiederhervorzaubern könne.

Für den vorliegenden Fall sei es aber sicherlich notwendig, alle verfügbaren Wissensquellen anzuzapfen. Als erstes bat er um den Band mit dem Buchstaben K aus der Enzyklopädie von Amerika.

Dann stellte er folgende Überlegungen an:

Für ihn sei es sehr wahrscheinlich, dass Elias Openshaw Amerika nicht ohne sehr gewichtigen guten Grund verlassen habe. Dieser Grund sei vermutlich, dass er Furcht vor jemandem oder vor etwas hatte. Daher auch seine Neigung in England sehr zurückgezogen zu leben.

Auf das, was er gefürchtet habe, könne man nur durch die Briefe schließen. Also beschäftigten wir uns nun genauer mit unserem Wissen über diese Briefe. Zunächst stellten wir fest, dass die Absendeorte Pondicherry, Dundee und London-Ost alles Seehäfen sind und somit der Schluss nahe lag, dass der Schreiber der Briefe auf einem Schiff zu suchen sei.

Dann stellten wir Vermutungen über den Zusammenhang der Entfernung der Orte und der unterschiedliche langen Zeit an, die verstrichen war zwischen Einfädeln der Tat und deren Ausführung. Beim ersten Brief waren es sieben Wochen, beim Zweiten drei oder vier Tage.

Sherlock Holmes schloss aus dem Vergleich von Entfernungen und Zeit bis zur Tat, das der oder die Täter mit einem Segler unterwegs sein mussten. Hätten sie von Pondicherry ein Dampfschiff genommen, hätten sie fast zur gleichen Zeit ankommen müssen, wie der Brief, der mit dem Postschiff - einem Dampfschiff - befördert worden war. Es vergingen aber sieben Wochen zwischen Ankunft des Briefes und der Tat, während bei dem Brief aus Dundee nur 3-4 Tage vergingen.

Seine Erklärungen erschienen mir als durchaus wahrscheinlich. Und er leitete daraus auch seine Ermahnung an John Openshaw ab, auf seinem Heimweg größte Vorsicht walten zu lassen. Denn er ging davon aus, dass, da der Brief in London abgestempelt war, die Täter sich bereits in London befanden.

Noch einen weiteren Schuss zog Holmes aus dem, was uns sein junger Klient berichtet hatte. Holmes ging davon aus, dass es sich nicht um einen einzelnen Täter handeln konnte, sondern um mehrere. Er war sich sicher, dass es für einen Einzeltäter unmöglich gewesen wäre, 2 Morde so aussehen zulassen, dass sie wie Selbstmord oder Unfall wirkten und die Ermittlungsbehörden getäuscht hätten. Das könne nur das Werk mehrer gewesen sein.

Aus diesem Glied der Kette folgerte Holmes dann, dass K.K.K nicht für eine einzelne Person stehe, sondern für eine Vereinigung und zwar für den Ku Klux Klan.

Mir sagte dieser Name und diese Organisation leider überhaupt nichts. Daher schlug Holmes den Enzyklopädieband auf, den ich ihm vorhin gereicht hatte und las den Abschnitt über diese schreckliche Vereinigung vor.

Es handelte sich um eine Vereinigung, die nach dem Ende des amerikanischen Bürgerkrieges gegründet worden war und zwar von ehemaligen Soldaten der "Konföderierten" vor allem in den Südstaaten. Sie erlangten durch Terror großen Einfluss, den sie gegen diejenigen einsetzte, die für größere Rechte der schwarzen Bevölkerung eintraten und die Sklavenhaltung abgeschafft hatten.

Die Organisation ging in der Regel so vor, dass sie ihrem Opfer eine verschlüsselte, aber dennoch verständliche Warnung zukommen ließ: einen Zweig einer Eiche oder aber in anderen Landesteilen Melonensamen oder Apfelsinenkerne. Dem Opfer blieb nur die Wahl zwischen Flucht aus dem Land oder sich den Wünschen der Organisation bedingungslos zu unterwerfen. Versuchte das Opfer aber mutig zu sein und sich offen zu widersetzen, fand es auf sehr seltsame und unvorhersehbare Weise den Tod.

Es waren kaum Fälle bekannt, in denen es dem Opfer gelungen war, sich ungestraft der Organisation zu widersetzten oder aber bei denen es gelungen war, die Gewalttat zweifelsfrei dem Ku Klux Klan nachzuweisen.

Diese Geheimgesellschaft war einige Jahre sehr aktiv, bis im Jahre 1869 die Bewegung plötzlich zusammenbrach. Seither gab es nur noch selten Ausschreitungen und Übergriffe.

"Ist Ihnen, lieber Watson aufgefallen, dass das Auseinaderbrechen der Organisation zeitlich genau mit dem Verschwinden Openshaws und der Papiere aus Amerika zusammen fällt?" Könnte es nicht sein, dass es sich hier nicht um einen Zufall sondern um Ursache und Wirkung handelt?

Wenn dem so ist, ist es kein Wunder, dass ihm und seiner Familie einige Leute auf den Fersen sind. Für sie ist es ungeheuer wichtig die Papiere zurück zu bekommen, da in ihnen Dinge verzeichnet sind, die einige der angesehensten Männer schwer belasten würden.

Holmes schloss aus alle dem, dass dem jungen John Openshaw nur die Chance blieb, zu tun, was der Absender des Briefes von ihm verlangte. Außerdem stellte Sherlock fest, dass wir an diesem Abend nichts mehr in der Angelegenheit unternehmen könnten und so griff er nach seiner Violine, um noch ein wenig auszuspannen.

Am nächsten Morgen traf ich Sherlock beim Frühstück, mit dem er nicht auf mich gewartete hatte, weil er, wie er sagte, heute sehr viel in unserem neuen Fall unternehmen wollte; unter Umständen sei es sogar notwendig nach Horsham hinauszufahren. Zunächst wolle er aber in London selbst Nachforschungen anstellen.

Unterdessen hatte ich nach der Zeitung gegriffen. Mein Blick blieb auf einer Schlagzeile hängen, die mich doch sehr betroffen machte und erschreckte. "Holmes, ich fürchte, Sie kommen zu spät". Betroffen setzte Holmes sein Tasse ab und meinte, dass er das befürchtet habe. Dann wollte er wissen, wie es geschehen sei.

Nachdem ich den Artikel gelesen hatte, schilderte ich Holmes den Inhalt des traurigen Berichtes: Zwischen 9 und 10 Uhr gestern Abend hatte ein Dienst habender Konstabler in der Nähe der Waterloo Bridge eine Hilfeschrei gehört und gleich darauf habe er gehört wie jemand ins Wasser fiel.

Einige Passanten hatten zwar sofort versucht zu helfen, aber durch den Sturm und die außergewöhnliche Dunkelheit war es nicht mehr gelungen, die Peson zu retten. Mit Hilfe der Wasserpolizei hatte man später die Leiche eines jungen Mannes geborgen und anhand von einem Kuvert herausgefunden, dass es sich um John Openshaw aus der Nähe von Horsham handelte.

Unzweifelhaft habe es sich um einen tragischen Unglücksfall gehandelt; die Leiche habe keine Spuren von Gewaltanwendung aufgewiesen. Sicherlich sei der junge Mann, der wohl versucht habe, den letzen Zug in der Waterloo-Station zu erreichen, bei der Dunkelheit vom Weg abgekommen und von einer der kleinen Landungsbrücken für Flussdampfer ins Wasser gestürzt.

Einige Minuten saßen Holmes und ich schweigend und erschüttert da. Dann meinte Holmes, dass dieser Ausgang seinen Stolz verletze. Jetzt werde die Angelegenheit zu seiner persönlichen Sache und er werde alles daransetzten, die Bande zu fassen.

Meine Frage, ob er nun die Polizei einschalte, verneinte er und meinte, die könne sich die Bande wie Fliegen aus dem Netz einer Spinne fangen, wenn er dieses Netz erst geknüpft habe. Bis dahin sei das Ganze aber seine alleinige Angelegenheit. Mit diesen Worten machte er sich auf den Weg.

Da ich den ganzen Tag in meiner Praxis beschäftigt war, kam ich erst später wieder in der Baker Street an, aber Sherlock Holmes war noch nicht zu Hause. Erst gegen 22 Uhr kehrte er zurück und machte einen sehr müden und abgespannten Eindruck. Er nahm sich vom Büfett ein Stück Brot, aß es hastig und trank einen großen Schluck Wasser hinterher.

Dann meinte er, er habe seit dem Frühstück nichts mehr gegessen, habe nicht einmal Zeit gehabt, an Essen zu denken. Ich fragte ihn, ob er denn Anhaltspunkte gefunden habe und gut vorangekommen sei. Beides bejahte er. Er meinte, dass er die Kerle in der Hand habe und das Verbrechen an John Openshaw nicht lange ungestraft bleiben würde.

Sherlock beabsichtigte die Bande mit ihren eigenen Waffen zu schlagen und mit ihnen eine genauso teuflisches Spiel zu spielen, wie sie es mit John und seinem Onkel gespielt hatten.

Holmes nahm eine Apfelsine, schälte und zerlegte sie, entnahm die Kerne. 5 Kerne nahm er und steckte sie in ein Kuvert. Auf die Innenseite der Lasche schrieb er: S.H. an J.C. Dann verschloss er das Kuvert, siegelte es und schrieb als Adressaten: Captain Calhoun, Barke "Lone Star", Savannah, Georgia.

"Dieses Kuvert wird Calhoun vorfinden, wenn er in den Hafen einläuft"; sagte Holmes mit einem fast teuflischen Lachen. Ich sah ihn ein wenig verständnislos an. Daher erzählte mir Holmes was er im Laufe des Tages in Erfahrung gebracht hatte.

"Captain Calhoun ist der Anführer der verbrecherischen Bande. Er ist der Kapitän des Lastenseglers Lone Star. Ich habe den ganzen Tag über den Aufzeichnungen von Lloyd's verbracht und die Routen der Schiffe verfolgt, die im Januar und Februar des Jahres 1883 im Hafen von Pondicherry lagen. Das waren 36 Schiffe. Die "Lone Star" fand mein besonderes Interesse, da ihr Name auf einen amerikanischen Bundesstaat hindeutet und das Schiff amerikanischer Herkunft ist; dem widerspricht auch nicht, dass es in London in See gestochen ist.

Dann überprüfte ich die Listen für Dundee vom Januar 1885 und erkundigte mich nach den Schiffen, die zur Zeit hier im Hafen .liegen. Und was glauben Sie, was ich gefundne habe? Die "Lone Star" war immer an den besagten Orten. Also war ich mir sicher, dass ich das richtige Schiff gefunden hatte.

Die "Lone Star" ist letzte Woche in den Hafen eingelaufen und hat ihn heute Morgen verlassen, um zu ihrem Heimathafen Savannah zurück zu segeln. Sie wird, wie meine Nachforschungen ergeben haben, zur Zeit nicht mehr weit von der Isle of Wight entfernt sein."

"So weit so gut, aber wie wird es jetzt weiter gehen?" "Nun, da ich weiß, dass Calhoun und zwei Maate die einzigen gebürtigen Amerikaner an Bord sind und ich sicher weiß, dass alle drei gestern Abend von Bord waren, habe ich die Polizei von Savannah davon in Kenntnis gesetzt, dass die drei dringend des Mordes verdächtigt werden. Wenn sie also in Savannah ankommen, werden sie bereits von der Polizei erwartet. Außerdem werden sie dort den Brief vorfinden, denn das Postschiff wird um einiges früher in Savannah einlaufen als die "Lone Star".

Soweit also der Plan, den Sherlock Holmes geschmiedet hatte und für den er alles Notwendige veranlasst hatte. Dennoch wurde dieser Plan vom Schicksal durchkreuzt.

Captain Calhoun und seine Komplizen haben die Apfelsinenkerne nie erhalten. Die "Lone Star" wurde Oper der sehr heftigen und ausgedehnten Äquatorialstürme.

Nachdem wir sehr lange auf Nachricht aus Savannah gewartet hatten, hörten wir eines Tages, dass weit draußen auf See die Überreste der "Lone Star" gesichtet worden waren. Mehr erfuhren wir aber nicht mehr über ihr Schicksal und das der drei Halunken.