Tom als Prinz

  • Autor: Twain, Mark

Tom Canty wartete im Gemach des Prinzen. Zuerst drehte er sich vor dem großen Spiegel und betrachtete sich in den prachtvollen Kleidern. Er spielte mit dem edelsteinbesetzten Dolch, der an seiner Hüfte baumelte. Danach ließ er sich probeweise einmal in jedem der gemütlichen Sessel nieder und kuschelte sich an die weichen Kissen.

Ach, könnten die Leute vom Kehrichthof ihn so sehen, dachte er, die würden nicht schlecht staunen. Ob sie ihm diese grandiose Geschichte wohl glaubten? Wohl eher nicht - wahrscheinlich würden sie ihn für verrückt erklären.

Nach einer halben Stunde wurde es Tom mulmig. Er wunderte sich, wo der richtige Prinz wohl blieb. Während er angestrengt jedem Geräusch lauschte, das von draußen ins Zimmer drang, spielte er mit den hübschen Dingen, die im Raum herumstanden. Der Betteljunge fühlte sich immer unwohler und begann sich zu fürchten. Was, wenn ihn hier jemand entdeckte?

Tom wartete noch eine Weile, dann beschloss er zu fliehen und den Prinzen zu suchen. Mit zitternden Händen öffnete er die große Tür, um hinauszuschlüpfen. Da stürzten sechs vornehme Kammerherren auf ihn zu, verbeugten sich so tief, dass Tom glaubte, sie würden ihn verspotten. Er zog sich wieder ins Gemach zurück und ging in unglaublicher Angst auf und ab. Als sich die Tür öffnete, zuckte er zusammen.

Ein Page, ganz in schimmernde Seide gekleidet, meldete eine Lady Jane Grey an. Ein in kostbare Kleider gehülltes Mädchen lief auf ihn zu und fragte bestürzt: "Mylord, was ist los?"

Tom, dem inzwischen das Herz fast stehen geblieben war, flehte das junge Mädchen um Gnade an. "Führt mich zum Prinzen. Der wird alles aufklären. Aber lasst mich nicht erhängen, bitte!", rief er mit flehendem Blick und fiel auf die Knie. Das Mädchen war erschrocken ob dieser Geste und floh umgehend.

Schnell sprach es sich im Palast herum, dass der vermeintliche Prinz den Verstand verloren hätte. Überall flüsterten die Bediensteten in kleinen Gruppierungen über dieses schreckliche Schicksal. Bis ein Bote des Königs die Kunde überbrachte, dass es ab sofort bei Todesstrafe verboten sei, dieses Gerücht zu verbreiten oder gar zu glauben.

Als der Prinz dann durch die Halle lief, mit gesenktem Haupt und die Hofärzte und Diener im Gefolge, raunte es noch einmal durch die Reihen der Dienstboten. Tom fand sich in einem vornehmen Raum des Palastes wieder. Die Ärzte blieben hinter ihm stehen. In gebührendem Abstand lag vor ihm in einem Ruhebett ein sehr dicker Mann, der mit düsterem Gesichtsausdruck auf ihn blickte. Sein Kopfhaar war ebenso grau wie der Backenbart. Eines der geschwollenen Beine lag bandagiert auf einem Kissen.

Die Häupter gesenkt, standen alle schweigend da, denn der Kranke auf dem Bett war niemand Geringerer als Heinrich VIII. Der gefürchtete König sprach zu Tom: "Nun, mein Prinz." Dabei lächelte er ihn zärtlich an. "Willst du mich erschrecken, deinen dich liebenden Vater. Das war ein schlechter Scherz!"

Als Tom begriff, dass er hier vor dem König stand, fiel er beinahe in Ohnmacht. Niederkniend rief er entsetzt: "Ich bin verloren!"

Der König reagierte bestürzt. Hatte er doch bislang die Gerüchte für blanke Lügen gehalten. Seufzend sagte er: "Komm her, mein Sohn. Sicher bist du krank."

Die Diener halfen Tom, auf zitternden Beinen zu Seiner Majestät, dem König von England zu gehen. Der nahm das Gesicht des vermeintlichen Prinzen in seine Hände und blickte ihn eine Weile an. Er suchte nach einem Zeichen der Vernunft. "Kennst du mich denn nicht mehr, mein Sohn?", fragte er ungläubig, "ich bin dein Vater, brich mir nicht das Herz. Du erkennst mich doch wieder, oder?"

Tom antwortete: "Gewiss erkenne ich Sie, mein hoher Herr. Gott möge Sie schützen."

Dies beruhigte den König, weil er dachte, der böse Traum wäre vorüber und sein Sohn könne sich nun wieder daran erinnern, wer er sei. Doch als er Tom bat, nie wieder seinen falschen Namen anzugeben, widersprach der ihm. "Oh mein Herr, ich bitte Euch demütig, mir zu glauben. Ich habe die Wahrheit gesagt. Ich bin nur ein armseliger Betteljunge und es ist ein unglücklicher Zufall, dass ich hier bin. Lasst mich nicht sterben, ich bin doch noch so jung. Bitte rettet mich und sprecht es aus, mein Herr!"

"Du sollst doch nicht sterben!", sprach der König gütig. Tom bedankte sich für die Barmherzigkeit und sprang auf. Dann wandte er sich zu den Kammerherren und rief: "Ihr habt es gehört, ich muss nicht sterben!" Die Herren verneigten sich vor ihm und Tom fragte den König, ob er jetzt gehen dürfe.

Da merkte der König, dass es ein Missverständnis war, und sah den Jungen mitleidig an, der da zu ihm sprach: "Bitte, ich dachte, ich wäre jetzt frei und wollte in das armselige Loch zurückgehen, in dem ich geboren wurde und in dem meine Familie haust. In all dem Prunk hier fühle ich mich nicht wohl, bitte lasst mich zu meinen Eltern und zu meinen Schwestern gehen."

Daraufhin brütete der König eine Weile besorgt vor sich hin. Er überlegte, ob vielleicht der Geist nur in einem gewissen Punkt gestört sei, und stellte einige Testfragen. Doch am Ende, als er merkte, dass Tom nicht mehr der französischen Sprache mächtig war, sank der König hilflos auf sein Bett zurück.

Als die Ärzte ihm zu Hilfe eilen wollten, ob des Schwächeanfalls, verlor der König schnell seine ganze Herzlichkeit und Wärme. Mit scharfer Stimme befahl er den Dienstboten, seinen Sohn mit Spiel und Sport im Freien abzulenken. Es wäre gut möglich, dass er sich zu lange über den Büchern aufgehalten hätte, setzte er noch hinzu. Er befahl: "Er mag zwar verrückt sein, aber er ist mein Sohn. Und wer immer auch von seiner Krankheit spricht, der soll am Galgen büßen! Mein Sohn ist Englands Thronfolger - ob verrückt oder nicht!" Er wies Lord Hertford an, die notwendigen Vorkehrungen zur Proklamation zu treffen.

Einer der Edelleute erinnerte den König ehrerbietig daran, dass der erbliche Königliche Oberzeremonienmeister Herzog von Norfolk im Tower gefangen läge … Doch der König wollte davon nichts hören. Sein Sohn sollte nicht auf die angestammte Würde verzichten, nur weil der Zeremonienmeister von England ein Verräter sei. Er befahl umgehend, das Todesurteil für den Herzog von Norfolk endlich vom Parlament bestätigen zu lassen.

Als der König sich wieder zu Tom wandte, wurden seine Gesichtszüge wieder gütig. "Küss mich, mein Prinz. Fürchte dich nicht, ich bin doch dein Vater!"

"Ihr seid wahrlich gütig zu mir, gnädiger Herr. Aber es berührt mich, an den zum Tode verurteilten denken zu müssen …"

"Das ist mein Sohn, ja! Dein Verstand mag zwar vernebelt sein, aber dein Herz ist gütig wie eh und je. Doch, der Herzog steht zwischen dir und deinem Recht. Ich werde einen anderen Zeremonienmeister ernennen. Quäl dich nicht mit solchen Gedanken, mein Prinz."

Doch Tom ließ nicht locker: "Aber er muss doch wegen mir sterben."

Doch der König schickte ihn fort mit Lord Hertford, seinem Onkel. Voll trüber Gedanken ließ Tom sich aus den Gemächern des Königs führen. Auf Schritt und Tritt verbeugten sich die Hofbediensteten vor ihm und murmelten: "Der Prinz kommt!" Ich werde in einem goldenen Käfig enden, dachte er, wenn Gott sich nicht meiner erbarmt und mir die Freiheit zurückgibt.

Im Traume, ja, da war das Dasein als Prinz glanzvoll. Doch die bedauernswerte Wirklichkeit sah ganz anders aus.