Rotkäppchen und der Wolf

[von Kirsten Großmann]

1. Szene
Personen: Rotkäppchen, Mutter als Stimme aus dem Off
(Off= hinter der Bühne, die Person ist also unsichtbar)

Hintergrund: Wald

Rotkäppchen ist auf der Bühne zu sehen. Ihre Mutter ruft:

Mutter (aus dem Off) :
Komm, Rotkäppchen, da hast du ein Stück Kuchen und eine Flasche Wein, ring das der Großmutter hinaus; sie ist krank und schwach und wird sich daran laben. Mach dich auf, bevor es heiß wird, und wenn du hinauskommst, lauf nicht vom Wege ab, sonst fällst du und zerbrichst das Glas.

Rotkäppchen:
Ich will schon alles richtig machen.


2. Szene
Personen: Rotkäppchen, Wolf
Hintergrund: Wald

Rotkäppchen:
Pass auf, sieh dich vor ... (sie seufzt) als ob ich das nicht schon hundert Mal gehört hätte. Aber einen Wolf oder eine andere Gefahr habe ich in diesem Wald noch nie gesehen!

Der Wolf erscheint hinter ihr auf der Bühne.

Wolf:
Guten Tag, Rotkäppchen.

Rotkäppchen:
Guten Tag, Wolf.

Wolf:
Wo hinaus so früh, Rotkäppchen?

Rotkäppchen:
Zur Großmutter.

Wolf:
Was trägst du da unter der Schürze?

Rotkäppchen:
Kuchen und Wein. Gestern haben wir gebacken, da soll sich die kranke und schwache Großmutter etwas gutes tun und sich stärken.

Wolf:
Rotkäppchen, wo wohnt denn deine Großmutter?

Rotkäppchen:
Noch eine gute Viertelstunde weiter im Wald, unter den drei großen Eichbäumen, da steht ihr Haus, unten sind die Nusshecken, das wirst du ja wissen.

Wolf:
Rotkäppchen, sieh' einmal die schönen Blumen ringsumher. Willst du der Großmutter nicht ein paar Blumen mitbringen? Sicher freut die Großmutter sich über einen Strauß!

Rotkäppchen:
Oh, das ist eine gute Idee!

Wolf:
Ja, nicht wahr? Dann pflück' doch rasch ein paar Blumen.

Rotkäppchen:
Das tue ich. Vielen Dank. Auf Wiedersehen.

Rotkäppchen ab.

Wolf (singt, auf "Ein Männlein steht im Walde") :
Die Großmutter zu fressen, das ist nicht schwer.
Und Rotkäppchen als Nachtisch dann hinterher.
Heute muss mein Glückstag sein,
Rotkäppchen war ganz allein.
Frau Großmutter, ich komme, ach, lass mich hinein!

Wolf ab.


3. Szene
Personen: Wolf, Großmutter
Hintergrund: Vor/in Großmutters Haus

Der Wolf klopft an die Tür.

Großmutter:
Wer ist da draußen?

Wolf (mit verstellter Stimme) :
Ich bin's. Rotkäppchen. Ich bringe dir Kuchen und Wein. Mach auf.

Großmutter:
Die Tür ist nicht abgeschlossen. Ich bin so schwach, dass ich im Bett liege und nicht aufstehen kann.

Wolf (mit verstellter Stimme) :
Dann komme ich jetzt rein.

Der Wolf verschwindet im Haus der Großmutter.

Großmutter:
Hilfe! Was willst du von mir?

Der Wolf geht dicht an ihr Bett heran und schiebt sie aus dem Bett. Beide verschwinden bei den folgenden Worten des Wolfes von der Bühne.

Wolf (aus dem Off) :
Na, was schon. Erst werde ich dich fressen und danach werde ich deine Kleider anziehen und mich in dein Bett legen. Wenn dann das Rotkäppchen kommt, werde ich auch dieses fressen! Und jetzt komm schon.

Man hört die Großmutter noch einmal schreien.


4. Szene
Personen: Rotkäppchen, Wolf als Großmutter
Hintergrund: In Großmutters Haus

Rotkäppchen:
Wie seltsam. Die Tür zu Großmutters Haus stand offen. Ich habe beim Blumenpflücken ein wenig die Zeit vergessen. Großmutter? Ich bin's, Rotkäppchen. Wo bist du? Hier ist heute alles so seltsam. Großmutter, liegst du im Bett? Bist du krank?

Wolf (mit verstellter Stimme) :
Aber nein, Kindchen.

Rotkäppchen:
Doch, du musst krank sein! Deine Stimme klingt ganz heiser und fremd. (Sie geht näher an das Bett heran.) Bist du sicher, dass es dir gut geht?

Wolf (mit verstellter Stimme) :
Aber ja, Kindchen!

Rotkäppchen (erschrocken) :
Aber Großmutter! Deine Ohren! Was hast du für große Ohren?

Wolf (mit verstellter Stimme) :
Dass ich dich besser hören kann, Kindchen.

Rotkäppchen (erschrocken) :
Oh, Großmutter! Was hast du für große Augen?

Wolf (mit verstellter Stimme) :
Dass ich dich besser sehen kann, Kindchen.

Rotkäppchen (erschrocken) :
Oh, Großmutter! Was hast du für große Hände?

Wolf (mit verstellter Stimme) :
Dass ich dich besser packen kann, Kindchen.

Rotkäppchen (immer noch erschrocken) :
Und dein Mund, Großmutter! Was hast du für ein entsetzlich großes Maul?

Wolf (mit normaler Stimme) :
Damit ich dich besser FRESSEN kann!

Rotkäppchen und der Wolf in wilder Hatz über die Bühne. Rotkäppchen ruft laut um Hilfe. Der Wolf knurrt ihr zu, dass sie stehen bleiben soll, damit er sie auch fressen kann. Schließlich macht der Wolf einen großen Satz und frisst Rotkäppchen.

Wolf:
Ahhh, die Kleine war doch deutlich bekömmlicher als die Großmutter. (Er lacht hässlich und geht wieder zu dem Bett.) So, nun kann ich mich gemütlich hinlegen und einen Verdauungsschlaf machen. (Er "legt" sich hin, bald hört man ihn schnarchen.)


5. Szene
Personen: Jäger, Wolf, Rotkäppchen, Großmutter
Hintergrund: In Großmutters Haus

Der Wolf schnarcht. Es klopft an der Tür. Dann kommt nach einigem Warten der Jäger herein.

Jäger:
Hallo? Frau Großmutter? Hallo? Rotkäppchen? (Pause) Hmm, ich hab' das Rotkäppchen doch vorhin zur Großmutter gehen sehen. Wo sind die beiden bloß? Draußen sind sie nicht! Aber ... was ist denn das für ein Geräusch?

Er geht zum Bett.

Jäger:
Oh, mein Gott! Das ist der Wolf! Er liegt im Bett von der Frau Großmutter. Und wie dick er ist! Und da ... da hängt ja ein Stück von Rotkäppchens Kappe zwischen seinen schrecklichen Zähnen! Sicher hat er die beiden aufgefressen. Oh je, was tu ich jetzt nur?

Er läuft aufgeregt im Zimmer herum.

Jäger:
Ich muss aufhören, so herumzurennen. Sonst wecke ich den Wolf noch. Also, es muss wohl sein. Ich muss dem Biest den Bauch aufschlitzen und hoffen, dass er die beiden im Ganzen verschluckt hat! Uuaah, aber gern tue ich das nicht.

Er beugt sich über den Wolf. Ein Schneidegeräusch ist zu hören. Großmutter und Rotkäppchen springen aus dem Schatten des Jägers hervor.

Rotkäppchen:
Großmutter! Geht es dir gut?

Großmutter:
Aber ja, mein Kind. Ich bin nur etwas erschrocken.

Jäger:
Was für ein Glück, dass Sie beide gesund und munter seid!

Rotkäppchen:
Danke, dass Sie uns aus dem Bauch des Wolfs befreit haben.

Großmutter:
Ja, vielen Dank, Herr Jäger,

Jäger:
Aber was machen wir nun mit dem Wolf?

Großmutter (lachend) :
Ich weiß schon was. Ihr holt große Steine. Die legen wir dem Wolf in den Bauch. Ich nähe das Ganze zu. Und dann werden wir ja sehen, wer zuletzt lacht.

Rotkäppchen und der Jäger holen nacheinander einige Steine. Die Großmutter beugt sich über den Wolf.

Großmutter:
So, das war der letzte Stich! Ich möchte wahrlich nicht in seiner Haut stecken.

Jäger:
Und was jetzt?

Rotkäppchen:
Jetzt hake ich die Großmutter unter und gehe mit ihr zur Mutter nach Hause. Hier kann sie nicht bleiben und ich möchte nicht dabei sein, wenn der Wolf aufwacht!

Jäger:
Das ist eine gute Idee. Auf Wiedersehen, Rotkäppchen. Auf Wiedersehen, Frau Großmutter!

Großmutter:
Aber geh' schön langsam! Ich bin doch recht schwach.

Rotkäppchen:
Natürlich, Großmutter. Komm!

Jäger, Großmutter und Rotkäppchen ab. (Erstes mögliches ENDE)


6. Szene
Personen: Wolf, Jäger
Hintergrund: In/vor Großmutters Haus

Nach einiger Zeit erwacht der Wolf.

Wolf:
Ihhrk! Jetzt hab' ich schon so lange geschlafen und mein Wanst ist immer noch so voll. Irgendwie ist mir gar nicht gut. Vielleicht wird es ja an der frischen Luft besser. Uuuhhh, was rumpelt denn da so in meinem Bauch? Aua! Oh, das fühlt sich ja ganz komisch an. Aaah! Ich glaub' ich muss dringend mal nach draußen ...

Der Wolf verlässt langsam das Haus.

Wolf:
Aua, aua, aua. Was sind die beiden doch zäh und schwer verdaulich! Mir geht's immer noch so schlecht. Ich glaub', ich trinke mal einen Schluck Wasser. Dann geht es bestimmt bald besser.

Der Wolf will noch einmal ein paar Schritte gehen.

Wolf:
Oh, ich kann nicht laufen. Ich kann mich nicht auf den Beinen halten. Mein voller Bauch zieht mich irgendwie zu Boden ... ich ... ahh ... oh ... da hat wohl mein letztes Stündlein geschlagen. Aaahhh ...

Der Wolf fällt hin und bleibt liegen.

Jäger (erscheint) :
Das geschieht dir recht! Nun haben wir in diesem Wald wieder Frieden. Dann kann ich ja jetzt auch zu Rotkäppchens Mutter gehen, um ein Stück von ihrem leckeren Kuchen zu essen.

Jäger ab. (Zweites mögliches Ende)

Dieses Theaterstück wurde für das Märchen-Schattentheater von Labbé, Best. Nr. 8372 geschrieben. Es kann auch als Bühnenstück gespielt werden.