Ich gehe mein Erbe suchen

  • Autor: Stevenson, Robert Louis

Ich verwandelte mein Äußeres, so gut ich konnte, und stellte bald mit Hilfe des Spiegels fest, dass der Bettelmann verschwunden war, dass David Balfour wieder zum Vorschein kam. Als ich endlich fertig war, nahm mich Mister Rankeillor an der Treppe wieder in Empfang und führte mich noch einmal in sein Arbeitszimmer.

"Setzt Euch nieder; Mister David", sagte er. "Da Ihr nun wieder ausseht wie Ihr selbst, wollen wir sehen, ob sich einige bemerkenswerte Neuigkeiten für Euch finden. Sicherlich werdet Ihr Euch über Euren Vater und Euren Oheim Gedanken machen. Das ist wirklich eine merkwürdige Geschichte, deren Erklärung mich ein wenig erröten lässt. Alles dreht sich um eine Liebesangelegenheit."

"Dieses Wort mit meinem Onkel in Verbindung zu bringen, fällt mir allerdings schwer", erwiderte ich.

"Aber Euer Oheim, Mister David", sagte der Anwalt darauf, "war nicht von eh und je ein alter Mann! Und was Euch noch mehr in Erstaunen versetzen wird, er war auch nicht immer hässlich! Er hatte ein vornehmes Wesen, und die Leute sahen ihm nach, wenn er auf seinem feurigen Ross vorüber ritt.

Dann verliebten sich Euer Vater und Euer Oheim und zwar in dieselbe junge Dame. Mister Ebenezer, der Bewunderte, der Beliebte und Verwöhnte, rechnete fraglos ganz zuversichtlich mit seinem Sieg. Aber er hatte sich getäuscht! Sie wollte Euren Vater! Alle um Mister Ebenezer herum bekamen es zu spüren.

Bald lag er schwerkrank zu Hause, und die törichte Familie versammelte sich weinend um sein Bett. Bald ritt er von Wirtshaus zu Wirtshaus und erzählte jedem sein Leid.

Euer Vater, Mister David, war ein liebenswürdiger Herr, aber schwach. Mit unerschöpflicher Geduld nahm er all den Unsinn hin, und eines Tages verzichtete er auf das Fräulein. Aber sie war nicht auf den Kopf gefallen. Sie wollte einfach nicht von einem zum anderen hin und her geworfen werden. Da sind sie beide vor ihr in die Knie gesunken.

In der folgenden Zeit schlossen sie einen Handel ab, unter dem Ihr in letzter Zeit zu leiden hattet, Mister David. Der eine nahm das Fräulein, der andere die Güter. Darüber kann man denken wie man will. Die Sache war also die, dass Euer Vater und Eure Mutter in Armut gelebt haben und gestorben sind. Ihr seid in Armut aufgewachsen.

Für die Pächter auf dem Gut Shaws ist es eine furchtbare Zeit gewesen, aber auch für Mister Ebenezer. Die Leute zeigten ihm die kalte Schulter, denn sie wussten nicht, was geschehen war. Sie sahen nur den einen der Brüder verschwinden und den anderen das Gut übernehmen. Euer Oheim wurde von allen Seiten gemieden. Geld war das Einzige, was er bei dem Handel einheimste. So kam es, dass das Geld für ihn immer wichtiger wurde. Er war selbstsüchtig, als er jung war, und nun, wo er alt ist, ist er es auch."

"Und ich?", fragte ich nun. "Wie ist meine Stellung in alledem?"

"Das Gut gehört Euch ganz ohne Zweifel", erwiderte der Anwalt. "Es ist völlig unwichtig, was Euer Vater unterzeichnet hat, Euer Erbteil gehört Euch. Aber Euer Oheim wird eine Sache versuchen durchzukämpfen: Er wird Eure Identität anzweifeln.

Ein Rechtsstreit in einer Familie ist immer kostspielig und erregt Aufsehen. Der an Euch begangene Menschenraub ist fraglos ein Haupttrumpf in unseren Händen, aber wir müssen ihn nachweisen! Das wird uns schwer fallen! Außerdem darf nichts von Euren Taten mit Eurem Freund Thomson ans Licht kommen.

Wenn ich all das beachte, wäre mein Rat, Eurem Oheim ein möglichst verträgliches Geschäft vorzuschlagen, ihn vielleicht sogar auf Shaws zu lassen und Euch ein anständiges Versorgungspaket zu übereignen."

Ich antwortete, ich sei durchaus geneigt, mit mir reden zu lassen, und es widerstrebe mir sehr, Familienangelegenheiten vor die Öffentlichkeit zu bringen. Gleichzeitig begann ich mir im Stillen die Grundlinien des Planes zu überdenken, den wir später verwirklicht haben.

Ich fragte: "Die wichtigste Aufgabe ist also, ihm den Raub meiner Person unwiderlegbar nachzuweisen?"

"Unzweifelhaft", sagte Mister Rankeillor, "und wenn möglich, nicht vor Gericht! Denn bedenkt wohl, Mister David, wir könnten sicherlich ein paar Leute von der ‚Couvenant' ausfindig machen, welche die Tatsache Eurer Gefangennahme beschwören würden. Haben wir diese aber erst einmal auf der Zeugenbank, so können wir sie unmöglich hindern, über alles zu sprechen, und dabei würde ganz sicher der Name Eures Freundes Thomson fallen. Das aber wäre nach allem, was ich von Euch gehört habe, nicht wünschenswert."

"Dann schlage ich folgendes Verfahren vor!", sagte ich und setzte ihm meinen Plan auseinander.

Als ich fertig war, bemerkte er: "Mir scheint, wenn wir so vorgingen, müsste ich jenem Thomson persönlich begegnen."

"Allerdings, Sir", entgegnete ich.

"Du meine Güte!", rief Rankeillor und rieb sich die Stirn. "Nein, nein, Mister David, ich fürchte, Euer Plan ist unausführbar! Ich sage nichts gegen Euren Freund, aber es wäre meine Pflicht, ihn verhaften zu lassen."

"Ihr müsst Euch selbst entscheiden, Sir", gab ich zur Antwort.

Es war deutlich, dass ihn mein Plan beschäftigte. Er blieb nachdenklich, bis wir zum Essen zu Mrs. Rankeillor gerufen wurden.

Als sie uns bei einer Flasche Wein allein ließ, fing er wieder an, über meinen Vorschlag zu reden. Wann und wo ich meinen Freund Thomson treffen wolle? Ob ich seiner Verschwiegenheit sicher sei? Würde ich einer Vereinbarung mit Mister Ebenezer zustimmen? Solche und ähnliche Fragen stellte er mir eine nach der anderen. Als ich alle Fragen anscheinend zu seiner Befriedigung beantwortet hatte, versank er in noch tieferes Nachdenken.

Dann ergriff er einen Stift und begann, etwas zu Papier zu bringen, wobei er jedes einzelne Wort sorgfältig wählte. Schließlich läutete er, und sein Schreiber kam herein.

Er sagte ihm, dass alles bis zum Abend ins Reine geschrieben sein müsse. Außerdem solle er sich bereithalten, denn er solle uns begleiten, da wir ihn wahrscheinlich als Zeugen brauchen.

Sobald der Schreiber hinaus war, rief ich: "Wie, Sir? Ihr wollt es wagen?"

"Hm, es scheint fast so", erwiderte er, sein Glas füllend. Dann wollte er nicht mehr über unser Vorhaben sprechen und erzählte mir von anderen Begebenheiten.

Endlich kam die Zeit heran, zu der ich mit Alan verabredet war. Wir drei Männer verließen das Haus. Der Schreiber trug die Urkunde in der Tasche und einen bedeckten Korb in der Hand.

Als wir zum Hafen kamen, musste ich wieder an meine schlimmen Erlebnisse auf See denken und an Ransome. Plötzlich fühlte Mister Rankeillor seine Taschen ab, lachte laut auf und rief: "Unglaublich! Jetzt habe ich meine Brille vergessen!"

Ich durchschaute ihn und wusste: Wenn er seine Brille zu Hause vergessen hatte, so war das absichtlich geschehen. So hatte er den Vorteil, Alans Hilfe in Anspruch zu nehmen, ohne ihn erkennen zu müssen. Das war klug ausgedacht.

Schließlich kamen wir zum Treffpunkt, und Alan kam hinter einem Busch hervor. Er war nicht bester Stimmung, denn er war den ganzen Tag über allein gewesen und hatte nur wenig gegessen.

Kaum erblickte er aber meine neuen Kleider, so hellte sich sein Gesicht auf, und als ich ihm alles erzählt hatte, auch von unserem Plan, verwandelte er sich wie in einen neuen Menschen. Natürlich wollte er uns unbedingt helfen! Er meinte, er sei gerade der richtige Mann dafür.

Ich winkte Mister Rankeillor und stellte ihm meinen Freund, Mister Thomson, vor. "Es freut mich, Sie kennen zu lernen, Mister Thomson", sagte er, "leider habe ich meine Brille vergessen, und Mister David weiß, dass ich so fast blind bin. Ihr dürft Euch also nicht wundern, wenn ich morgen an Euch vorüber gehen sollte.

Da Ihr und ich die Hauptrollen bei diesem Unternehmen spielen werden, sollten wir uns nun genau über unser Vorgehen verständigen."

Auf dem Weg zum Hause Shaws waren beide in ein eifriges Gespräch vertieft. Vor einiger Zeit hatte es zehn geschlagen.

Als wir dort ankamen, war alles völlig dunkel, in keinem Teil des Hauses entdeckten wir Licht. Alan meinte, dass mein Oheim wohl schon zu Bett gegangen sei. Das wäre für unseren Plan das günstigste gewesen. Wir trafen flüsternd unsere letzten Verabredungen. Der Anwalt, der Schreiber und ich duckten uns hinter die Hausecke. Alan ging ganz offen auf das Haustor zu und klopfte.