Lise Meitner

Lise Meitner (1878-1968)
Atomphysikerin

Lise Meitner wurde 1878 in Wien als eines von acht Kindern geboren; ihr Vater gehörte zu den ersten Juden, der in der k. und k. Monarchie als Anwalt zugelassen war. Lise und ihre Geschwister wurden nicht im jüdischen Glauben erzogen, sondern waren - wie damals viele Kinder aufstrebender jüdischer Familien - protestantisch getauft.

In ihrer Jugend war Lise von der Arbeit Marie Curies fasziniert und so schrieb sie sich an der Universität von Wien ein, um Physik zu studieren.

Damals waren Frauen in den naturwissenschaftlichen Fächern alles andere als willkommen und man versuchte, sie vom Studium abzuhalten. Als Lise Meitner 1906 den Doktortitel erhielt, war sie die zweite Frau, die dort promoviert hatte. Anschließend wandte sie sich der Erforschung der Radioaktivität zu. Mit 31 Jahren verließ Lise Meitner mit Österreich und ging nach Berlin, das damalige „Mekka“ der Physiker. Sie sprach bei Max Planck vor, obwohl Frauen in Preußen damals nicht zum Hochschulstudium zugelassen waren und Planck Frauen in der Wissenschaft absolut ablehnte. Sie konnte ihn dennoch soweit überzeugen, dass er sie in seinen Vorlesungen akzeptierte und sie 1912 sogar zur ersten Universitätsassistentin ernannte.

Dennoch waren für Lise Meitner die Arbeitsbedingungen nicht ideal. Während sie bei Max Planck arbeitete, lernte sie Otto Hahn kennen, mit dem sie eine viele Jahre dauernde Zusammenarbeit verband. Unglücklicherweise hatte Otto Hahns Chef, der Chemiker und Nobelpreisträger von 1902, Hermann Emil Fischer, der Zusammenarbeit der beiden anfangs nur zugestimmt, nachdem Lise einwilligte, niemals das Institut zu betreten.

Ihre Arbeit wurde in einen Raum im Keller mit eigenem Eingang verbannt, den Hahn als Labor genutzt hatte. Schritt für Schritt arbeitete sich Lise Meitner nach oben. Während des I. Weltkriegs (1914-1918) forschte sie nur sehr eingeschränkt weiter, da sie in diesen Jahren überwiegend als Krankenschwester und Röntgenfachkraft für die österreichische Armee tätig war. Während ihres Urlaubs kehrte sie jedoch jedes Mal nach Berlin zurück und arbeitete mit Otto Hahn an der Messung radioaktiver Substanzen.

Ab 1917 baute sie ihre eigene physikalische Abteilung zur Erforschung der Radioaktivität im Berliner Kaiser-Wilhelm-Institut auf, die sie 21 Jahre lang, bis zu ihrer Emigration im Jahr 1938, selbstständig leitete. 1926 wurde sie Professorin an der Universität von Berlin. Nach einer längeren Unterbrechung nahm Lise Meitner die Arbeit mit Otto Hahn 1934 wieder auf und regte die Versuche an, die vier Jahre später zur Atomspaltung führten. Damals begannen die Judenverfolgungen in Deutschland, als Jüdin wurde Lise Meitner von der Universität entlassen und musste fliehen. Über Kopenhagen, wo sie der Physiker Niels Bohr aufnahm, gelangte sie nach Stockholm. Als in Berlin der wissenschaftliche Durchbruch bevorstand, war Lise Meitner bereits im Exil. Hahn diskutierte mit ihr brieflich den Fortgang der Arbeiten und traf sie im November 1938 heimlich in Kopenhagen. Dort bestärkte sie ihn, die Versuche zu wiederholen. Diese Kontrollexperimente führten schließlich zur Entdeckung der Kernspaltung.

Auch darüber informierte der Chemiker Hahn die Physikerin im Exil als erste. Im Nobel-Institut in Stockholm wiederholte Lise Meitner mit ihrem Neffen Otto Frisch einige Versuche, die Otto Hahn in Berlin unternommen hatte, und entdeckte dabei, welch ungeheure Energiemenge bei der Kernspaltung eines Uranatoms freigesetzt wird. Diese Erkenntnis, die sie „nuclear fission“ nannte, brachte sie im Januar 1939 in einem Artikel in der britischen Zeitschrift Nature an die Weltöffentlichkeit und setzte so - ungewollt - den Wettlauf der Weltmächte um die Entwicklung einer nuklearen Superwaffe in Gang. 1945 wurde Lise Meitner als dritte Frau in die Schwedische Akademie der Wissenschaften aufgenommen. Zwei Jahre später zog sie sich aus dem Nobel-Institut zurück und arbeitete anschließend an der königlichen Akademie für Ingenieurwissenschaften, wo sie einen Kernreaktor für die Schwedische Atomenergiekommission entwarf.

1958 zog sie nach England zu ihrem Neffen Otto Frisch, der als Leiter der Abteilung für Physik an der Universität von Cambridge arbeitete. 1966 erhielt sie als erste Frau den mit 50.000 Dollar dotierten Enrico-Fermi-Preis, den sie mit Otto Hahn und Fritz Straßmann, einem weiteren Berliner Kollegen, teilte. In Deutschland wurde Lise Meitners Anteil an der Erforschung der Kernspaltung lange Jahre heruntergespielt und verdrängt. Das lag zum einen am männlich dominierten Wissenschaftsbetrieb, aber auch daran, dass Lise Meitner eine Jüdin war, die das Land bereits verlassen hatte, bevor in Berlin die entscheidenden Experimente liefen. So kam es, dass Otto Hahn 1944 allein der Nobelpreis für Physik zuerkannt wurde. Während der Nazizeit und auch danach war Otto Hahn nicht bereit, die Öffentlichkeit über Lise Meitners Anteil an seinen Forschungen zu informieren.

Dennoch unternahm Lise Meitner nichts, um Otto Hahns Version von der Entdeckung der Kernspaltung in Frage zu stellen. Als Forscherin war sich Lise Meitner nicht bewusst, welches ungeheure Potential in der Kernenergie steckte. Als sie im Jahre 1943 das Angebot erhielt, in die USA zu gehen und den geheimen Atombombenbau mitzubetreiben, lehnte sie ab.

Sie setzte sich bis ins hohe Alter für die friedliche Nutzung der Kernenergie ein und gestand politische Versäumnisse, zu denen auch ihre Untätigkeit in Frauenfragen zählt, ein. Lise Meitner starb 1968, wenige Tage vor ihrem 90. Geburtstag, in einem Pflegeheim in England.