In den Wäldern des Nordens

  • Autor: London, Jack

Die Einöden des Nordens fand Avery van Brunt baumlos und freudlos, so gar nicht einladend. Doch dann stieß er auf bisher unerforschte Gebiete mit reichen Fichtenwäldern und unbekannten Eskimo-Stämmen. Er hatte die Absicht, die noch weißen Stellen auf Landkarten auszufüllen.

Avery van Brunt war Professor am Geologischen Vermessungsinstitut und Führer der Expedition, die er selbst 500 Meilen weit hierher geleitet hatte. Hinter ihm mühten sich seine Männer: zwei französisch-kanadische Reisende, die übrigen stämmige Crees von der Manitoba-Straße. Van Brunt selbst war Angelsachse. Mit ihm schritten Clive und Hastings, Drake und Raleigh, Hengist und Horsa. Vor sich sahen sie ein Dorf.

Als erster aller Männer seiner Rasse sollte er dieses weltabgeschiedene Dorf des Nordlandes betreten. Bei diesem Gedanken überkam ihn ein Triumphgefühl, eine frohe Erregung, und er beschleunigte seine Schritte.

Bei ihrem Näherkommen stellten sich ihnen Männer mit Bogen, Speeren und erhobenen Fäusten entgegen. Dahinter standen Frauen und Kinder. Van Brunt hob den rechten Arm zum Friedenszeichen, was von den Dorfbewohnern erwidert wurde. Plötzlich lief ein fellbekleideter Mann auf ihn zu und streckte die Hand mit einem vertraulichen "Hallo!" aus. Es war ein bärtiger Mann seiner eigenen Rasse.

"Wer sind Sie?", fragte van Brunt, die Hand ergreifend.

"Andree."

Van Brunt sah ihn genauer an: "Bei Gott, Sie müssen schon eine ganze Weile hier gelebt haben."

"Fünf Jahre. Kommen Sie, lassen Sie uns plaudern. Der alte Tant Iatch wird für Sie sorgen."

Mit langen Schritten ging er, und van Brunt folgte ihm durch das ganze Dorf. Es gab Zelte aus Elchfellen, und der Professor schätzte, dass es wohl zweihundert Bewohner außer den Kindern gab. Der Mann bestätigte das, und sie gingen zu seiner Hütte, die etwas abseits lag. Über den angebotenen Tee und den Tabak freute er sich sehr. Genüsslich zog er den Rauch ein.

Schließlich fragte van Brunt: "Fünf Jahre, sagen Sie?"

Der Man n erzählte, dass er auf der Jagd nach Moschusochsen in die Gegend verschlagen wurde, dabei seine Leute und seine Ausrüstung verlor und schließlich vor Hunger auf Händen und Füßen kriechend bei Tant Iatch ankam.

Van Brunt erinnerte sich, dass er in den Zeitungen über das Verschwinden eines Mannes gelesen hatte, der John Fairfax hieß. Einer seiner Leute hatte den Weg zurück geschafft. Er fragte ihn, warum er nie zurückgekommen sei.

Fairfax erzählte ihm, dass sich Tant Iatch den Fuß gebrochen hatte, als er ihn kennenlernte. Er renkte den Fuß ein, und dieser heilte gut. In dieser Zeit kam er selbst zu Kräften. Da er der erste Weiße war, den Tant Iatch je gesehen hatte, erschien er ihm sehr weise. Tatsächlich lernte er dem Volk viele Dinge. Zum Beispiel brachte er ihnen Strategien im Kampf gegen andere Stämme bei. Natürlich wollten sie ihn nicht wieder weg lassen und bewachten ihn Tag und Nacht. So blieb er.

Van Brunt sagte, dass er nun aber sicher mit ihnen kommen wird, doch Fairfax schüttelte den Kopf.

"Die Menschen hier sind ehrlich und einfach. Sie bringen Liebe, Furcht, Hass, Ärger und Freude deutlich zum Ausdruck. Einerseits ist es ein scheußliches Leben, andererseits ist es leicht, keine Irrtümer, keine Missverständnisse." Dann sank er tief in seine Gedanken. Das lange Schweigen war drückend, bis Fairfax endlich sagte: "Sie haben wohl recht. Ich komme mit. Wann brechen Sie auf?"

"Wenn die Leute etwas geschlafen haben."

Dann gingen sie gemeinsam zum Essen, das Michael, der Koch, vorbereitet hatte. Nach dem Abendessen, als die anderen sich zum Schlafen gelegt hatten, saßen die beiden Männer noch an dem erlöschenden Feuer. Sie hatten viel über das zu reden, was in fünf Jahren geschehen war - von Kriegen und Politik, von Ereignissen, Todesfällen und Heiraten. Gerade als sie von einer Seeschlacht sprachen, trat eine junge Frau zu ihnen und stellte sich neben Fairfax. Verwirrt blickte sie van Brunt an.

Errötend erklärte Fairfax: "Sie ist die Tochter Tant Iatchs, eine Art Prinzessin, und ehrlich gesagt ein Grund, warum ich hier geblieben bin. Thom, das ist mein Freund van Brunt."

Thom betrachtete den Professor genau und kauerte sich dann neben ihrem Gatten nieder. Ihre Blicke wanderten unaufhörlich zwischen den beiden Männern hin und her. Nach etwa zwei Stunden erhob sich Fairfax: "Warten Sie einen Augenblick! Ich gehe nur schnell zu Tant Iatch hinüber. Er wird Sie nach dem Frühstück erwarten."

Er verschwand zwischen den Kiefern. Van Brunt betrachtete Thom. Fünf Jahre war Fairfax jetzt hier und die junge Frau konnte nicht älter als zwanzig sein. Sie hatte ein feines Antlitz, eher orientalisch als arktisch. Noch immer starrte sie ihn an.

Dann sagte sie: "Du, es ist nicht gut, dass du hier bist."

"Dein Mann und ich sind Brüder. Nach einem Schlaf gehe ich."

"Und mein Mann?", fragte sie mit zitternder Stimme.

Van Brunt zuckte mit einem heimlichen Schamgefühl die Achseln.

"Mein Mann! Mein Mann!", wiederholte sie heftig und blickte ihm dabei in die Augen.

"Thom", sagte er ernst auf englisch. "Du bist in den Wäldern des Nordlandes geboren; du hast Fleisch und Fisch gegessen; mit Kälte und Hunger gekämpft und alle deine Tage einfach gelebt. Es gibt viele Dinge, die du nicht kennst und verstehst. Du warst diesem Mann eine Frau, aber sein Herz gehörte nie wirklich dir. Du wirst ihm aber sehr fehlen in den kommenden Jahren."

Obwohl sie ihn nicht verstand, lauschte sie aufmerksam. In ihrer Sprache sagte sie: "Er ist mein Mann. Ich habe nie einen anderen gekannt. Es kann nicht sein, dass er von mir geht."

"Wer hat gesagt, dass er von dir gehen soll?", fragte er scharf.

Mit Tränen in der Stimme sagte sie: "Du musst ihm sagen, dass er nicht von mir gehen soll. Du musst es ihm sagen. Er ist mein Mann. Du bist groß und stark. Ich bin schwach." Immer wiederholte sie die Worte: "Er ist mein Mann."

Sie sagte, dass ihr Vater, der Häuptling, auch eine Frau für ihn suchen solle, damit auch er hier bei seinem Bruder bliebe.

"Nach einem Schlaf gehe ich fort."

Dann kam Fairfax zurück. "Alles in Ordnung. Seine Majestät werden Sie nach dem Frühstück empfangen."

"Haben Sie es ihm gesagt?"

"Nein, ich will es ihm auch nicht sagen, bevor wir marschfertig sind. Ich werde froh sein, wenn wir hundert Meilen von hier fort sind."

Thom hob den Fellvorhang von der Hütte ihres Vaters. Neben dem Häuptling kauerte Chugungatte, der Schamane. Ihnen gegenüber saß Keen, ein junger, im Stamm sehr beliebter Mann. Es war still in der Hütte.

Tant Iatch blickte seine Tochter an: "Und dein Mann? Wie steht es mit ihm und dir?"

"Er singt fremde Lieder", antwortete Thom, "und es ist ein neuer Ausdruck in seinem Gesicht."

"Hat er gesprochen?"

"Nein, aber es ist ein neuer Ausdruck in seinem Gesicht, ein neues Licht in seinen Augen, und er sitzt mit dem Fremden am Feuer, und sie reden und reden ohne Ende. Irgendetwas ruft ihn aus der Ferne, und er scheint zu lauschen."

Chugungatte flüsterte dem Häuptling etwas ins Ohr. Keen beugte sich vor.

Thom schwieg, bis ihr Vater ihr ein Zeichen gab, weiter zu sprechen. "Du weißt, dass Tiere in das Land zurückkehren, aus dem sie kommen. Und jetzt ruft ein Land meinen Mann, das Land, in dem er geboren ist, und er gedenkt, dem Ruf zu folgen. Aber er ist doch mein Mann."

Keen rief: "Es ist richtig, wenn er geht! Es ist nicht gut, wenn Fremdlinge ihre Weiber in unseren Dörfern suchen. Daher sage ich, dass der Mann zu seinem eigenen Geschlecht in sein eigenes Land gehen soll."

Thom antwortete: "Er ist mein Mann, und er ist ein großer Mann."

"Ja, er ist ein großer Mann." Chugungatte hob den Kopf. "Er hat deinen Armen Stärke geschenkt, o Tant Iatch. Er hat dir Macht gegeben und deinen Namen bekannt gemacht, gefürchtet und geehrt. Er ist sehr weise, und seine Weisheit bringt viel Nutzen. Ihm haben wir vieles zu verdanken - beim Kämpfen, beim Besiegen des Feindes mit Worten, auf der Jagd, bei der Aufbewahrung von Lebensmitteln und bei der Heilung von Krankheiten und Wunden. Bei schwierigen Fragen hast du, Tant Iatch, ihn um seinen weisen Rat befragt. Wir können ihn deshalb nicht gehen lassen."

Thom forschte vergeblich im Gesicht ihres Vaters. Keen schlug sich kräftig vor die Brust und sagte, dass er seine Beute erfolgreich ohne den Fremden jage und glücklich über das ist, was er allein vollbringt. "Ich sage, es ist gut, dass der Fremdling geht. Seine Weisheit macht uns nicht weise. Wir brauchen ihn nicht."

Der Häuptling blieb noch immer stumm.

"Was gegeben ist, kann nicht zurück genommen werden", erklärte Thom. "Ich war noch ein Kind, als du mich in die Arme des Fremdlings legtest, du und kein anderer, Tant Iatch! Und wie du mich dem M;ann gabst, so gabst du ihn auch mir. Er ist mein Mann und kann nicht aus meinen Armen gerissen werden."

Da meinte auch Keen, dass es gut wäre, daran zurück zu denken, dass das, was gegeben ist, nicht mehr zurück genommen werden kann.

Chugungatte sagte darauf: "Deine Jugend, Keen, geben deinem Mund diese Worte ein, aber Tant Iatch und ich sind Männer, die die Weisheit der Ratsversammlung, die Schlauheit des kühlen Kopfes und der ruhigen Hand gelernt haben. Wir wissen, dass Thom dir in alten Tagen versprochen wurde, als sie noch ein Kind war. Und wir wissen, dass die neuen Tage kamen und mit ihnen der Fremdling. Dadurch verlorst du Thom, und das Versprechen wurde gebrochen. Du weißt auch, dass ich den Rat gab, das Versprechen zu brechen.

Ich sah schon damals, dass der Fremde groß und weise ist. Er erhielt Macht und Stellung und Thom. Der Stamm gedieh unter den neuen Gesetzen, und er wird weiter gedeihen, solange wir den Fremdling in unserer Mitte haben. Wir wissen, dass dies eine Sache des Kopfes ist und nicht des Herzens. Hör meine Worte! Lass den Mann hier bleiben!"

Ein langes Schweigen herrschte, bis Tant Iatch von einem Gesicht zum anderen sah. Er betrachtete jedes lange und sorgfältig. Dann hob er den Kopf und sprach in ruhigem Ton sein Urteil:

"Der Mann bleibt. Lasst die Jäger zusammenrufen. Schickt einen Läufer in das nächste Dorf mit dem Befehl, die Krieger zu schicken. Ich will den neuen Fremdling nicht sehen. Sprich du mit ihm, Chugungatte. Sag ihm, dass er gleich gehen soll, wenn er in Frieden gehen will. Wenn es aber zum Kampf kommt, so tötet alle, nur nicht den Mann meiner Tochter."

Chugungatte stolperte hinaus. Thom folgte ihm.

Zu Keen sagte der Häuptling: "Höre auf mein Wort! Der Mann bleibt. Sorge dafür, dass ihm nichts geschieht!"

Infolge des strategischen Unterrichts von Fairfax krochen die Krieger in Deckung heran. Die Reisenden unten am Fluss konnten nichts sehen oder hören, aber sie fühlten das Leben im Wald.

"Verfixt", brummte Fairfax, "ich habe sie das gelehrt."

Avery van Brunt klopfte seine Pfeife aus und lockerte das Jagdmesser an seiner Hüfte. "Wartet nur, wir wollen euch die Suppe versalzen!"

"Wenn wir sie nur zum Losbrechen reizen könnten", murmelte Fairfax.

Van Brunt sah hinter einem entfernten Baum einen Kopf hervorlugen und brachte den Mann durch einen schnellen Schuss zu Fall. Ein anderer wurde an seiner ungedeckten Schulter getroffen Dann feuerten sie, sobald sich etwas bewegte und hatten dabei viele Treffer.

Zehn Minuten später, als sie ganz nah waren, hörte jede Bewegung auf. Die folgende Stille war unheilverkündend und drohend. Dann erscholl ein Pfeifen und ein Schauer von Pfeilen schwirrte durch die Luft.

"Fertig!", kommandierte van Brunt. "Jetzt!"

Gleichzeitig brachen sie aus der Deckung hervor. Der Wald wurde plötzlich lebendig. Viele Männer des Stammes wurden getötet. Mit den Männern kam auch Unga gerannt. Fast hätte Fairfax abgedrückt, erkannte sie aber noch rechtzeitig.

"Die Frau! Schießt nicht!", rief er. "Sie ist unbewaffnet."

Aber seine Männer hörten das nicht. Unga lief weiter zu ihrem Mann, dem sie die Arme um den Hals schlang. Sie verteidigte ihn, und Fairfax war auch in dieser Situation beeindruckt von ihrer Schönheit. Durch einen fallenden Mann wurde er zu Boden gerissen. Als er wieder zu sich kam, waren seine noch lebenden Kameraden weit zurück getrieben. Er wusste, dass ihr Kampf verloren war. Er stürzte sich aber wieder in das Getümmel, um wenigstens mit seinen Brüdern zu sterben.

Thom schrie: "Mein Mann! Mein Mann! Du bist gerettet!"

Er versuchte, vorwärts zu kommen, aber ihr Gewicht hemmte seine Schritte.

"Es ist unnütz. Sie sind tot, und das Leben ist sehr schön!" Sie hielt seinen Hals fest umschlungen und umklammerte ihn mit ihren Beinen, so dass er strauchelte und fiel. Im Fallen hatte Thom das Sausen eines Pfeiles gehört. Sie deckte seinen Leib mit dem ihren wie mit einem Schilde, während sie ihn noch immer fest mit ihren Armen umschlungen hielt und ihre Lippen gegen seinen Hals presste.

Da erhob sich Keen aus einem Dickicht nur wenige Schritte entfernt. Er blickte sich vorsichtig um. Niemand war zu sehen. Er nahm einen Pfeil und warf einen Blick auf den Mann und die Frau. Zweimal spannte er den Bogen, um sich des Schusses sicher zu sein. Dann schoss er auf eine Stelle des weißen Fleisches, das sich in der Umarmung deutlich von der dunkleren Haut abzeichnete.