Michael Green bei heilkundigen Frauen und Hexen

"Spätestens, wenn die Erdbeeren reif sind", sagte meine Freundin Hanna letztens, "spätestens dann ist auch Großvater reif für einen Besuch." Damit meinte sie, dass wir mal wieder ihren Großvater in seinem Garten besuchen sollten. Ich fand ihre Gründe sehr überzeugend, und so haben wir uns an einem sonnigen Sonntag zusammen mit Merlo, meiner Amsel, auf den Weg gemacht.

Der Schrebergarten liegt mit vielen anderen Kleingärten etwas außerhalb am Stadtrand. Es ist ein wunderschöner Garten mit einem kleinen Teich darin, vielen Blumen und Gemüse, mit Obstbäumen und natürlich Erdbeeren. Vom Frühling bis zum Herbst ist der Großvater den ganzen Tag dort. Er pflegt seine Pflanzen, sät und erntet, kümmert sich um seine Hühner und schwatzt mit seinen Nachbarn. Und wenn die Sonne scheint, ratzt er stundenlang in seinem Liegestuhl.

Heute allerdings nicht, denn als wir ankamen, pflückte er gerade Zuckererbsen. "Oh, wie schön", rief er, als er uns sah, "da kommen ja ein paar fleißige Helfer!" Wir begrüßten ihn und durften gleich von den süßen Erbsen naschen. Sie waren köstlich! Merlo probierte auch, aber die Erbsen flutschten ihm irgendwie aus dem Schnabel. Er kreischte nur kurz und wandte sich dann den Regenwürmern im Rasen zu.

Hannas Großvater drückte uns zwei Eimer in die Hand. "Hier, Kinder, pflückt ihr doch eben noch die Reihe Buschbohnen durch, mein Rücken schmerzt schon." Er hielt sich die Hand ins Kreuz und stöhnte leise. Hanna und ich zupften brav die Bohnen von den Sträuchern. "Ob die auch so lecker schmecken wie die kleinen Erbsen?" Hanna knabberte die knackigen grünen Bohnen wie ein Kaninchen. "Nicht schlecht, aber kein Vergleich mit Zuckererbsen!", meinte sie.

Der Großvater hatte sie beobachtet: "Keine Experimente, Herrschaften!", rief er. "Frische Bohnen sind giftig!" Wir sahen uns erschrocken an. "Muss ich jetzt sterben?", fragte Hanna entsetzt. Ihr Großvater lachte: "Von den zwei Böhnchen sicher nicht, aber wenn du noch mehr davon isst, wird dir zumindest schlecht werden." Ich war erstaunt: "Warum essen wir denn dann Bohnen? - Wir könnten uns doch alle vergiften?"

"Na. Michael Green, so schnell wird hier nicht vergiftet. Das Gift der Bohnen wird durch Kochen völlig zerstört, und danach sind sie doch ein köstliches Gemüse! Außerdem", er sah sich um, "außerdem gibt es hier noch andere giftige Pflanzen, die wir als Gemüse oder Obst nutzen. Rohe Holunderbeeren sind ebenso giftig wie rohe Bohnen. Auch hier verschwindet das Gift beim Kochen. Äpfel sind etwas Wunderbares, aber Apfelkerne gehören zu den giftigsten Pflanzenteilen, die ich kenne. Und denk doch mal an die Kartoffeln: die Knollen sind soo gesund, aber mit allen anderen Teilen der Kartoffelpflanze kannst du böse Überraschungen erleben."

Er schmunzelte: "Als die ersten Kartoffeln aus Amerika kamen, haben die Köche nicht gewusst, welchen Teil der Pflanze man essen konnte. Sie haben die giftigen grünen Beeren gekocht und damit ganze Tischgesellschaften flach gelegt."

Inzwischen hatten wir uns zum Ende der Reihe durchgepflückt. Großvater nahm die vollen Eimer auf und stöhnte dabei wieder leise. "Wenn ihr mehr über Giftpflanzen wissen wollt - und wie ich euch kenne, wollt ihr das - dann lauft doch mal zum Kräuter-Thomas 'rüber. Er ist Apotheker und kennt sich ganz genau aus. Dabei könnt ihr ihn auch gleich bitten, in seiner Hexenküche eine Salbe für meinen armen Rücken zusammenzurühren. Geht einfach den Weg weiter 'runter. Er hat einen Äskulap-Stab an seiner Gartentür, so ein Stab mit einer Schlange drum."

"Aha, ein Schlangenmensch", grinste Hanna. Ich erinnerte mich, dass ich dieses Zeichen an der Apotheke in der Stadt gesehen hatte. "So ist es", nickte der Großvater. "Der Äskulap-Stab ist das Wahrzeichen der Ärzte und Apotheker."

Hanna und ich brauchten nicht lange zu suchen, um den richtigen Garten zu finden. Er sah völlig anders aus als Großvaters Garten. Die ganze Fläche war in rechteckige Beete mit schnurgeraden Reihen von Pflanzen aufgeteilt. Es gab eine Laube mit einer Bank davor, zwei Obstbäume, eine Regentonne und einen Komposthaufen. Sonst nichts. Aber die Tür zur Laube stand offen, und deshalb riefen wir laut: "Hallo - ist jemand zu Hause?" Aus der Laube tönte es zurück: "Kommt 'rein, ich beiße nicht!"

Also gingen wir hinein - und staunten nicht schlecht. Da kam uns doch tatsächlich Walther von Grünefeld entgegen! "Na, euch drei kenne ich doch?!", fragte er ebenso verdutzt. "Ja, vom Ritterfest auf Greifenfels", wunderten wir uns, "wo sie uns die Geschichte von Richard Löwenherz erzählt und dazu Harfe gespielt haben ..."

Walther grinste: "Tja, wie ihr seht, führe ich ein Doppelleben. Oder besser, ein Dreifachleben - in Greifenfels bin ich Troubadour, hier bin ich Kleingärtner, und in der Woche bin ich Apotheker in der Stadt. Aber wie kommt ihr denn hierhin?" Er streichelte Merlo sanft den Schnabel. Wir erzählten ihm von Hannas Großvater. "Opa braucht eine Salbe für seinen Rücken", berichtete Hanna. "Und außerdem möchten wir alles über Giftpflanzen wissen", fügte ich hinzu, "und wie, bitte, sollen wir sie denn jetzt nennen?" Der Apotheker lächelte: "Bleibt mal bei Walther, daran habt ihr euch schon gewöhnt. Und ihr könnt mich auch gerne duzen."

Er ging mit uns in die Laube und kramte in einer Schublade. "Tja, tut mir leid für deinen Großvater, Hanna, ich habe keine frische Salbe hier. Aber heute Abend bin ich wieder in der Apotheke und kann ihm dort gerne etwas anrühren. Einige Zutaten können wir allerdings schon jetzt aus dem Garten holen. Dann erzähle ich euch auch gleich etwas über Giftpflanzen."

Er nahm einen großen, flachen Weidenkorb und eine Schere mit. Neugierig begleiteten wir ihn nach draußen. "Das hier ist Rosmarin", sagte er und schnitt mehrere kleine Zweige ab. "Außerdem brauchen wir für die Salbe noch Oregano, Kamillenblüten, Heidekraut und Borretsch. Ihr könntet schon mal blühende Vogelmiere sammeln."

Hanna protestierte: "Salbe aus Unkraut? Ich muss die blöde Vogelmiere immer jäten, weil sie überall im Gemüse 'rumsteht!" Walther lachte: "Ja, Vogelmiere kann ganz schön lästig werden, für manche ist sie ein Unkraut. Aber man kann auch einen knackigen Salat daraus machen, Kanarienvögel damit füttern oder etwas davon in Salben verwenden. Ein gutes Wildkraut, die Vogelmiere, sehr vielseitig!" Dann zeigte er uns die anderen Pflanzen, und wir pflückten fleißig mit. Zum Schluss köpfte Walther mit leichter Hand eine ganze Reihe goldgelber Schlüsselblumen. "Nein!", kreischte Hanna auf. "Nicht die schönen Himmelsschlüssel!"

Aber Walther lachte nur. "Keine Angst, Hanna, die wachsen ganz schnell wieder nach. Und du willst doch, dass es deinem Großvater bald wieder besser geht, oder?" Er nahm den Korb und brachte ihn ins Haus. "Daraus machst du jetzt Salbe?", fragte ich ungläubig. "Nein, daraus könnte ich nur einen Tee herstellen", meinte Walther. "Allerdings wäre der auch schon gut gegen Rückenschmerzen. Aber zusammen mit anderen Wirkstoffen, die in der Apotheke lagern, wird daraus ein wohltuender Badeaufguss oder eine heilkräftige Salbe. Zuerst aber werde ich die Kräuter sortieren und ausbreiten, damit sie nicht faulen."

Er nahm vier Holzrahmen aus einem Regal, die mit einem feinmaschigen Drahtgeflecht bespannt waren. "So", sagte Walther und breitete die verschiedenen Kräuter flach nebeneinander auf den Gitterrahmen aus, "nun kommt Luft von allen Seiten heran. Wir lassen sie hier in der dunklen Hütte trocknen." "Warum stellst du sie nicht in die Sonne, dann geht es doch schneller!", wunderte ich mich. "Das wäre nicht gut, Michael Green", meinte Walther, "die kostbaren Öle würden entweichen oder verderben, und wir hätten nur noch Heu übrig." "Müssen die Kräuter denn ganz trocken sein, um daraus Medizin zu machen?", wollte ich noch wissen. "Nein, das nicht", antwortete der Apotheker. "Man kann auch die frischen Kräuter verwenden, bei Tee ist das sogar oft schmackhafter. Aber wenn ich die Kräuter jetzt dicht gedrängt im Korb liegen lasse, vielleicht auch noch der Hitze aussetze, dann würden viele Wirkstoffe verfliegen und die Kräuter durch Fäulnis schnell verderben. So, wie sie jetzt hier liegen, kann nichts Falsches passieren. Und heute Abend werde ich sie zusammen mit anderen Zutaten zu einer Salbe für Hannas Großvater verarbeiten."

"Was kommt denn noch in die Salbe?", fragte ich weiter. Walther runzelte die Stirn und überlegte. "Wahrscheinlich werde ich etwas Kampfer hineinrühren und vielleicht auch etwas Cayennepfeffer." Hanna lachte laut auf: "Und das Salzen nicht vergessen!"

Wir mussten auch lachen. Aber dann machte Walther ein ernstes Gesicht: "Mit Salz muss man vorsichtig sein - es ist ein sehr starkes Gift!" "Aber das essen wir doch jeden Tag!", protestierten wir. "Stimmt", meinte Walther, "wir essen jeden Tag Gift. Ich glaube, das muss ich euch erklären. Setzt euch!"

Wir nahmen auf der Bank vor der Laube Platz und er begann zu erzählen: "Der weise Arzt und Naturforscher Paracelsus hat mal gesagt: 'All Ding sind Gift und nichts ohn Gift. Allein die Dosis macht, dass ein Ding kein Gift ist.' Kochsalz ist dafür ein gutes Beispiel. Eine Prise davon ist harmlos und lässt alles besser schmecken, aber ein Teelöffel voll kann tödlich sein. So ist das auch mit vielen Heilkräutern. Man musste ganz vorsichtig das Dosieren erlernen, um herauszufinden, bis zu welcher Menge ein Stoff gute und ab wann er schädliche Wirkungen zeigt. Überhaupt ist es nicht so einfach, aus den vielen Pflanzen der Welt jene zu bestimmen, die heilsam sein könnten, oder überhaupt erst einmal zu erkennen, was man damit heilen könnte. Nimmt man die Wurzeln, die Blätter, die Blüten oder die Beeren? Macht man Tee daraus und versucht damit, von innen heraus zu heilen? Oder schmiert man sich äußerlich damit ein? Die Heilkunst mit Pflanzen hat sich sehr langsam, über viele Jahrhunderte entwickelt. Und wir lernen immer noch dazu.

Leider ist es so, dass wir heute Pflanzen aussterben sehen, bevor wir Zeit hatten, ihre Heilkraft zu erforschen."

"Aber", unterbrach ich ihn, "es gab doch auch früher schon Ärzte, die man fragen konnte, wenn man Medizin brauchte?" "Nun", antwortete Walther, "richtige Ärzte mit einem Universitätsstudium gibt es bei uns erst seit dem späten Mittelalter. Diese feinen Ärzte haben nur in den Städten gearbeitet, wo reiche Bürger sie bezahlen konnten. Arme Familien hingegen lebten in den Städten unter schrecklichen hygienischen Bedingungen, was Krankheiten und Seuchen förderte.

Auch auf dem Land lebten fast nur arme Menschen. Die einzige Hilfe fanden sie bei heilkundigen Frauen, die ihr Wissen über Generationen mündlich überliefert hatten. Leider wurden diese Frauen später oft als Hexen verschrien." "Weil sie rote Haare hatten, nicht wahr?" Hanna hatte aufmerksam zugehört und war nun ganz aufgeregt. "Nein, das war es mit Sicherheit nicht." Walther dachte kurz nach. "Es gab verschiedene Ursachen für die Hexenverfolgung.

Betrachten wir mal die Situation der armen Leute: Auf dem Land waren sie auf die Früchte ihrer Felder, in den Städten auf einen kargen Lohn angewiesen. Jede Missernte führte zu Mangelernährung, zu Krankheiten und hoher Kindersterblichkeit. In Kriegszeiten konnten die Felder nicht bestellt werden. Dann wurden vor allem die Armen von entsetzlichen Hungersnöten heimgesucht. In solchen Jahren sahen die Menschen aus wie Gespenster! Sie waren abgemagert, nur noch Haut und Knochen. Weil nicht nur ihre Glieder, sondern auch ihre Nerven und das Gehirn zu wenig Nahrung bekamen, konnten sie sich nicht mehr vernünftig verhalten und begannen, wirres Zeug zu reden. Es schien gerade so, als wären sie verhext worden. Und weil man Hunger nicht mit Medizin bekämpfen kann, waren auch die weisen Frauen machtlos. Dann konnte es passieren, dass man diesen Frauen unterstellte, sie hätten mit ihrer Kräutermedizin die kranken Menschen verhext!"

"Das war doch gelogen!", protestierte ich. "Schon richtig, Michael Green", antwortete Walther, "aber die Macht des Aberglaubens ist sehr stark, und immer dann, wenn es den Menschen schlecht geht, suchen sie einen Sündenbock, auf dem sie ihre Ängste abladen können."

Unser Freund beobachtete Merlo, der spielerisch ein Häufchen Vogelmiere zerfleddert hatte. Dann holte er ein paar Körner aus einer Dose und streute sie vor Merlo auf den Tisch. "Ich will euch noch ein anderes Beispiel nennen: Das hier ist Roggen, ein Getreide, aus dem man schon seit dem Mittelalter das tägliche Brot backte. Der Roggen wird bei feuchtem Wetter von einem giftigen Pilz befallen, den man 'Mutterkorn' nennt. Je regnerischer das Jahr, desto geringer die Ernte und desto mehr Pilze wuchsen im Roggen."

Merlo spielte mit den Roggenkörnern, fraß sie aber nicht. "Er mag lieber Regenwürmer", sagte ich zur Erklärung. Walther schmunzelte: "Ein wahrer Feinschmecker, wie?", und fuhr dann fort: "Weil man damals die Gefahr, die in dem Pilz steckte, nicht erkannte, wurde das Mutterkorn mit dem Getreide geerntet, gemahlen und gebacken. In manchen Jahren konnte dadurch soviel Gift ins Brot gelangen, dass die Menschen schlimme Vergiftungen erlitten. Sie hatten brennende Schmerzen im Leib, wurden von Durchfällen geschwächt und von Krämpfen geschüttelt. Wenn sie dann besonders viel von diesem Brot aßen, weil sie wegen der schlechten Ernte gar nichts anderes hatten, konnten ihnen Finger, Arme oder sogar ein ganzes Bein abfallen. Es hat Jahre gegeben, in denen Tausende an Mutterkornvergiftung gestorben sind.

Dieser Vergiftung standen die weisen Frauen hilflos gegenüber, denn auch hier konnten sie mit Kräutern nichts ausrichten. Und so wurden sie für das ganze Unglück verantwortlich gemacht, weil man die wirkliche Ursache nicht kannte."

"Und deswegen hat man sie als Hexen verbrannt?" Wir sahen uns ungläubig an. "Nun, ganz so schnell ging das nicht", sagte Walther und fuhr fort. "Es gab durchaus Zeiten, in welchen die heilkundigen Frauen sehr verehrt wurden. Wir wissen das so genau, weil es darüber genaue Berichte gibt. Denn schon im 12. Jahrhundert hat sich eine Nonne, Hildegard von Bingen, die Mühe gemacht und das Wissen der weisen Frauen aufgeschrieben.

Hildegard von Bingen kam aus adligen Kreisen. Seit ihrem achten Lebensjahr lebte sie im Kloster. Es war damals ganz normal, dass adlige Mädchen ins Kloster kamen, denn dort konnten sie eine gute Bildung und Erziehung bekommen. Leider war Hildegard oft krank - Vielleicht hat sie deshalb viel über gesundes Leben, Ernährung und Heilung nachgedacht und sich dazu entschlossen, alles in einem Buch aufzuschreiben. Als Nonne hätte sie das eigentlich nicht gedurft."

"Aber es waren doch keine Geheimnisse, oder?" Hanna war ganz empört. "Das Wissen war schließlich mündlich überliefert worden und diente doch allen!" "Ja, schon", lachte Walther, "aber Nonnen hatten Schweigepflicht. Sie durften nicht predigen, nicht schreiben und nicht öffentlich reden - das war Kirchengesetz. Hildegard fand sich aber nicht damit ab. Es wird berichtet, sie habe eine 'himmlische Vision' mit dem Auftrag gehabt, ihr Wissen und ihre Visionen öffentlich mitzuteilen. Also richtete sie sich mit ihren ersten Schriften direkt an den Papst und konnte ihn davon überzeugen. Hildegard erhielt das Recht zu schreiben und öffentlich zu reden. In der Folge verfasste sie mehrere Bücher, auch das über Heilpflanzen." Walther wandte sich an Hanna: "Wenn du die Himmelsschlüssel so gern magst, wird dich interessieren, dass Hildegard von Bingen den 'Hymelslozel' bereits erwähnt.

Übrigens scheint sie auch schon einen Zusammenhang zwischen Roggen und Mutterkornvergiftung geahnt zu haben, denn sie schreibt, dass nicht Roggen, sondern Dinkel das bessere Getreide sei, vor allem für schwache und kranke Menschen. Und Dinkel wird viel seltener von dem giftigen Pilz befallen.

Mit der Zeit wurde Hildegard immer mutiger. Sie legte sich dann auch mal mit Bischöfen und anderen Kirchenfürsten an, die es mit der Demut nicht so ernst nahmen, Reichtümer anhäuften und sich ein vergnügtes Leben machten. Schließlich hat sie sich sogar den deutschen Kaiser vorgeknöpft. Trotzdem konnte man ihr nichts anhaben, denn sie galt wegen ihres großen Wissens schon zu Lebzeiten als Heilige. Und dagegen war nun wirklich kein Kraut gewachsen ..." "Da hat sie aber Glück gehabt, dass man sie für eine Heilige gehalten hat und nicht für eine Hexe", Hanna nickte weise, "ein bisschen weniger Adel und Kloster, dann wäre sie dran gewesen, oder?"

Walther grinste. "Hätte sie einige hundert Jahre später gelebt - vielleicht. Aber die Hexenverfolgungen begannen ja erst gegen Ende des Mittelalters und hingen mit der Verfolgung der Ketzer zusammen. Als 'Ketzer' wurden Menschen bezeichnet, die an der Richtigkeit der kirchlichen Lehre zweifelten, aber kurzerhand auch jene, die daran Anstoß nahmen, dass sich Bischöfe, Priester und Mönche ein sittenloses Leben in Saus und Braus genehmigten. Die so kritisierten Kirchenfürsten unterstellten den Ketzern, dass sie mit dem Teufel im Bunde stünden, Zauberkräfte besäßen und damit die Seelen der Menschen dem Teufel zuspielten."

"Ach, das konnten sie doch im Leben nicht beweisen!" Ich musste mich wirklich wundern. "Recht hast du, Michael Green", antwortete Walther, "das konnten sie auch nicht. Aber dafür gab es ja falsche Zeugen. Leute, die aus Angst oder auch für Geld bereit waren zu schwören, den angeblichen Zauber 'mit eigenen Augen' gesehen zu haben. Man verdächtigte die Angeklagten, geheime Hexensabbate abzuhalten und teuflische Handlungen an unschuldigen Seelen vorzunehmen. Als 'Hagazussa' wurden sie beschimpft, was so viel wie 'Zaunreiterin' bedeutet.

Damit spielte man vermutlich auf das Gerücht vom nächtlichen Besenreiten an, vielleicht auch darauf, dass die angeblichen Hexen mit dem Teufel verheiratet wären und deshalb die Grenze zur Unterwelt übertreten könnten. Diese Schauermärchen wurden phantasievoll ausgeschmückt. Wenn all die Lügen nicht reichten, wurden von den armen Opfern unter schrecklichen Foltern falsche Geständnisse erpresst. Häufig wussten sich die armen Opfer nicht anders zu helfen - um selbst der Quälerei zu entkommen, beschuldigten sie wiederum andere unschuldige Menschen.

So entwickelte sich mit der Zeit ein richtiger Hexenwahn. Jeder konnte jeden anschwärzen, und sogar Kinder blieben nicht verschont. Manchmal genügte es schon, wenn ein Mensch eine Hakennase oder rote Haare hatte, um verdächtigt zu werden. Und wenn man eine schwarze Katze besaß, dann wurde auch das als Hexenzeichen gedeutet.

Weil die heilkundigen Frauen und ihre 'Zaubertränke' den unwissenden Leuten von jeher etwas unheimlich gewesen waren, wurden auch sie schnell das Ziel des Hexenwahns und landeten schließlich auf dem Scheiterhaufen." Er sah uns an. "So war das mit den Hexen." "Was für ein Glück, dass Hildegard schon so viel aufgeschrieben hatte", meinte Hanna, "sonst wäre das ganze Wissen mit den heilkundigen Frauen verbrannt, und du könntest jetzt keine Salbe für Großvater herstellen." "Tja", Walther lächelte, "ohne Hildegard und mich wäre dein Großvater hoffnungslos verloren!" Aber das war nun wirklich etwas übertrieben ...

Als wir wieder zu Großvaters Garten zurückkehrten, wurde es schon dunkel. "Wo bleibt ihr Nachtschwärmer denn?", rief er uns aus der Laube zu. "Habt ihr euren alten Großvater vergessen?" Aber dann erzählten wir ihm von dem überraschenden Wiedersehen mit Walther, der eigentlich Kräuter-Thomas ist, von Hildegard von Bingen, von Hexen und Ketzern, Kräutern, Tees und Salben.

Schließlich wurde es so spät, dass Großvater mit uns zusammen nach Hause ging. Und stellt euch vor, er hatte sogar noch Erdbeeren für uns gepflückt - obwohl ihm der Rücken so weh tat!