Die letzte Nacht - Teil 1

  • Autor: Stevenson, Robert Louis

Eines Abends, Mister Utterson verweilte nach dem Essen neben dem Kamin, überraschte ihn ein Besuch Pooles.

"Poole, was führt Sie des Wegs!", rief Utterson verwundert. "Fehlt Ihnen etwas? Oder ist der Doktor krank?"

"Mister Utterson, irgendetwas stimmt nicht", sagte der Mann.

"Nehmen Sie Platz und trinken Sie ein Glas Wein", sagte der Anwalt. "Und dann berichten Sie mir genau, was Sie von mir wünschen."

"Die Angewohnheiten des Doktors sind Ihnen doch bekannt, Sir", sagte Poole, "Sie wissen doch, dass er sich immer einschließt. Jetzt hat er sich erneut ins Arbeitszimmer eingeschlossen und, ich kann nicht genau erklären weshalb, aber es gefällt mir nicht. Mister Utterson, ich fürchte mich".

"Nun ja, guter Mann", antwortete der Anwalt, "erklären Sie mir das genauer, wovor fürchten Sie sich?"

"Seit etwa einer Woche lebe ich in steter Angst", erwiderte Poole, die beharrliche Frage überhörend. "Es ist nicht mehr auszuhalten".

Sein Aussehen und sein Gebaren unterstrichen seine Worte; nur einen kurzen Moment, als er von der Angst sprach, traf sein Blick in des Anwalts Gesicht. Ebenso stand das Glas Wein unberührt auf seinen Knien, während er mit starrem Blick in eine Ecke der Diele blickte. "Ich kann das nicht länger ertragen", sagte er wiederholt.

"Ich verstehe, Poole", sagte Utterson, "dennoch müssen Sie sich fassen. Sicher sind Ihre Gründe schwerwiegend, und ich bin einig mit Ihnen, dass hier ernsthaft etwas im Argen liegt. Doch, versuchen Sie zu erklären, worum es sich handelt."

"Ich meine, hier ist eine Schandtat geschehen", sagte Poole mit heiserer Stimme.

"Eine Schandtat?", rief Mister Utterson erschrocken aus und ärgerte sich denn sogleich über sich selbst. "Was heißt Schandtat, was meinen Sie damit?"

"Ich wage es nicht, zu erklären, Sir. Bitte, kommen Sie mit mir mit und sehen Sie selbst."

Utterson antwortete indem er Hut und Mantel nahm. Verwundert registrierte er die unglaubliche Erleichterung auf dem Gesicht des Butlers und die Tatsache, dass das Weinglas noch unberührt war, als Poole ihm folgte.

Die Märznacht war kalt, stürmisch und der Jahreszeit angemessen, mit blassem Mond, der auf dem Rücken der Wolken zu liegen schien, als hätte eine Windböe ihn umgeworfen und trüge ihn nun mit durchsichtigem Schleier den Himmel entlang. Das Sprechen fiel schwer ob des Windes und die Wangen waren blutrot. Die Straßen waren menschenleer und Mister Utterson glaubte, diesen Teil Londons noch nie so vereinsamt gesehen zu haben. In ihm erwuchs der dringende Wunsch, Menschen sehen und anfassen zu dürfen. Sein Herz trug die schreckliche Vorahnung eines Unglücks in sich.

In der Gasse angekommen, blies ihnen der staubige Wind entgegen, die Äste der dünnen Bäume peitschten gegen die Fenstergitter. Poole, der stets einige Schritte vorausgeeilt war, hielt blitzartig inne, mitten auf dem Bürgersteig und trotz des heftigen Wetters nahm er seinen Hut ab, trocknete mit einem roten Taschentuch die Stirn von Schweißtropfen, die nicht etwa vom schnellen Gang kamen sondern eher Ausdruck fürchterlicher Angst waren. Mit aschfahlem Gesicht und brüchiger Stimme sagte er: "Sir, hier wären wir. Möge Gott verhindern, dass uns Schlimmes erwartet."

"Amen, Poole", antwortete Utterson, "und nun öffnen Sie die Tür."

Auf das vorsichtige Klopfen des Dieners öffnete sich die Tür einen Spalt, so weit eben, wie es die Sicherheitskette zuließ. "Poole, sind Sie es?", wisperte eine Stimme.

"Ganz recht, öffne die Tür."

Utterson folgte dem Diener in die hell erleuchtete Eingangshalle, in der ein Feuer brannte. Die Dienerschaft verlieh ihrer Erleichterung Ausdruck, die Köchin rannte gar mit einem Aufschrei auf ihn zu und wollte ihn umarmen.

"Was ist denn das?", rief Utterson brummig aus. "Warum seid ihr hier versammelt. Dies ist ungehörig, euer Herr wird das keineswegs billigen."

"Sie fürchten sich allesamt", sagte Poole und wies ein laut aufheulendes Mädchen mit seiner scharfen Stimme in die Schranken. "Reich mir den Leuchter", befahl er dem Küchenjungen, "wir wollen dieser Sache jetzt endlich auf den Grund gehen." Er bat Mister Utterson um Geleit und schritt den Gang zum rückwärtigen Garten ein.

"Bitte, Sir, verhalten Sie sich leise, damit sie alles hören können, aber selbst nicht gehört werden. Und bitte hören Sie auf mich, Sir: Falls er Sie ins Labor hinein bitten sollte, bitte tun Sie es nicht!"

Mister Uttersons Nerven waren zum Zerreißen gespannt, ob dieser letzten Worte. Jedoch nahm er seinen ganzen Mut zusammen und folgte dem Butler. Sie schlichen durch den Hörsaal, über das Gerümpel von Kisten und Flaschen bis zur Treppe. Poole wies ihn an, auf der einen Seite stehen zu bleiben und zu horchen, während er selbst die Treppen emporstieg und mit flattriger Hand an der roten Tür des Arbeitszimmers klopfte.

"Sir, Mister Utterson möchte Sie besuchen", gleichzeitig gab er dem Anwalt ein Zeichen, er möge genau hinhören. Eine weinerliche Stimme antwortete von drinnen: "Ich kann niemanden empfangen, sagen Sie ihm das".

"Danke, Sir.", antwortete Poole mit fast schon triumphierendem Klang in der Stimme.

Zusammen mit Utterson trat er den Rückweg an. In der Halle angekommen fragte er: "Und, Sir, war das die Stimme meines Herrn?"

"Hm, sie kam mir stark verändert vor", erwiderte der Anwalt, dem Blick des Dieners standhaltend, aber mit bleichem Antlitz.

"Sir, verändert? Ich bin seit zwanzig Jahren im Haus, mich kann keine fremde Stimme verwirren. Mein Herr wurde umgebracht, schon vor acht Tagen, damals, als wir ihn den Namen Gottes anrufen hörten. Wer steckt an seiner Statt hinter dieser Tür? Die Sache schreit zum Himmel, Mister Utterson."

"Seltsam, Poole, seltsam", sagte der Anwalt und biss sich auf die Finger. "Nehmen wir an, Doktor Jekyll wäre umgebracht worden. Weshalb wohl würde der Mörder im Raume bleiben? Dazu finde ich wirklich keinen Grund."

"Auch wenn es schwer wird, Sie zu überzeugen, werde ich es versuchen zu erklären", sagte Poole. "Während der letzten Woche hat jene Kreatur hinter dieser Tür Tag und Nacht nach einer bestimmten Medizin gerufen, deren Namen er vergessen hatte. Sie müssen wissen, es war zuweilen die Art von Doktor Jekyll, seine Aufträge auf Zettel zu schreiben und auf die Treppe zu werfen. Letzte Woche jedoch, haben wir nichts anderes zu sehen bekommen, nichts außer Zettel und eine verschlossene Tür. Die Speisen mussten wir vor der Tür abstellen, sie wurden hineingeschmuggelt, wenn niemand zusah. Mehrmals täglich bin ich zu Apotheken gerannt, brachte immer das verlangte Zeug mit. Dann kam ein neuer Befehl, mit einem neuen Mittel, aus einer anderen Firma. Diese Medizin scheint dringend gebraucht zu werden, wofür es auch immer sein mag."

"Haben Sie noch einen dieser Zettel?", fragte Mister Utterson.

Poole zog ein zerknülltes Papier aus der Tasche, das der Anwalt sorgfältig las: "Doktor Jekyll sendet der Firma Maw seine besten Grüße. Leider war die letzte Probe unrein und für den Zweck nicht zu gebrauchen ist. Im Jahre 18.. kaufte Doktor Jekyll eine große Menge dieses Mittels und bittet nun um peinlichste Sorgfalt bei der Suche nach dem Mittel mit derselben Qualität. Die Zeit eilt und Kosten spielen keine Rolle. Die Bedeutung des Mittels ist für Doktor Jekyll unermesslich." Bis dahin war der Brief beherrscht, doch dann hat der Schreiber seine Beherrschung verloren. "Um Gottes Willen, treiben Sie etwas von dem alten Medikament auf!" stand am Schluss des Briefes.

"Ein seltsames Schriftstück", murmelte Utterson vor sich hin; zu Poole sagte er mit scharfer Stimme: "Wie kommen Sie zu diesem geöffneten Brief."

"Der Mann warf mir den Zettel in ärgerlicher Manier wieder zu, als wäre es ein Stück Dreck, Sir", sagte Poole.

"Das ist doch die Schrift vom Doktor, oder?", fragte der Anwalt.

"Man möchte es meinen", sagte der Diener. "Aber darauf kommt es nicht an, ich habe ihn gesehen", rief er mit veränderter Stimme.

"Ich gesehen? Und was?", fragte Utterson aufgeregt.

"Na ja, das ist es ja. Völlig unerwartet, ich kam gerade aus dem Garten, stand er am Ende des Flurs zwischen den Kisten und wühlte herum. Als er mich bemerkte, stieß er einen Schrei aus und sauste in sein Arbeitszimmer. Es war nur ein kurzer Moment, in dem ich ihn sehen konnte, aber mir standen die Haare zu Berge. Sir, wenn das mein Herr war, dann trug er eine Maske vor dem Gesicht. Er quietschte wie eine Ratte und rannte vor mir davon! Weshalb, ich habe ihm so lange gedient…", Poole strich sich mit der Hand übers Gesicht.

"Merkwürdige Umstände sind das", sagte Utterson. Er suchte die Erklärung in einer Krankheit, die den Menschen Jekyll entstellt hatte. Deshalb suchte er nach einem Medikament. Eine Krankheit, die sowohl quält als entstellt - jawohl, so musste es sein. "Gott gebe, dass er nicht enttäuscht wird", sagte der Anwalt, "Es ist traurig, Poole, gewiss, aber dieses Entsetzliche ist auch eine einfache und natürliche Erklärung, die uns von übertriebener Sorge befreit".

"Nein, Sir", erwiderte der Butler blass, "diese Kreatur war nicht mein Herr. Mein Herr war stattlich, diese Kreatur war ein kleiner Zwerg". Und bevor Utterson widersprechen konnte, rief der Diener "Nein, Sir, dieses Wesen war nie und nimmer Doktor Jekyll. Dort ist ein Mord passiert.

"Wenn Sie das behaupten, muss ich dieser Sache auf den Grund gehen, Poole", sagte Utterson. "So sehr mich der Zettel verwirrt und so gerne ich auch die Gefühle von Doktor Jekyll schonen möchte, fühle ich mich verpflichtet, diese Tür aufzubrechen".

"Das ist ein Wort", rief Poole.