Der Hund von Baskerville

  • Autor: Doyle, Arthur C.

1. Der Besuch
2. Das Manuskript
3. Sir Henry Baskerville
4. Der Schatten
5. Die Kutsche Nr. 2704
6. Ankunft auf Baskerville Hall
7. Das Moor
8. Stapletons Schwester
9. Nächtlicher Schatten
10. Der entflohene Sträfling
11. Eine neue Spur
12. Die geheimnisvolle L. L.
13. Die düstere Hütte
14. Sherlock Holmes, höchstpersönlich
15. Noch ein Mord
16. Holmes Schlachtplan
17. Der Bluthund
18. Der Mörder
19. Das Baskerville-Geheimnis

 

 

1. Der Besuch

Mr. Sherlock Holmes saß am Frühstückstisch. Ich stand am Kamin und betrachtete den Stock, den unser Besuch am Vorabend vergessen hatte. Er war aus schönem Holz mit zwiebelförmigem Griff. Man nannte diese Dinger auch "Penangstöcke". Es war genau der Stock, den ein altmodischer Hausarzt zu tragen pflegt - majestätisch, robust und Vertrauen erweckend. Auf dem zollbreiten silbernen Band, knapp unterhalb des Griffs, war eingraviert: James Mortimer M.R.C.S. von seinen Freunden gewidmet. 1884.

"Nun, Watson, was schließen Sie daraus?"

Holmes saß mit dem Rücken zu mir und man könnte meinen, er hätte Augen am Hinterkopf. Dabei hat er mich lediglich in der gut polierten silbernen Kaffeekanne gesehen, wie in einem Spiegel. Er wiederholte seine Frage und setzte hinzu: "Da wir nicht wissen, welchem Zweck sein Besuch diente, gewinnt dieses zufällige Andenken an Bedeutung."

Ich versuchte, die Methode meines Freundes so gut wie möglich anzuwenden und fasste meine Erkenntnisse zusammen: "Dr. Mortimer muss ein achtbarer älterer Doktor sein und es spricht einiges dafür, dass er Landarzt ist, da er seine Krankenbesuche zu Fuß erledigt. Das wiederum kann ich daran erkennen, weil dieser Stock ziemlich abgenutzt ist. Die eiserne Spitze ist fast stumpf, sodass ich daraus auf ausgedehnte Fußmärsche schließe."

"Absolut richtig", lobte Holmes. Dann begann er, eigene Schlüsse zu ziehen. Er nahm mir den Stock aus der Hand und begutachtete ihn ausführlich mit einem Vergrößerungsglas. "Interessant", bemerkte er, "interessant, wenn auch einfach."

Ich glaubte schon, etwas Wichtiges übersehen zu haben. Doch Holmes beruhigte mich und meinte, dass ihn meine Ausführungen auf jeden Fall anregten. Er sagte: "Die Widmung auf dem Stock lässt eher auf einen Krankenhausarzt schließen. Und wenn die Buchstaben C.C. davor stehen, dann könnte es sich um das Charing Cross Hospital handeln."

Nach weiteren Mutmaßungen über die Herkunft des Geschenkes und dem Anblick einiger Bissspuren, die ich bis dahin übersehen hatte, schloss Holmes: "Es müsste sich um einen jungen Menschen handeln, so um die dreißig Jahre alt; liebenswürdig, ohne Ehrgeiz und zerstreut. Außerdem müsste er einen Hund besitzen, der größer als ein Terrier und kleiner als eine Dogge sein dürfte."

Ich lachte ungläubig. Und während Holmes sich zurücklehnte und kleine Rauchringe zur Zimmerdecke hinaufblies, nahm ich das Ärzteverzeichnis von meinem Regal und schlug nach. Tatsächlich fand ich diesen Mortimer James M.R.C.S., 1882, Grimpen, Dartmoor, Devon. Außerdem stimmten alle Angaben mit den Vermutungen Holmes überein. Ich reichte ihm das Buch.

"Was ist über den Hund geschrieben?", fragte ich.

"Er ist daran gewöhnt, den Stock seinem Herrn nachzutragen. Und weil es ein schwerer Stock ist, hält der Hund ihn fest in der Mitte. Daher sind die Bissspuren so gut sichtbar. Der Kiefer des Hundes ist meiner Meinung nach zu breit für einen Terrier und zu schmal für eine Dogge. Es könnte sein … Ja, ich habe es! Es muss ein langhaariger Spaniel sein!" Er sprang auf und wanderte im Zimmer umher.

"Wie können Sie sich da so sicher sein, mein lieber Freund?"

"Aus einem einfachen Grund. Just in dem Moment sehe ich den Hund vor unserer Haustüre und sein Besitzer läutet."

Holmes fragte sich, was dieser Dr. Mortimer von ihm wollte. Und ich, ich war beim Anblick des Besuchers überrascht, da ich einen typischen Landarzt erwartet hatte. Vor uns stand ein ziemlich junger Mann, groß, sehr schlank, dennoch für seinen Beruf eher unordentlich gekleidet. Als sein Blick auf den Stock in Holmes Hand fiel, rief er: "Ich bin so froh. Um nichts in der Welt möchte ich diesen Stock verlieren."

Nachdem sie einige Höflichkeiten ausgetauscht hatten, lud Sherlock Holmes unseren geheimnisvollen Gast zum Sitzen ein und sagte: "An Ihrem Zeigefinger erkenne ich, dass Sie Ihre Zigaretten selbst drehen. Sie dürfen sich gerne eine anzünden."

Mit überraschender Schnelligkeit drehte unser Gast eine Zigarette. Seine behänden Finger waren dabei so betriebsam und unstet wie die Fühler eines Insekts.

"Und nun, Dr. Mortimer, wäre es gut, wenn Sie mir erklären würden, welcher Art das Problem ist, zu dessen Lösung Sie meine Hilfe bräuchten", forderte Holmes ihn ungeduldig auf. Daraufhin kam unser Gast endlich, ohne Umschweife, zu dem eigentlichen Beweggrund seines Besuches.

 

 

 

2. Das Manuskript

Dr. James Mortimer hielt einige handbeschriebene Blätter in die Höhe und verkündete: "Bei diesem Manuskript handelt es sich um ein Familienpapier aus dem Jahre 1742. Sir Charles Baskerville persönlich vertraute es mir an. Sie erinnern sich - sein tragischer Tod vor drei Monaten verursachte in ganz Devonshire Aufregung. Ich möchte erwähnen, dass ich nicht nur sein ärztlicher Berater sondern auch sein persönlicher Freund war. Sir Charles Baskerville war ein energischer, praktisch denkender Mann. Trotzdem nahm er dieses Familiendokument sehr ernst und er war innerlich auf genau solch einen Tod vorbereitet, wie er dann tatsächlich eingetreten war."

Holmes nahm das Papier in seine Hände und begutachtete es genauer. Ich blickte ihm über die Schultern und bemerkte: "Soll wohl so eine Art Bericht sein, oder?"

"Ja", antwortete Dr. Mortimer, "es ist die Familiengeschichte der Baskervilles."

"Ich dachte, Sie wollten mich wegen einer aktuellen Angelegenheit konsultieren?" Holmes lehnte sich zurück und wartete.

Dr. Mortimer las mit hoher, brüchiger Stimme die eigenartige alte Geschichte vor:

Damals gehörte dieses Schloss von Baskerville einem gewissen Hugo von Baskerville. Er war ein besonders rücksichtsloser und ungläubiger Mensch. Vielleicht hätten seine Nachbarn ihm diese Schwächen verziehen, hätte er nicht ein junges Mädchen entführt - die Tochter eines Bauern. Während er mit seinen ebenso lasterhaften Freunden einem Saufgelage frönte, sperrte er das arme, einschüchterte Mädchen in eines der Zimmer. Doch das Mädchen wagte in seiner großen Verzweiflung, über Efeuranken die Südmauer hinabzuklettern und rasch über das Moor in Richtung ihres Elternhauses zu fliehen.

Als Hugo von Baskerville ihr Verschwinden bemerkte, hetzte er mit seinen Hunden in wilder Jagd über das mondbeschienene Moor. Seine betrunkenen Kumpane folgten wenig später. Sie begegneten einem Nachthirten, der ihnen erzählte, dass er besagtes Mädchen und den Mann gesehen habe. Doch er hatte noch mehr gesehen - Hugo von Baskerville wurde auf seiner schwarzen Stute von einem Höllenhund verfolgt, wie er ihn nie zuvor gesehen hatte. Die Männer ritten, verärgert ob dieses Unsinns, weiter.

Nach einer Weile trafen sie auf die sonst so jagdwütigen, mutigen Hunde ihres Freundes. Die Herde winselte, zusammengedrängt am Rande eines tiefen Grabens. Die Mutigen unter den Reitern folgten der Spur den Graben hinunter. Der Mond schien hell über der Lichtung, deshalb sahen sie sogleich das Mädchen tot daliegen, vor Erschöpfung und Angst zusammengebrochen. Ganz in ihrer Nähe lag Hugo von Baskerville. Doch nicht der Anblick der Leichen bestürzte die angetrunkenen Männer. Über Hugo von Baskervilles Leichnam stand ein großes schwarzes Tier, der Gestalt nach ein Jagdhund und riss an seinem Hals. Der Jagdhund war größer, als je zuvor ein Mensch gesehen hatte. Sie sahen sich einem riesigen Tier gegenüber, einer Bestie, die sich mit glühenden Augen und bluttriefendem Kiefer ihnen zuwandte. Drei der Männer starben ebenfalls in dieser Nacht.

Danach lag ein Fluch über der Familie von Baskerville und viele Mitglieder unserer Familie starben eines unnatürlichen, gewaltsamen und blutigen Todes. Man hofft, dass dieser Fluch über die vierte Generation hinaus keine Unschuldigen mehr trifft. Die Geschichte schloss mit diesem Rat: "Dieser Vorsehung, meine Söhne, empfehle ich euch, das Moor in jenen dunklen Stunden, da böse Mächte am Werk sind, nicht zu durchqueren."

Als Dr. Mortimer geendet hatte, gähnte Holmes laut und setzte sich auf. "Märchen, alles Märchen", sagte er.

Da zog Dr. Mortimer einen Zeitungsbericht aus der Tasche vom 14. Juni dieses Jahres. "Das ist eine kurze Darstellung der Tatsachen, die anlässlich des wenige Tage zuvor verstorbenen Sir Charles Baskerville bekannt gegeben wurden."

Nun erfuhren wir, dass die Umstände des Ablebens dieses überaus beliebten und großherzigen Mannes nicht vollständig geklärt werden konnten. Doch Dr. Mortimer ließ es sich nicht nehmen, uns über Details zu informieren, die er am Unglücksort erkannt hatte. Er erwähnte, dass Sir Charles mit ausgebreiteten Armen auf dem verzerrten Gesicht gelegen hatte; seine Finger in die Erde gekrallt. Und es waren Fußspuren um die Leiche herum gewesen; wohl etwas weiter entfernt, aber deutlich sichtbar und frisch.

"Fußspuren?", fragte Holmes.

Dr. Mortimer sah uns einen Atemzug lang eigenartig an und dann flüsterte er: "Mr. Holmes, es waren die Fußspuren eines überlebensgroßen Hundes."

 

 

 

3. Sir Henry Baskerville

Beim Klang seiner Stimme lief mir ein Schauer über den Rücken. Holmes, der es kaum glauben konnte, beugte sich erregt vor. Die Begebenheit hatte sein Interesse nachhaltig geweckt. Er fragte Dr. Mortimer ganz genau über die Details aus, die in dieser Nacht zu hören, zu fühlen und zu sehen waren.

Sein Gast erzählte von der kalten, feuchten Nacht. Und davon, dass alles sehr verwischt war. Dr. Mortimer hatte die Stelle am Tor selbst untersucht und festgestellt, dass Sir Charles ungefähr vier bis fünf Minuten dort gestanden haben musste. Denn es war zweimal Asche von seiner Zigarre heruntergefallen.

"Ausgezeichnet", rief Holmes, "hier sitzt ein Kollege nach unserem Geschmack, Watson."

Trotzdem war Holmes mit den Ausführungen nicht zufrieden. Er schlug sich ungeduldig aufs Knie.

"Wäre ich doch nur dort gewesen!", rief er. "Dies ist ein so ausnehmend spannender Fall, der wissenschaftlich gesehen viel zu bieten hat. Aus diesem Stück Erde hätte ich so viel herauslesen können. Aber jetzt ist es vom Regen verwischt und von den Fußspuren neugieriger Bauern zertrampelt. Oh, Dr. Mortimer, warum haben Sie mich nicht eher gerufen? Sind Sie sich Ihrer Verantwortung überhaupt bewusst?"

Holmes wunderte sich, dass Dr. Mortimer nun doch seine Hilfe in Anspruch nehmen wollte. Dieser erklärte ihm, dass er in Kürze den Erben von Baskerville empfangen würde: Sir Henry Baskerville.

Dr. Mortimer erklärte: "Nach Sir Charles Tod forschten wir nach einem Abkömmling der Familie der Baskervilles. Wir fanden heraus, dass sich dieser junge Mann in Kanada mit Landwirtschaft beschäftigte. Nach unseren Informationen soll er ein prächtiger Mensch sein. Und er ist der einzige Blutsverwandte und somit der letzte der Baskervilles. In einer Stunde und fünf Minuten hole ich ihn vom Bahnhof ab. Nun Mr. Holmes, was meinen Sie - soll sich Sir Henry auf das Schloss seiner Ahnen begeben oder nicht?"

"Weshalb nicht?", entgegnete Holmes.

"Na ja, bedenken Sie, dass jedem Baskerville, der bisher dorthin gegangen ist, ein bitteres Unglück wiederfahren ist. Wahrscheinlich hätte Sir Charles mich davor gewarnt, den letzten Erben dieses großen Vermögens an den verfluchten Ort zu bringen. Und doch hängt der gesamte Wohlstand dieser ärmlichen Gegend von seiner Gegenwart ab. Wenn Baskerville Hall unbewohnt bleibt, dann werden all die guten Taten, die Sir Charles begonnen hat, zu Staub werden. Da ich fürchte, dass ich persönlich zu sehr in diese Geschichte verwickelt bin, bitte ich Sie um Ihren geschätzten Rat."

Holmes dachte eine Weile nach. Dann riet er ihm, einen Wagen zu nehmen, seinen an der Türe kratzenden Spaniel zu sich zu rufen und Sir Henry Baskerville pünktlich am Waterloobahnhof zu empfangen. Holmes bat sich vierundzwanzig Stunden Bedenkzeit aus, bis er zu einem Resultat kommen würde, und lud Dr. Mortimer für den nächsten Morgen um zehn Uhr zu einem Besuch ein. "Und es wird mir von großem Nutzen sein, wenn Sie Sir Henry Baskerville mitbringen", setzte er noch hinzu.

Ich schickte mich an, das Haus zu verlassen. Wusste ich doch, dass mein Freund die Abgeschiedenheit und Einsamkeit brauchte, in Stunden außergewöhnlicher geistiger Anstrengung. Während dieser Stunden wog er jedes noch so winzige Beweisteilchen ab, baute vielfältige Aspekte auf, verglich und überlegte, welche Punkte entscheidend und welche bedeutungslos waren. Daher verbrachte ich den Tag in meinem Klub und kehrte erst um neun Uhr abends wieder zurück.

Beim Öffnen der Türe wich ich zurück, ob des vom Rauch erfüllten Raumes. Holmes hatte sich während meiner Abwesenheit seinen starken Tabak kommen lassen. Er saß im Schlafrock auf einem Sessel, die schwarze Tonpfeife zwischen den Lippen. Er musste während meiner Abwesenheit etliche Kannen Kaffee und eine unwahrscheinliche Menge Tabak verbraucht haben. Außerdem hatte er sich eine stark vergrößerte Karte kommen lassen, auf der man den speziellen Bezirk sehen konnte.

"Es muss eine wilde, einsame Gegend sein", bemerkte ich zögernd.

"Ja, hier könnte sich der Teufel wirklich in menschliche Angelegenheiten einmischen", sinnierte Holmes. "Aber eigentlich stellt sich eher die Frage, ob überhaupt ein Verbrechen begangen worden ist, wie es begangen wurde und vor allem, wer es begangen hat. Doch falls Dr. Mortimers Annahmen richtig sind und dieser Vorfall mit magischen Kräften zu tun haben sollte, dann enden unsere Ermittlungen im Nichts; deshalb müssen wir vorher alle anderen Möglichkeiten in Erwägung ziehen, ehe wir auf diese zurückfallen."

Holmes fragte mich, ob ich mir über den Tag hinweg auch Gedanken gemacht hätte. "Natürlich", antwortete ich. "Vor allem beschäftigte mich die Änderung der Fußspuren. Aber ich kam zu keinem Schluss."

"Aber ich. Er lief nicht auf Fußspitzen, wie Dr. Mortimer vermutete. Nein, er lief um sein Leben, bis er tot umfiel. Er musste wahnsinnig gewesen sein vor Angst. Denn sonst wäre er nicht vom Haus weggelaufen sondern zum Haus hin. Außerdem beschäftigt mich noch die Frage, wen er in dieser Nacht erwartete und weshalb erwartete er ihn beim Tor und nicht im Haus?"

"Glauben Sie wirklich, dass er jemanden erwartete?"

"Ja, natürlich. Außerdem war bekannt, dass Sir Charles das Moor mied. Und das Unglück geschah an dem Abend, bevor er nach London reisen sollte. Es ergeben sich hier Zusammenhänge. Watson, bitte geben Sie mir meine Geige herüber. Wir schieben jetzt alle Gedanken zur Seite und warten ab. Wir werden ja sehen, was der Termin mit Dr. Mortimer und Sir Henry Baskerville morgen früh um zehn Uhr bringt."

 

 

 

4. Der Schatten

Unsere Klienten kamen pünktlich um zehn Uhr. Sir Henry war ein kleiner, aufgeweckter Mann mit dunklen Augen und einem kampflustigen Gesichtsausdruck. Sein rötlicher Tweedanzug verriet, dass er wohl die meiste Zeit im Freien verbrachte. Trotzdem lag in seiner ruhigen Ausstrahlung das Flair eines Gentlemans. Dr. Mortimer stellte uns vor.

Nachdem Sir Henry Platz genommen hatte, erzählte er sogleich, dass ihm seit seiner Ankunft in London bereits eine merkwürdige Begebenheit passiert war. Er legte einen Umschlag auf den Tisch, den wir sogleich genauer betrachteten. Er war aus gewöhnlichem grauem Papier und adressiert an: Sir Henry Baskerville, Northumberland Hotel. Der Umschlag war am vergangenen Abend in Charing Cross gestempelt worden.

"Wer konnte wissen, dass Sie im Northumberland Hotel absteigen würden?", fragte Holmes und sah unseren Besucher durchdringend an. Aber es stellte sich heraus, dass tatsächlich alle Vorsichtsmaßnahmen beachtet wurden und wahrlich niemand von dem spontanen Entschluss der Hotelwahl wissen konnte.

Holmes zog aus dem Umschlag einen halben Briefbogen, der doppelt gefaltet war. Er legte ihn geöffnet auf den Tisch. Auf diesem Papier waren gedruckte Worte aufgeklebt, die folgende Mitteilung ergaben: Wenn Sie Wert auf Ihr Leben oder Ihren Verstand legen, sollten Sie dem Moor fernbleiben.

Sir Henry fragte, was er denn mit einer solchen Nachricht anfangen solle.

Holmes erklärte, dass ein Teil der Lösung vielleicht in der Times von gestern liegen könnte. Ich reichte sie ihm und es dauerte nicht lange, da hatte er gefunden, was er gesucht hatte - im Leitartikel. Hier fand er die ausgeschnittenen Worte: Ihr, Leben, Verstand, Wert

"Das ist ja großartig!", rief Sir Henry begeistert. "So weit ich Ihnen folgen kann, hat jemand diese Wörter mit einer Schere herausgeschnitten."

"Ja", nickte Holmes, "es muss eine kurze Schere gewesen sein, vielleicht eine Nagelschere. Denn für das Wort "fernbleiben" waren zwei Schnitte notwendig. Dann wurden die Worte mit Gummi auf Papier geklebt. Außerdem glaube ich, dass wenn wir die Hotels um Charing Cross herum durchsuchen würden, könnten wir die Reste der zerschnittenen Times finden und postwendend den Täter entlarven."

Er drehte das Papier in seiner Hand und fragte: "Ist Ihnen sonst noch etwas merkwürdiges wiederfahren, Sir Henry?"

Dieser berichtete, dass ihm einer seiner neuen Schuhe weggekommen war. Er hatte sie gestern Abend vor die Tür des Hotelzimmers gestellt und am Morgen war nur noch einer da. Der Hoteljunge, der sie geputzt hatte, konnte es sich ebenfalls nicht erklären. Sir Henry drängte nun um eine Erklärung.

Endlich erzählte Dr. Mortimer dieselbe Geschichte, wie uns am Abend zuvor. Als er mit der Geschichte geendet hatte, meinte Sir Henry: "Na, da scheine ich ja in eine tolle Erbschaft hineingeraten zu sein."

Sie berieten sich noch eine Weile, bevor Sir Henry sich festlegte: "Was auch kommt, meine Antwort steht fest. Niemand kann mich daran hindern, das Schloss meiner Vorfahren zu betreten!" Dabei runzelte er finster die buschigen Augenbrauen und das Blut stieg ihm ins Gesicht. "Da ich kaum Zeit gehabt habe, über alles nachzudenken, würde ich mich gerne eine Stunde zurückziehen. Es ist jetzt halb zwölf Uhr - wie wäre es, wenn wir uns um zwei Uhr im Hotel zum Essen treffen würden?"

So verließ uns Sir Henry, begleitet von Dr. Mortimer, um ins Hotel zu gehen. "Auf Wiedersehen, bis zwei Uhr", riefen wir. Kaum war die Haustüre ins Schloss gefallen, hatte sich Sherlock Holmes in einen Mann der Tat verwandelt. Er wechselte in Windeseile seinen Schlafrock gegen einen Gehrock und stürmte, gefolgt von mir, auf die Straße.

Dr. Mortimer und Baskerville waren schon ein Stück in Richtung Oxford Street gegangen. Wir folgten ihnen in einem Abstand von hundert Metern in die Regent Street. Als unsere Freunde vor einem Schaufenster hielten, um sich die Auslagen anzusehen, taten wir es ihnen gleich. Holmes entdeckte ihn zuerst, den Wagen auf der anderen Straßenseite. Ich bemerkte, dass stechende Augen über einem dichten schwarzen Bart von der Kutsche aus zu uns blickten. Gleichzeitig flog die Klappe des Dachs auf, der Kutscher bekam einen Befehl und der Wagen raste die Regent Street hinunter.

Nachdem Holmes vergeblich nach einer eigenen Kutsche rief, versuchte er, dem Wagen in einer wilden Fußjagd zu folgen, aber der Vorsprung war zu groß. "Ha!", schnaubte Holmes missgelaunt, "so ein Pech! Wir sind grundschlecht vorbereitet!"

Mein Freund schloss aus dieser Begebenheit, dass Sir Baskerville seit seinem Eintreffen in London von irgendjemandem überwacht wurde. Und wenn man ihn bereits am ersten Tag im Visier hatte, dann würde man ihn auch am nächsten Tag verfolgen. Allerdings war der Verfolger so schlau, sich nicht auf seine Beine zu verlassen, sondern hatte einen Wagen genommen; so konnte er zurückbleiben oder vorfahren und dadurch der Aufmerksamkeit entgehen. Allerdings hat die Sache mit dem Wagen auch einen Nachteil. Er war vom Kutscher abhängig. Holmes schloss seine Ausführungen mit den Worten: "Und ich, lieber Watson, ich habe mir natürlich die Nummer der Kutsche gemerkt. 2704 - wir haben unseren Mann."

Natürlich hatte es nun keinen Sinn mehr, Dr. Mortimer und Sir Baskerville zu folgen. Wir sammelten unsere Erkenntnisse. Der Schatten war verschwunden und wir mussten zusehen, dass wir die Trümpfe, die wir in der Hand hatten, mit Bedacht ausspielten. So war uns klar, dass der Bart falsch war. Ein schlauer Mensch, der ein solches Spiel spielte, hatte nur Verwendung für so einen Bart, wenn er dahinter seine Gesichtszüge verbergen konnte.

Holmes trat in eines der Botenbüros des Bezirks ein. Der Leiter begrüßte ihn herzlich. Holmes erklärte sich kurz und bat darum, dass der Botenjunge, ein gewisser Cartwright, bei unseren Nachforschungen mithelfen durfte. Er kannte ihn von einem seiner früheren Fälle. Als der Junge von vierzehn Jahren dem Ruf folgte, blickte er mit ehrfürchtiger Bewunderung auf den berühmten Detektiv.

Sogleich erklärte Holmes dem Jungen, was er von ihm wollte: "Du kennst bestimmt die Gegend um Charing Cross. Klappere alle dreiundzwanzig Hotels in der näheren Umgebung ab. Dort suchst du dieses Blatt der Times." Holmes hielt ihm die Seite des gestrigen Leitartikels unter die Nase. "Heute Abend gibst du mir dann Bescheid, ob du sie gefunden hast. Hier hast du noch Geld, für alle Fälle."

Zu mir gewandt sagte er: "Watson, nun suchen wir den Kutscher der Nr. 2704. Danach schlagen wir uns in einer der Bildergalerien in der Bond Street die Zeit tot bis zum Mittagessen."

 

 

 

5. Die Kutsche Nr. 2704

Sherlock Holmes hatte die unübertreffliche Begabung, sich nach Wunsch von dem, was ihn gerade Beschäftigte, abzulenken. Er hatte zwei Stunden lang für nichts anderes Sinn als für die Bilder moderner belgischer Künstler.

Als wir im Hotel ankamen, meldete der Hotelportier uns umgehend bei Sir Henry Baskerville an. Doch bevor der Portier uns ins Zimmer führte, warf Holmes noch einen Blick auf die Gästeliste. Nach kurzer Rücksprache waren wir uns sicher, dass die Leute, die so ein intensives Interesse an unserem Freund hatten, nicht in diesem Hotel abgestiegen waren. Holmes meinte: "Es ist den Spähern wohl ebenso bedeutend, ihn zu beobachten, wie es ihnen wichtig ist, nicht von ihm gesehen zu werden.

Wir waren gerade am obersten Treppenabsatz, als uns Sir Henry Baskerville zornigen Blickes entgegenkam. In seiner Hand hielt er einen staubigen, alten schwarzen Schuh. "Zum Donnerwetter! Erst fehlt mein neuer brauner Schuh und nun mein alter schwarzer. Wenn der Kerl meinen Schuh nicht findet, dann setzt es aber was!", rief er wütend.

Der aufgeregte Hausdiener erschien: "Ich habe im ganzen Hotel herumgefragt, niemand weiß etwas über Ihren Schuh!"

Holmes fragte interessiert nach. Er nahm diese scheinbar belanglose Geschichte sehr ernst. Keiner seiner fünfhundert besonders wichtigen Fälle, die er in den vergangenen Jahren gelöst hatte, war derart verzwickt.

Das Mittagessen verlief sehr angenehm. Als wir dann in Sir Henrys Zimmer waren, fragte Holmes ihn nach seinen Absichten. Sir Henry hatte vor, sich Ende dieser Woche nach Baskerville Hall zu begeben.

"Ich finde befürworte Ihren Entschluss", meinte Holmes, "da ich inzwischen doch klare Beweise habe, dass Sie in dieser Millionenstadt beschattet werden. Sie wurden heute Morgen von meinem Haus aus verfolgt. Dr. Mortimer, gibt es unter Ihren Bekannten in Dartmoor einen Mann mit dichtem schwarzem Bart?"

"Natürlich. Barrymore, der Butler von Sir Charles. Er verwaltet Baskerville Hall", antwortete Dr. Mortimer.

Dann werden wir jetzt diesem Herrn ein Telegramm schicken und vermerken, dass im Falle seiner Abwesenheit das Telegramm wieder zurückgeschickt werden soll. Dann wissen wir, ob besagter Barrymore auf seiner Position in Devonshire ist oder nicht. Auch wenn Sie, lieber Dr. Mortimer, annehmen, dass es achtbare Leute sind, müssen wir jeder Spur folgen.

Holmes und Dr. Mortimer klärten noch, wer denn was geerbt hatte. Es gab wohl einige kleinere Erbteile, doch das Gesamtvermögen belaufe sich auf siebenhundertvierzigtausend Pfund. Eine wirklich große Summe. Holmes fragte: "Wenn unserem Freund hier etwas zustoßen würde, wer wäre der nächste Erbe?"

"Die Erbschaft würde an die Desmonds, entfernte Cousins, übergehen. Eigentlich würdige und schlichte Menschen, die bisher nie Geld von Sir Charles angenommen haben", antwortete Dr. Mortimer.

Nun, Sir Henry, da Sie nun bald nach Baskerville Halls abreisen wollen, stelle ich noch eine Bedingung: Sie dürfen auf keinen Fall alleine reisen. Dr. Watson wird Sie gerne begleiten. Immerhin gilt es, einen der geachtetsten Männer Englands zu schützen. Und da nur ich alleine den Skandal verhindern kann, bin ich in London unabkömmlich."

Ich staunte nicht schlecht über dieses Vertrauen, fühlte mich zudem sehr geschmeichelt. Sir Henry Baskerville überhäufte mich sofort mit seinem Dank und wir verabredeten uns auf Samstag, halb elf Uhr am Paddingtonbahnhof.

Gerade als wir uns verabschieden wollten, erblickte Baskerville seinen braunen Schuh unter dem Schrank. Dr. Mortimer, der zuvor das gesamte Zimmer durchsuchte hatte, stand vor einem Rätsel. Wir auch.

Während wir in die Baker Street zurückfuhren, versuchte Holmes, die rätselhaften Geschehnisse um den Tod von Sir Charles und die Ankunft Sir Henrys zu entschlüsseln. Er versuchte mit gerunzelter Stirn, die zusammenhanglosen Ereignisse aneinanderzufügen.

Kurz vor dem Abendessen kamen zwei Telegramme. Im Ersten stand, dass Barrymore das Telegramm erhalten hätte. Folglich hielt er sich auf Baskerville Hall auf. Und im Zweiten stand, dass Cartwright in den dreiundzwanzig Hotels leider nichts gefunden hätte.

Holmes war enttäuscht. Zwei Spuren waren somit verwischt. Jetzt kann uns nur noch der Kutscher helfen. Da läutete es auch schon und herein kam ein gewöhnlich aussehender Mann, offenbar der Kutscher selbst. "John Clayton, 3. Turpey Street, The Borough. Meine Kutsche steht in Shipleys Yard, in der Umgebung des Waterloobahnhofs", stellte er sich vor.

Holmes forderte den Gast auf, etwas über seinen Fahrgast vom Morgen zu erzählen. Überrascht und etwas verlegen kam der Kutscher seiner Bitte nach. "Der Herr sagte, er sei ein Detektiv und ich dürfte mit niemandem darüber sprechen. Sein Name war Sherlock Holmes."

Selten habe ich meinen Freund so überrascht gesehen. Dann lachte er lauthals. "Ein Hieb, Watson, eine klare Abfuhr. Ich wittere eine Klinge, biegsam und rasch, wie meine Eigene. Diesmal hat er es mir aber gegeben!" Holmes blickte zu dem Kutscher und forderte ihn auf, genau zu berichten, was geschehen war.

"Um halb zehn Uhr rief er mich am Trafalgar Square herbei. Er erklärte, er sei Detektiv und versprach mir zwei Pfund, wenn ich alles tun würde, was er von mir verlangte, ohne zu hinterfragen. Das nahm ich gerne an. Zuerst fuhren wir zum Northumberland Hotel. Dort warteten wir, bis zwei Herren herauskamen und in einen Wagen stiegen. Denen folgten wir, bis sie irgendwo ausstiegen. Wir blieben mit unserem Wagen etwas weiter zurück in der Straße und warteten ungefähr anderthalb Stunden. Dann gingen die zwei Herren an uns vorüber und wir folgten ihnen, bis wir fast in der Regent Street angelangt waren. Da befahl mir mein Fahrgast, ich möge sofort, so rasch ich könne, zum Waterloobahnhof fahren. Und das tat ich dann, bekam meine zwei Pfund und er ging in den Bahnhof hinein."

Leider konnte der Kutscher seinen Fahrgast nicht genauer beschreiben, außer dass er einen schwarzen Bart und ein blasses Gesicht hatte. Nicht einmal die Augenfarbe konnte er ausmachen. Für seine Dienste gab Holmes dem Mann ein halbes Pfund und versprach ihm noch ein Halbes, wenn ihm etwas Interessantes einfallen würde.

Holmes war enttäuscht, dass nun auch die dritte Spur im Sande verlief. "Ein geschickter Halunke! Er wusste unsere Hausnummer, wusste von dem Besuch Baskervilles und Mortimers und bemerkte mich in der Regent Street. Er sah voraus, dass ich über die Nummer des Wagens den Kutscher herausfinden würde, und ließ ihn deshalb diese freche Nachricht überbringen. Eine Kampfansage. Watson, diesmal haben wir es mit einem ebenbürtigen Gegner zu tun. Ich kann Ihnen für Devonshire nur viel Glück wünschen, aber irgendwie habe ich ein ungutes Gefühl."

"Weshalb?"

"Es ist eine garstige Angelegenheit, Watson, und gefährlich. Je mehr ich hineinblicke, desto weniger gefällt sie mir. Nein, lachen Sie nicht, mein Lieber, ich bin jetzt schon froh, wenn Sie gesund wieder zu mir zurückkehren."

 

 

 

6. Ankunft auf Baskerville Hall

Am Samstag machten Sir Henry Baskerville, Dr. Mortimer und ich uns wie vereinbart auf den Weg nach Devonshire. Sherlock Holmes gab mir am Bahnhof in Paddington noch letzte Ratschläge und wünschte, dass ich ihm jedes Ereignis auf das kleinste Detail melden solle. Er gab Anweisung, das Verhältnis des jungen Baskerville zu seinen Nachbarn zu prüfen, oder Neuigkeiten über den Tod von Sir Charles herauszubekommen.

Holmes teilte mir noch schnell seine neuesten Erkenntnisse mit. So war er sich sicher, dass Mr. James Desmond, der nächste Erbe, auf keinen Fall mit der Sache zu tun haben könne. Auch hatte er auskundschaften können, dass es auf Baskerville Hall einen Reitknecht gäbe, zwei Moorbauern und den gemeinsamen Freund Dr. Mortimer nebst seiner bislang unbekannten Gattin. Ein Naturforscher namens Stapleton und seine Schwester, ein Mr. Frank in Lafter Hall und noch einige Nachbarn, die ich mir unbedingt ansehen müsse, und natürlich die Barrymores. Er schloss mit den Worten: "Watson, tragen Sie ihren Revolver immer bei sich, Tag und Nacht."

Dann blickte Holmes zu Sir Henry und sagte: "Ich bitte Sie, Sir Henry, niemals alleine auszugehen. Ansonsten könnte Ihnen ein großes Unglück wiederfahren. Haben Sie übrigens Ihren zweiten Schuh wieder gefunden?"

"Nein, der scheint endgültig verschwunden zu sein."

"Tja …, das ist sehr interessant. Ich wünsche eine gute Reise! Und meiden Sie das Moor, in den finstern Momenten, in denen böse Mächte am Werk sind."

Die Reise verging geschwind und angenehm. Ich nutzte die Zeit, meine neuen Bekanntschaften besser kennen zu lernen und mit Dr. Mortimers Spaniel zu spielen. Kurze Zeit später ging die braune Erde in rötliche über, die aus Ziegel gebauten Häuser wechselten in Granitbauten und auf eingezäunten Wiesen weideten rot gefleckte Kühe. Das saftige Grün zeugte von einem milden, feuchten Klima. Sir Henry blickte aufgewühlt aus dem Fenster und ließ Ausrufe des Entzückens hören, ob des Wiedersehens des ihm wohl bekannten Landstrichs von Devonshire.

"Ich war noch jung, als ich Baskerville Hall zuletzt sah. Mein Vater starb, als ich noch halbwüchsig war und ich hatte das Schloss nie gesehen. Wir wohnten an der Südküste. Danach ging ich nach Amerika. Und nun, Dr. Watson, brenne ich darauf, das Schloss und das Moor zu sehen", rief Sir Henry.

Dr. Mortimer zeigte aus dem Fenster und sagte: "Nichts leichter als das - hier ist es."

Baskerville saß andächtig da und starrte zum Moor. Seine ganze Erscheinung, sein Benehmen machte mich sicher, dass er ein Kamerad sein musste, mit dem man durch dick und dünn gehen konnte. Mit ihm würden wir dieses gefahrvolle Abenteuer angehen können.

Als der Zug an einer kleinen Haltestelle still stand, merkten wir gleich, dass unsere Ankunft ein großes Ereignis war. Um unser Gepäck bemühte sich neben dem Träger sogar der Stationschef. Verwundert registrierte ich zwei militärisch aussehende Männer in dunklen Uniformen, die auf ihre Gewehre gestützt neben dem Eingang standen.

Ein griesgrämiger kleiner Mann begrüßte Sir Henry Baskerville - es war der Kutscher. Wir verloren keine Zeit und fuhren alsbald los. Beim Anblick der grandiosen Landschaft stieß Sir Henry mehrmals Rufe des Entzückens aus. Mir selbst kam dieser Landstrich eher ein wenig melancholisch vor.

Auf einmal rief Dr. Mortimer: "Was soll denn das?" Vor uns lag eine steile Erhebung, auf deren Erhöhung ein berittener Soldat mit schussbereitem Gewehr stand. Er bewachte die Straße. Perkins, der Kutscher, erklärte uns, dass vor drei Tagen ein Sträfling aus dem Gefängnis in Princetown ausgebrochen war. "Wir sind hier alle sehr beunruhigt … , es handelt sich um Selden, den Mörder von Notting Hill."

Baskerville hüllte sich enger in seinen Mantel und schwieg. Wir hatten die fruchtbare Gegend hinter uns gelassen und die Straße wurde unwegsamer und öder. Ab und zu fuhren wir an einem Moorbauernhaus vorbei. Plötzlich blickten wir in eine wenig bewaldete Mulde hinab. Zwei schmale Türme ragten zwischen den Bäumen empor. Der Kutscher deutete mit seiner Peitsche darauf und erklärte: "Baskerville Hall."

Sir Henry war im Wagen aufgesprungen und blickte aufgeregt dorthin. Als wir durch die lange, finstere Allee fuhren, an deren Ende das Haus hervorschimmerte, fragte er leise: "Kam er hier zu Tode?" Doch der Kutscher erklärte ihm, dass die besagte Eibenallee auf der anderen Seite des Grundstücks läge.

Der neue Besitzer wandte sich düster an mich: "Kein Wunder, dass mein Onkel fühlte, dass ihm an diesem Ort etwas zustoßen würde. Hier würde wohl jedem Menschen das Grauen kommen. Als Erstes werde ich hier eine Reihe elektrischer Laternen aufstellen lassen und das Eingangstor mit einer Tausendwattlampe versehen!"

Endlich hielt der Wagen und ein großer Mann öffnete die Wagentür. Dr. Mortimer verabschiedete sich sogleich und überließ es Barrymore, uns das Haus zu zeigen.

"Es sieht genauso aus, wie ich es mir vorgestellt habe", schwärmte Sir Henry. "In dieser Halle haben meine Ahnen fünfhundert Jahre lang gewohnt. Bei dieser Vorstellung wird mir mehr als feierlich zumute." Das Licht schien hell auf ihn herab und warf dunkle Schatten über ihn, wie eine Art Lampenschirm. Barrymore hatte unser Gepäck in die Zimmer gebracht und wartete nun bescheiden. Er sah sehr stattlich aus, groß und schmal, mit einem kurzen, schwarzen Bart und bleichen Gesichtszügen.

"In einigen Minuten ist das Diner bereit. Sir Henry, meine Frau und ich werden gerne in Ihren Diensten bleiben, bis Sie wissen, wie es hier weitergehen soll. Ich will ganz aufrichtig zu Ihnen sein. Wir stehen schon seit vielen Generationen im Dienst Ihrer Familie. An Sir Charles hingen wir besonders; sein Tod hat uns derart erschüttert, dass wir uns in Baskerville Hall wohl nie mehr sicher fühlen werden."

"Was haben Sie vor?", fragte Sir Henry Baskerville interessiert.

"Ihr Onkel hat uns die Mittel dazu gegeben, dass wir irgendein Geschäft aufmachen können. Und jetzt möchte ich Ihnen gerne Ihre Zimmer zeigen."

Über eine langgezogene Treppe kam man auf eine Galerie. Von hier aus liefen rechts und links lange Flure, auf welche die Zimmer mündeten. Diese waren recht freundlich eingerichtet, im Verhältnis zum Rest des Hauses. Allerdings war der Speisesaal, ein lang gestreckter Raum, finster und dunkel. Eine Reihe von Ahnen starrte aus ihren Rahmen auf uns hinunter, nur um ihre schweigende Anwesenheit zu demonstrieren.

Das Essen verlief wortkarg und ich war froh, als wir uns anschließend in das moderne Billardzimmer zurückziehen und unsere Zigaretten rauchen konnten. Sir Henry sagte: "Na, das ist nicht gerade ein fröhlicher Ort. Kein Wunder, dass mein Onkel ein schreckhafter Mann war, wenn er so ganz alleine hier lebte. Sofern es Ihnen recht ist, werden wir uns heute Abend früh zu Bett begeben; vielleicht sieht ja morgen alles ein wenig freundlicher aus."

Müde zog ich in meinem Zimmer die Vorhänge zu. Ruhelos wälzte ich mich in meinem Bett von einer Seite zur anderen und sehnte mich nach Schlaf. Von Weitem hörte ich alle Viertelstunde eine Uhr schlagen, ansonsten lag Totenstille über dem Anwesen. Doch plötzlich, mitten in der Nacht, hörte ich das Schluchzen einer Frau. Ich horchte angestrengt und versuchte zu orten, woher die Stimme kam. Das Weinen konnte nicht weit weg sein, es war sicher im Hause. So saß ich eine halbe Stunde mit angespannten Nerven im Bett, aber außer den Schlägen der Kirchturmuhr hörte ich nur noch das Geraschel des Mauergrüns.

 

 

 

7. Das Moor

Am nächsten Morgen, als Sir Henry und ich beim Frühstück saßen, schien die Sonne durch die bunten Fenster. Schnell war der erste triste Eindruck des Vorabends vergessen. Wahrscheinlich war es die Reisemüdigkeit, die unsere Gemüter am Abend zuvor so schwer bedrückt hatte und nicht die Dunkelheit der Räume.

"Habe ich es mir eingebildet, oder haben Sie auch eine Frau weinen hören während der Nacht?", fragte ich Sir Henry.

"Ja, das mag sein. Gerade als ich einschlafen wollte, meinte ich, etwas in der Art zu hören. Aber danach war es eine ganze Weile still und ich glaubte, ich hätte schlecht geträumt. Doch nun … da muss ich sogleich nachfragen."

Er fragte Barrymore, ob er unseren Eindruck bestätigen könne. Ich sah, dass der Butler daraufhin noch blasser wurde. Er klärte uns auf, dass nur zwei Frauen im Haus wohnen würden. Das Hausmädchen, das am anderen Ende untergebracht ist und seine eigene Frau. Und bei der, versicherte Barrymore, hätte er garantiert gehört, wenn sie rumgeheult hätte.

Doch der Butler hatte gelogen. Nach dem Frühstück traf ich zufällig im Flur mit seiner Frau zusammen, gerade als die Sonne ihr stark ins Gesicht schien. Ihre Augen waren geschwollen und auffallend gerötet; sie hatte bestimmt geweint während der Nacht. Aber weshalb log Barrymore und warum hat seine Frau so bitterlich geweint? Um diesen bleichen, attraktiven, schwarzbärtigen Mann verdichtete sich eine geheimnisvolle Atmosphäre. Er war es, der als Erster Sir Charles gefunden hatte und womöglich war auch er es, der am Ankunftstag Sir Henrys in der Regent Street in der Kutsche gesessen hatte.

Ich nahm mir vor, den Postbeamten in Grimpen danach zu fragen, wer genau das Telegramm in Empfang genommen hatte, Barrymore selbst oder seine Gattin … Da Sir Henry nach dem Frühstück noch allerlei Schreibkram zu erledigen hatte, nutzte ich die Gelegenheit, einen Ausflug zu machen. Es war ein angenehmer Spaziergang, am Moor entlang. Ich wanderte bis zu einer kleinen, grauen Ansiedlung, in welcher zwei größere Gebäude, das Gasthaus und Dr. Mortimers Haus, weit über die anderen Häuschen hinausragten.

Der Postbeamte konnte sich genau an das Telegramm erinnern. Er hatte es Barrymores Frau gegeben, weil ihr Mann angeblich gerade auf dem Speicher gewesen wäre. Gesehen hatte er den Butler nicht. Also könnte es sich bei ihm unter Umständen um den Mann aus der Kutsche handeln. Aber welchen Plan verfolgte er, oder war er ein Werkzeug anderer? Als einzigen Beweggrund war anzuführen, dass die Barrymores auf einen bequemen, lebenslänglichen Ruheposten auf Baskerville Hall aus waren.

Nachdenklich ging ich die einsame, graue Straße zurück. Ach, wäre doch mein Freund hier - dann würde nicht die gesamte Last auf meinen Schultern liegen. Meine Überlegungen wurden durch das Geräusch hastiger Schritte hinter mir unterbrochen. Ein kleiner, schmaler, glatt rasierter Herr mit einem aufgesetzten Gesichtsausdruck rief mir nach. Ich blickte mich um und sah einen dünnhaarigen, hohlwangigen Mann zwischen dreißig und vierzig Jahren vor mir stehen, bekleidet mit einem grauen Anzug und einem Strohhut. Über seiner Schulter hing eine Botanisierbüchse und in der Hand schwenkte er ein Schmetterlingsnetz. Er stellte sich mir vor: "Bitte verzeihen Sie, dass ich Sie so direkt anspreche, Dr. Watson. Mein Name ist Stapleton und ich wohne in Merripit House."

Dann erkundigte er sich nach Sir Henry und sagte, dass die Bewohner der Gegend wohl befürchtet hätten, der junge Baronet wolle sein Erbe gar nicht annehmen. Lächelnd erzählte er weiter von den abergläubischen Bauern in der Gegend, die alle die Legende vom Höllenhund glaubten. An seinem Blick erkannte ich, dass auch er die Sache sehr ernst nahm. "Die Geschichte beeindruckte Sir Charles derart, dass ich nicht daran zweifle, dass sie tatsächlich die Ursache seines Todes war."

"Aber wieso denn?", fragte ich überrascht.

"Sir Charles hatte überreizte Nerven und bereits der Anblick eines Hundes hätte sein ohnehin schwaches Herz zum Stillstand gebracht. Irgend etwas muss er in jener letzten Nacht in der Eibenallee erkannt haben und ist dann aus Schreck darüber gestorben."

Inzwischen waren wir an einer Straße angelangt, von der ein schmaler Pfad nach dem Moor abzweigte. Rechts von uns lag ein steiler, mit Felsblöcken durchzogener Hügel. "Merripit House ist nicht weit von hier. Vielleicht könnten Sie eine Stunde erübrigen, um meine Schwester kennen zu lernen?"

Ich dachte, dass ich eigentlich bei Sir Henry sein müsste. Doch dann fiel mir wieder sein Aktenberg ein und zudem hatte mich Sherlock Holmes angehalten, die Nachbarschaft gründlich kennen zu lernen. So nahm ich Stapletons Einladung an. Wir gingen den Pfad entlang und er plauderte mit mir über die Eigenheiten des Moores. Er zeigte in die weite Ebene hinaus und sagte: "Das ist der Grimpensumpf. Ein falscher Schritt bedeutet den Tod für Mensch und Tier."

Während er in die Weite zeigte, sah ich, wie sich etwas Braunes wälzte und wand zwischen dem Schilf. Ein Moorpony. Es reckte seinen suchenden Kopf in die Höhe, um nach einem grauenhaften Schrei vollends im Moor zu versinken. Entsetzt verfolgte ich das Unglück. Meinen Begleiter schien überhaupt nicht ergriffen von dem grausigen Bild. Schweigend gingen wir weiter.

"Hallo, was ist denn das?", rief ich.

Ein unbeschreiblich trauriger Klagelaut tönte über das Moor. Ich konnte nicht sagen, wo er herkam. Der leise Ton schwang sich zu einem tiefen Grollen an und verklang in einem leisen Gemurmel. Stapleton sah mich mit einem sonderbaren Gesichtsausdruck an. "Die Bauern behaupten, es sei der Bluthund der Baskervilles, der nach seinem Opfer heult. Aber so laut habe ich ihn noch nie gehört."

Mit bangem Blick tastete ich die Umgebung ab. Es saßen jedoch nur einige Raben krächzend auf einem Steinhaufen hinter uns. Grässlich.

 

 

 

8. Stapletons Schwester

Stapleton zeigte auf die Hügel hinüber und fragte mich, was ich davon hielte. Der steile Abhang war von einigen ringförmigen Formationen aus grauen Steinen bedeckt. Es mussten die Heimstätten unserer ehrenwerten Vorfahren sein. Stapleton bestätigte meine Annahme und ergänzte: "Ja, Watson, und auf diesen Abhängen ließen sie ihr Vieh weiden."

Kaum war er fertig, blickte er einem flatternden Etwas hinterher. "Entschuldigen Sie", rief er, dann jagte er einem kleinen Falter hinterher in Richtung Sumpf. Doch Stapleton ließ sich nicht abhalten und verfolgte das Insekt, indem er von einer grünen Insel auf die andere sprang. Sein Fangnetz flatterte in der Luft. Während ich die Jagd mit gemischten Gefühlen beobachtete, hörte ich Schritte hinter mir.

Eine Frau kam auf mich zu, es musste Miss Stapleton sein. Es gab kaum unterschiedlichere Geschwister als diese beiden. Die Schwester war die dunkelste Brünette, die ich je in England gesehen hatte - groß, schmal und geschmackvoll. Sie kam zügig auf mich zu und zischte: "Gehen sie zurück! Hören Sie? Kehren Sie nach London zurück - sofort!"

Ich forderte eine Erklärung. Sie sprach eindringlich, mit gedämpfter, aufgeregter Stimme und einem eigenen Lispeln: "Fragen sie nicht lange. Um Gottes Willen gehen Sie zurück und setzen Sie nie wieder einen Fuß auf dieses Moor." Als ihr Bruder nahte, fragte Sie ablenkend, ob ich ihr eine Orchidee pflücken würde.

Stapleton kehrte atemlos zurück. Er hatte die Jagd aufgegeben und begrüßte seine Schwester mit wenig herzlicher Stimme: "Hallo, Beryl."

Es stellte sich heraus, dass seine Schwester mich verwechselt hatte. Sie hatte mich für Sir Henry gehalten und war peinlich berührt, als sie erfuhr, wer ich wirklich war. Wir gingen gemeinsam zum Merripit House. Es war ein unfreundliches Landhaus, überhaupt erschien der gesamte Besitz armselig und trüb. Ich fragte mich, was diesen intelligenten Mann und seine hübsche Schwester dazu bewogen haben mochte, sich in dieser Gegend niederzulassen.

Als hätte er meine Gedanken erraten, erklärte Stapleton: "Früher hatte ich eine Schule im Norden. Die Arbeit dort fand ich theoretisch und langweilig. Aber mit der Jugend zu leben und diese jungen Menschen zu formen, ihnen Ideale und Gedanken einzuverleiben, das machte mir Freude. Leider verstarben drei meiner Schüler an einer Typhusepidemie und die Schule erholte sich nie wieder von diesem Schlag. Außerdem habe ich dabei fast mein gesamtes Vermögen verloren."

"Ich überlegte bereits, ob es Ihnen und Ihrer Schwester hier nicht zu langweilig wäre", parierte ich.

"Aber nein! Wir haben Bücher, unsere Studien und sehr freundliche Nachbarn. Dr. Mortimer ist ein vortrefflicher Gesellschafter, wie es auch Sir Charles war. Was meinen Sie, wäre es verfrüht, wenn ich Sir Henry heute Nachmittag besuchte. Vielleicht könnten Sie meinen Besuch vorher anmelden?"

Stapleton lud mich zum Essen ein. Doch ich brannte darauf, zu Sir Henry zurückzufahren. Die Melancholie des Moors und der Tod des Ponys, der furchterregende Laut des angeblichen Hundes der Baskervilles - all diese Dinge bekümmerten mein Seelenleben.

Ich lehnte die Einladung ab und ging denselben Weg nach Hause, den ich gekommen war. Aber es musste eine Abkürzung geben, denn ehe ich die Straße erreichte, sah ich Miss Stapleton auf einem Stein sitzen. Ihre Wangen waren erhitzt.

Sie wollte mir erklären, dass ihre Ausführungen vorher einer Weiberlaune entsprungen wären. Sie erklärte eindringlich: "Wir waren von Sir Charles Tod sehr erschüttert. Oft kam er bei uns vorbei, über das Moor zu unserem Haus. Der Fluch, der seine Familie belastete, machte ihm sehr zu schaffen. Nachdem dieses Unglück dann tatsächlich passierte, fühlte ich, dass seine Furcht berechtigt gewesen war."

Sie flehte mich an, diese Warnung an Sir Henry weiterzugeben. Ihr Bruder, Stapleton, sollte jedoch nichts davon erfahren. "Er ist sehr daran interessiert, dass Baskerville Hall wieder bewohnt wird, weil es für die Menschen auf dem Moor mehr als wichtig ist. Er wäre sehr böse mit mir, wenn er wüsste, was ich gesagt habe. Aber somit habe ich meine Pflicht erfüllt."

Dann drehte sie sich um und eilte zwischen den grauen Steinblöcken zurück. Ich trat mit unbestimmter Furcht im Herzen den Heimweg nach Baskerville Hall an.

 

 

 

9. Nächtlicher Schatten

Ab jetzt schildere ich den Gang der Ereignisse, indem ich meine Briefe, die ich an Mr. Holmes geschrieben habe, abschreibe. Diese Schriftstücke geben meine Gefühle und Erkenntnisse besser wieder, als ich es je aus der Erinnerung heraus könnte.

Baskerville Hall, den 13. Oktober

Mein lieber Holmes,

je länger ich hier bin, desto mehr verfalle ich dem Zauber des Moors und seiner finsteren Anziehungskraft. Hier wird man sich stets der Heimstätten und des Vorhandenseins prähistorischer Menschen bewusst. Der Geist des Moors ist allgegenwärtig.

Über die letzten Tage gab es nicht viel zu berichten, doch nun ereignete sich etwas sehr Überraschendes. Doch zuerst muss ich Ihnen noch andere Begebenheiten mitteilen. Eine davon ist der entlaufene Sträfling auf dem Moor. Wahrscheinlich hat er die Region verlassen, worüber die Bauern dieses Landstrichs mehr als beruhigt sind. Seit seiner Flucht sind zwei Wochen vergangen und es ist beinahe unmöglich, dass er sich die ganze Zeit im Moor aufgehalten hat. Trotz der guten Chancen, sich zu verstecken, könnte sich hier kein Mensch beköstigen. Daher vermuten wir, dass er endgültig das Weite gesucht hat und die Bauern schlafen wieder ruhiger.

Wir auf Baskerville Hall brauchten nichts zu befürchten, da wir vier Männer sind im Haus. Doch manchmal machte ich mir um die Stapletons nicht geringe Sorgen. In ihrem Hause wohnen nur Schwester, Bruder, ein Hausmädchen und ein älterer Diener. Da Mr. Stapleton nicht besonders kräftig ist, wären sie alle in den Händen dieses Sträflings verloren gewesen. Sir Henry war derart beunruhigt, dass er ihnen sogar Perkins, den Reitknecht, zum Schutz schicken wollte. Doch Stapleton lehnte ab.

Tatsächlich hat unser Freund, Sir Henry, ein wachsendes Interesse an unserer hübschen Nachbarin. Sie hat aber auch ein freundliches, bezauberndes Wesen - ganz im Gegensatz zu ihrem Bruder. Seine Augen haben einen so harten Glanz und seine fest aufeinander gepressten Lippen zeigen mir, dass er recht rau sein kann. Hoffentlich ist er immer gut zu ihr.

Stapleton kam übrigens noch am ersten Tag zu uns und führte uns am nächsten Morgen zu dem Punkt, von dem die Legende des grausamen Hugo ausgehen soll. Der Ausflug führte uns mehrere Meilen über das Moor, an einen derart trostlosen Ort, dass man den Ursprung der Geschichte begreift. Sir Henry zeigte sehr großes Interesse. Mehrmals fragte er Stapleton mit großem Ernst, ob er wirklich glauben könne, dass es eine Vermischung übernatürlicher Mächte mit menschlichen Angelegenheiten gäbe.

Stapleton antwortete vorsichtig, aber er hielt augenscheinlich etwas zurück und sprach damit seine wirkliche Meinung nicht aus. Er erzählte lediglich von ähnlichen Fällen und hinterließ den Eindruck, dass er die Meinung der Allgemeinheit teilte.

Das Mittagessen nahmen wir in Merripit House ein, wo Sir Henry die Bekanntschaft von Miss Stapleton machte. Er war sofort von ihrem Wesen fasziniert und es war kaum zu übersehen, dass dieses Gefühl auf Gegenseitigkeit beruhte. Seitdem schwärmt unser Freund ständig von ihr und es vergeht kaum ein Tag, an dem wir nicht mit den Geschwistern zusammentreffen.

Nur Stapleton scheint von dem Verlauf der Dinge nicht angetan; obwohl er sich über eine solche Heirat doch freuen sollte, begegnete er uns mehr als einmal mit verärgertem, abweisendem Gesichtsausdruck. Jedoch, vielleicht hängt er lediglich sehr an ihr. Außerdem muss ich Ihnen mitteilen, dass es kaum möglich sein wird, Sir Henry von nun an nicht mehr aus den Augen zu verlieren, wenn sich aus dieser Bekanntschaft Liebe entwickeln sollte. Dann nämlich wäre meine Beliebtheit schnell beim Teufel.

Letzten Donnerstag speiste Dr. Mortimer bei uns und unterhielt uns mit seinem neuesten prähistorischen Fund. Später kamen die Stapletons dazu und der Doktor führte uns in die Eibenallee. Sir Henry wollte genau wissen, was sich in jener finsteren Nacht zugetragen hatte, in der Sir Charles zu Tode kam. Die Allee ist ein trübseliger Weg zwischen zwei grünen Eibenwänden. Ungefähr in der Mitte der langen Strecke ist das Tor, bei dem der alte Sir Charles gestanden hatte und die Zigarrenasche zu Boden fallen ließ. Jenseits davon liegt das Moor.

Ich versuchte mir vorzustellen, was genau passiert sein könnte. Vielleicht war der alte Mann am Tor gestanden, hat vom Moor her etwas auf sich zukommen sehen, etwas sehr Grauenvolles … er bekam Angst, lief vor Entsetzen in die andere Richtung davon, bis er tot zu Boden fiel. Aber wovor könnte er geflüchtet sein? Vor einem Schäferhund oder vor einem gespenstisch schwarzen Monsterhund ungeheuerlichen Ausmaßes? Alles war verwischt, aber ich spürte die dunklen Schatten eines Vergehens.

Seit meinem letzten Brief an Sie habe ich einen anderen Nachbarn kennen gelernt. Einen Mr. Frankland von Lafter Hall, dessen Haus ungefähr vier Meilen südlich von uns steht. Ein rotwangiger älterer Herr mit weißem Haar und cholerischem Verhalten. Er liebt das englische Gesetz und hat mit seinen Prozessen inzwischen ein Vermögen verloren. Aber abgesehen von seiner Nörgelei scheint er ein harmloser Zeitgenosse.

Da ich nun über alles und jeden hier berichtet habe, möchte ich mit dem Allerwichtigsten schließen - mit den Barrymores. Letzte Nacht hatte ich es mit einem außergewöhnlichen Geschehnis zu tun. Mrs. Barrymore interessiert mich außerordentlich. Sie ist ein wenig erregbarer Mensch und trotzdem habe ich sie damals bitterlich weinen hören; auch habe ich öfter Tränenspuren in ihrem Gesicht gesehen. Sie scheint von einem tiefen Kummer aufgewühlt, sodass ich mich frage, ob Barrymore ein Haustyrann ist oder ob sie von Schuld geplagt wird.

Mein Schlaf ist hier im Hause nicht sehr tief und in der vergangenen Nacht, so gegen zwei Uhr, schlich sich jemand an meinem Zimmer vorbei. Ich erwachte und sah leise nach. Der lange Schatten eines Mannes, der, eine Kerze haltend, den Gang hinunterschlich. Er trug Hemd und Hose und war barfuß. Den Umrissen und der Größe nach handelte es sich bei dem Schatten um Barrymore. Ich wartete, bis er außer Sichtweite war, und folgte ihm. Am Ende des Ganges betrat er ein Zimmer. Ich schlich ihm nach und lugte durch die geöffnete Tür.

Barrymore saß zusammengekauert auf dem Fenstersims und hielt die Kerze gegen das Fenster. Sein Blick schien vor Erwartung gespannt. Nachdem er einige Minuten lang hinausgeblickt hatte, seufzte er tief und blies die Kerze aus. Ich eilte in mein Zimmer und eine Weile später hörte ich die verstohlenen Schritte wieder an meiner Tür vorbeischleichen. Viel später, ich war beinahe wieder eingeschlafen, hörte ich, wie sich irgendwo im Haus ein Schlüssel im Schloss drehte. Leider konnte ich nicht ausmachen, woher genau dieser Klang kam.

Auf jeden Fall geht in diesem Haus etwas nicht mit rechten Dingen zu, ein Geheimnis, das wir früher oder später entschlüsseln müssen. Heute Morgen habe ich mit Sir Henry darüber gesprochen und wir haben für die kommende Nacht einen Schlachtplan entwickelt. So dürfte mein nächster Bericht für Sie interessant werden.

 

 

 

10. Der entflohene Sträfling

Baskerville Hall, 15. Oktober

Mein lieber Holmes,

auch wenn ich Ihnen zu Beginn meiner Reise nicht viel berichten konnte, so überschlagen sich jetzt die Ereignisse. In den letzten zwei Tagen ist manches viel klarer geworden, einiges hat aber auch für Verwirrung gesorgt.

Am Morgen meines nächtlichen Ausflugs suchte ich vor dem Frühstück das Zimmer, in dem Barrymore die Nacht zuvor gewesen war. Ich stellte fest, dass es vom Schloss aus den vollkommensten Blick zum Moor eröffnet. Daraus leitete ich ab, dass Barrymore etwas Bestimmtes auf dem Moor gesucht hatte. Womöglich handelte es sich hier um eine Liebesintrige, was auch die traurige Stimmung seiner Frau erklären würde. Und das Öffnen der Türe zu nächtlicher Stunde konnte bedeuten, dass er sich noch zu einer heimlichen Verabredung auf den Weg gemacht hatte.

Ich schildere Ihnen jedenfalls meine Gedanken, auch wenn sich später herausstellen sollte, dass sie in die falsche Richtung gingen

Als ich nach dem Frühstück Sir Henry alles berichtete, war dieser weniger davon überrascht, als ich dachte. Nach eingehender Beratung beschlossen wir, in der nächsten Nacht im Zimmer des Baronets wach zu bleiben, und zu warten, bis er kommen würde. Sir Henry empfand dieses Abenteuer als erfreuliche Abwechslung.

Er hatte sich mit dem Architekten und einem Bauunternehmer aus London in Verbindung gesetzt, um die Baupläne von Sir Charles in die Tat umzusetzen. Hier wird sich in naher Zukunft einiges verändern. Wenn das Haus umgebaut und neu möbliert ist, fehlt ihm nur noch eine geeignete Frau. Jedoch, unter uns gesagt, sind deutliche Zeichen vorhanden, dass auch dafür gesorgt wäre - vorausgesetzt, besagte Dame ist damit einverstanden. Sir Henry ist sichtlich in unsere schöne Nachbarin, Miss Stapleton, verliebt. Leider verläuft die Liebesgeschichte nicht so unbeschwerlich, wie verhofft. Heute ereignete sich ein Zwischenfall, der unseren Freund sehr verärgert hat.

Nach unserem Gespräch über Barrymore nahm Sir Henry seinen Hut und wollte ausgehen. Ich tat es ihm nach, doch er bat mich, ihm ausnahmsweise nicht zu folgen. Er hatte sich zum ersten Mal mit Miss Stapleton ganz alleine verabredet. Ihr Bruder verhinderte bislang jegliches vertrautes Treffen.

Trotz Sir Henrys Bitte folgte ich ihm in Richtung Moor. Nach kurzer Zeit schon traf Miss Stapleton zu ihm. In gebührendem Abstand folgte ich den beiden und sah, wie sie ins Gespräch vertieft den Pfad zum Moor weiter gingen. Die beiden zu bespitzeln empfand ich als höchst widerlich und ich nahm mir vor, ihm später mein Vergehen zu beichten. Ich stand inmitten von Felsen und beobachtete still, wie Miss Stapleton aufgeregt auf ihren Begleiter einredete. Ihre Gesten waren eindrucksvoll und sie schienen die Welt um sich herum zu vergessen. Später erzählte mir der Baronet, dass er intensiv geworben hätte, ja, sogar eine Art Heiratsantrag hätte er ihr gemacht. Miss Stapleton hielt ihn dagegen beständig an, die Gegend und vor allem Baskerville Hall zu verlassen. Sir Henry jedoch erklärte, dass er ohne sie nirgendwohin gehen werde.

Und während die beiden sich so intensiv miteinander beschäftigten, beobachtete ich, dass ich nicht der einzige Zeuge war. Mr. Stapleton wedelte mitsamt seinem Schmetterlingsnetz zwischen den Felsen umher. Und gerade als Sir Henry seine Auserwählte in den Arm nahm, stürmte Stapleton wie wild auf die beiden. Hierzu berichtete Sir Henry später, dass Stapleton mit wutverzerrtem Gesicht auf sie gestürzt wäre und aufs Höchste seine Schwester verteidigt hätte. Sie verwickelten sich in einen Streit, der damit endete, dass Stapleton seine Schwester schnappte und in Richtung Merripit House davonstob. Sir Henry ging nach einer Weile langsam den Weg zurück, den Kopf tief gebeugt und beträchtlich niedergeschlagen.

Auf halbem Weg begegneten wir uns und ich beichtete Sir Henry umgehend, was ich gesehen hatte. Er war nicht wirklich ärgerlich darüber, denn nun konnte er mit mir über diesen unglaublichen Vorfall reden. Vor allem konnte er nicht verstehen, weshalb Stapleton die Werbung seines Nachbarn um seine Schwester derart brüsk zurückgewiesen hatte.

Noch am selben Nachmittag klärte Stapleton die Situation höchstpersönlich auf. Er besuchte uns, entschuldigte sich in aller Form und erklärte, dass ihm der Gedanke, seine Schwester zu verlieren, entsetzlich schien. Der Bruch wurde nach einer langen Unterredung gekittet und Stapleton lud uns am nächsten Freitag zum Essen ein.

Trotz allem war ab diesem Zeitpunkt das Grundvertrauen erst einmal erschüttert. Somit ist nun eines unserer Rätsel gelöst. Doch nun gilt es noch, das nächtliche Schluchzen zu verfolgen. Dazu saßen wir am nächsten Abend in Sir Henrys Zimmer, schraubten die Lampe hinunter und harrten in der nächtlichen Stille aus. So muss sich ein Jäger fühlen, während er auf sein Wild wartet.

Die Uhr schlug eins, dann zwei und als wir fast die Hoffnung aufgegeben hatten, schreckten wir hoch. Vom Korridor kommend, hatten wir das Knarren eines Schrittes vernommen. Als die Person sich vorbeigestohlen hatte, öffnete Sir Henry die Tür und wir nahmen die Verfolgung auf. Lautlos bewegten wir uns vorwärts, bis wir die schwarzbärtige, hagere Gestalt sahen. Das Kerzenlicht strahlte einen Moment lang seine Umrisse an, warf einen gelben Strahl quer durch den Korridor, bevor Barrymore in der Türe verschwand.

Wir hatten keinen genauen Plan, doch der Baronet nahm wie immer den direkten Weg. Er betrat das Zimmer. Barrymore blickte uns entsetzt staunend an und sprang vom Fenster zurück. Sir Henry stellte ihn zur Rede. Barrymore versuchte es mit Ausreden. Währenddessen hielt ich die Kerze weiterhin zum Fenster hinaus. Was, wenn er sie als Signal benutzt hatte, fragte ich mich? Und ich hatte recht. Nach kurzer Zeit durchbrach ein winziger heller Punkt die Nacht und leuchtete ruhig in unsere Richtung. Und als ich mein Licht wieder bewegte, bewegte das andere sich auch. Sir Henry wollte unbedingt eine Antwort von Barrymore. Doch der sperrte sich.

Da mischte sich seine Frau ein. Sie war noch blasser als ihr Mann. Sie gestand, dass der Unbekannte, da draußen im Moor, ihr Bruder sei. Es sei kein Geringerer als der entlaufene Sträfling, der Verbrecher Selden. Wir konnten es kaum glauben, dass diese anständige Frau dasselbe Blut in sich haben sollte wie einer der schlimmsten Verbrecher dieses Landes.

Sir Henry schickte die Barrymores ins Bett und bat um eine Unterredung am nächsten Morgen. Als sie außer Reichweite waren, nahm er all seinen Mut zusammen und rief: "Watson, bei Gott, ich gehe jetzt los, diesen Mann zu fassen!"

Ich hatte denselben Gedanken gehabt und war ebenfalls der Meinung, dass wir damit nur unsere Pflicht erfüllten, um ihn unschädlich zu machen. Man stelle sich vor, der Schurke würde die Stapletons überfallen, nicht auszudenken. So schnappten wir Revolver, Reitpeitsche und eilten zum Moor.

Die unheimliche Stimmung steigerte sich noch, als aus der Finsternis des Moors wieder dieser sonderbare Ton kam. Ein tiefes, langes Murmeln, ein Aufheulen und am Ende dieses traurige Seufzen, in dem der Ton dahinstarb. Er erklang mehrmals. Sir Henry packte mich ergriffen am Ärmel und es war uns klar, dass so nur der Bluthund von Baskerville tönen konnte. So sagten zumindest die Menschen dieser Gegend. Unser Freund bekam es gehörig mit der Angst zu tun. Seine Hand war kalt wie Marmor.

Trotzdem gingen wir weiter. Nur langsam kamen wir voran, immer den Punkt des gelben Lichtscheins vor uns. Als wir endlich bei der Kerze ankamen, kauerten wir uns hinter den Granitblock, um das Signal besser sehen zu können. Ein sonderbarer Anblick, diese einsame Kerze, mitten im Moor. Wir warteten.

Nahezu gleichzeitig erblickten wir ihn. Über die Felsen, in deren Ausbuchtung ein Licht brannte, erkannten wir ein böses, fahlgelbes Gesicht. Ein grausames, tierisches Gesicht, zerfurcht von niedrigen Leidenschaften. Der Mann konnte ebenso einer jener prähistorischen Wilden sein, die die Höhlen hier bewohnt hatten.

Der Kerl hatte auf jeden Fall Verdacht geschöpft. Er musste erkannt haben, dass es nicht Barrymore war, der ihm entgegenkam. Jedenfalls las ich deutliche Angst in seinem furchterregenden Gesicht. Sir Henry und ich, wir sprangen im gleichen Moment auf; der Sträfling schrie uns einen wilden Fluch zu und flüchtete. Wir verfolgten ihn, konnten diese kleine gedrungene Gestalt jedoch nicht einholen, obwohl wir gute Läufer waren. Schweratmend beobachteten wir vom Felsen aus, wie er endgültig in der Ferne verschwand.

Gerade hatten wir die Verfolgung als hoffnungslos aufgegeben, als wir im Mondlicht zu unserer Rechten Umrisse ausmachten. Schwarz, wie eine Statue aus Ebenholz, erkannten wir eine männliche Gestalt vor leuchtendem Hintergrund. Es war die Gestalt eines großen, schlanken Mannes und er war keine Sinnestäuschung. Vor allem war es keinesfalls der Sträfling.

Mit einem Ausruf des Erstaunens wollte ich Sir Henry die Gestalt zeigen, doch der Mann war nicht mehr zu sehen. Eigentlich wäre ich gerne zu dieser Felsspitze hingegangen, doch die Nerven des Baronets waren inzwischen sehr angegriffen. Er tat die Gestalt als vermeintlichen Gefängniswärter ab, von denen es im Moor zurzeit ja nur so wimmeln würde. So setzen wir uns heute mit Princetown in Verbindung und sagen ihnen, wo sie ihren Pflegling suchen sollen. Schade, ich hätte ihn gerne selbst übergeben.

Wahrscheinlich habe ich Ihnen viel Unwichtiges geschrieben, doch überlasse ich Ihnen, was davon Ihnen am zweckdienlichsten scheint. Ziehen Sie also Ihre eigenen Schlüsse. Die Handlungsweise der Barrymores ist auf jeden Fall klarer für uns geworden. Doch das Moor mit seinen finsteren Geheimnissen bleibt unergründlich. Am besten wäre es natürlich, wenn Sie persönlich kommen könnten.

 

 

 

11. Eine neue Spur

Auszüge aus meinem Tagebuch.

16. Oktober

Heute ist ein trüber, nebliger Tag mit andauerndem Nieselregen. Eine melancholische Stimmung durchzieht unser Haus. Nach den Aufregungen der vergangenen Nacht lässt die Laune des Barons zu wünschen übrig. Mir selbst ist schwer ums Herz und ich fühle die drohende Gefahr, die uns umgibt. Es ist beklemmend.

Aufgrund der Zwischenfälle könnte man meinen, dass eine unheimliche Macht um uns herum regiert. Das unglaubliche Heulen des Bluthundes, seine Fußspuren in gespenstischer Größe … Trotzdem behält meine Eigenschaft des gesunden Menschenverstands die Oberhand und ich kann an diese dubiosen Kräfte nicht glauben.

Wo sollte so ein riesiger Bluthund denn Nahrung finden auf dem Moor und weshalb sieht man ihn nie bei Tag? Außerdem waren in London - der Mann in der Kutsche - auf jeden Fall menschliche Kräfte im Spiel. Aber hatte dieser Mann nun Sir Henry gewarnt, wie ein Freund - oder war es das Werk eines Feindes? Womöglich war es der Fremde, den ich auf der Felsenspitze erblickt habe?

Wir werden also immer noch von einem Fremden verfolgt, den wir nie abschütteln konnten. Diesen Mann muss ich unbedingt finden. Zuerst wollte ich Sir Henry an meinen Gedanken teilhaben lassen. Doch dann beschloss ich, auf eigene Faust zu handeln und möglichst wenig darüber zu sprechen. Sir Henry war seit der letzten Nacht nervlich wenig stabil.

Heute Morgen bat Sir Henry seinen Butler um eine Unterredung. Barrymore war erst einige Minuten in der Bibliothek, als der Baronet mich hinzurief. Barrymore monierte, dass wir seinen Schwager, Herrn Selden, gejagt hätten. Er versicherte uns, dass Selden in wenigen Tagen auf einem Schiff nach Südamerika unterwegs wäre. Wir sollten ihm doch noch einige Tage Zeit geben, dann wäre die Sache erledigt. Bis dahin, so versicherte er uns, würde dieser Selden sicher keinem Menschen was zuleide tun. Schließlich wäre er dann ja endgültig verloren.

Das leuchtete uns ein und Sir Henry versprach, in dieser Sache nun doch nicht die Polizei einzuschalten. "Ich kann mich nicht entschließen, diesen Schurken anzuzeigen. Barrymore, sie können jetzt gehen", schloss Sir Henry die Unterredung.

Barrymore zögerte, bevor er noch einmal zu seinem Dienstherren zurückging. "Sir Henry, Sie waren bisher so gut zu uns. Ich weiß etwas und hätte es gewiss früher mitteilen müssen. Es bezieht sich auf den Tod von Sir Charles."

Sir Henry und ich schnellten gleichzeitig auf. Da berichtete der Butler, dass er wisse, auf wen Sir Charles gewartet hatte in jener Nacht.

"Er hatte eine Verabredung mit einer Frau. Ich weiß nicht, wie sie heißt, aber die Anfangsbuchstaben ihres Namens lauten L. L. Ich weiß das, weil meine Frau beim Aufräumen des Arbeitszimmers auf einen halb verbrannten Brief im Kamin gestoßen ist. Sie zog den letzten, nicht verkohlten Streifen heraus und zeigte ihn mir. Darauf stand: Bitte, da Sie ein Gentleman sind, verbrennen Sie diesen Brief und seien Sie um 10.00 Uhr am Tor. Leider zerfiel dieser Streifen alsbald zu Asche und ich kann ihn Ihnen nicht mehr zeigen. Der Brief war von Coombe Tracy gekommen und von Frauenhand geschrieben."

"Danke Barrymore, Sie können gehen", sagte Sir Henry aufgewühlt.

Und nun überlegen wir, wer L. L. denn sein könnte. Dann nämlich würde sich die ganze Sache aufklären. Diese Nachricht wird Holmes sicher dazu bewegen, endlich herzukommen und die Sache selbst zu erforschen. Doch die Berichte aus der Baker Street waren in letzter Zeit spärlich, was darauf schließen lässt, dass Holmes in London sehr beschäftigt ist. Trotzdem müsste dieser neue Aspekt in der Angelegenheit seine berühmte Spürnase zum Leben erwecken und ich wünschte, er wäre schon hier

 

 

 

12. Die geheimnisvolle L. L.

Auszug aus meinem Tagebuch

17. Oktober

Wieder hat es den ganzen Tag geregnet. Ich denke an den Sträfling, der da draußen im kalten Moor herumirrt. Irgendwie tut er mir leid.

Am späten Nachmittag zog ich meinen Regenmantel über und wagte mich ins Moor. Ich wanderte weit hinaus, der Regen schlug mir ins Gesicht und der Wind peitschte um meine Ohren. Ich stieg auf den schwarzen Felsen, auf dem ich die einsame Gestalt gesehen hatte. Von dort sah ich ins trostlose Moor hinab, erkannte in der Mulde die zwei schmalen Türme von Baskerville Hall. Eingehüllt in Nebel ragten sie über die Bäume empor. Sie waren die einzigen Zeugen menschlicher Anwesenheit weit und breit. Ansonsten erblickte ich lediglich die vorgeschichtlichen Wohnstätten auf den Abhängen. Den einsamen Fremden, den ich vor zwei Nächten an dieser Stelle gesehen hatte, konnte ich nicht ausmachen.

Auf dem Heimweg fuhr Dr. Mortimer mit seinem kleinen Wägelchen an mir vorüber. Er hielt an, und bestand darauf, mich nach Hause zu bringen. Er erzählte mir, dass er seinen kleinen Spaniel vermisste, der aufs Moor hinausgelaufen und nicht wiedergekommen war. Ich tröstete ihn, dachte aber gleichzeitig an das Pony, das vor meinen Augen ertrunken war; wahrscheinlich wird er seinen kleinen Hund nie wieder sehen.

Ich nutzte die günstige Gelegenheit, Dr. Mortimer über seine Nachbarn auszufragen. Unter anderem fragte ich, ob er sich an eine Frau oder ein Mädchen erinnern könne, dessen Name mit L. L. beginne. Nach kurzer Überlegung fiel ihm die Tochter des alten Falkland ein. Eine gewisse Laura Lyons, die in Coombe Tracey lebe. Als ich fragte, ob er Näheres über sie wisse, antwortete er: "Aber ja. Sie heiratete gegen den Willen ihres Vaters einen Maler von dem sich später herausstellte, dass er ein Lump war. Er verließ sie. Ihr Vater wollte nichts mehr mit ihr zu tun haben, unterstützte sie mit dem Nötigsten, was allerdings kaum reichte. Deshalb trugen Stapleton, Sir Charles und auch ich ein Scherflein dazu bei, dass die junge Dame wieder Fuß fasste. Sie kaufte von unserem Geld eine Schreibmaschine und lebt seitdem von Schreibarbeiten. Weshalb fragen Sie?"

Ich verstand es rechtzeitig, Dr. Mortimers Neugierde abzulenken, indem ich ihn einige wissenschaftliche Fragen stellte. Unser Freund speiste dann noch bei uns in Baskerville Hall, um anschließend mit Sir Henry Ecarté zu spielen. Ich ließ mir von Barrymore in der Bibliothek einen Kaffee servieren.

"Wie geht es denn Ihrem ehrenwerten Schwager", fragte ich ihn, "macht er immer noch das Moor unsicher oder ist er schon auf dem Weg in die Ferne?"

"Ich weiß es nicht. Ich hoffe zu Gott, dass er fort ist. Nichts als Ungelegenheiten hat er uns gemacht. Vor drei Tagen habe ich ihm das letzte Mal zu Essen gebracht, aber seitdem habe ich nichts mehr von ihm gehört. Das Essen hat er geholt, vermute ich; außer der Andere hat es eingeheimst."

"Sie wissen, dass noch ein anderer Mann im Moor ist?"

"Aber ja. Selden erzählte mir vor einer Woche von ihm. Doch der andere verfolge wohl seine eigenen Absichten. Es soll wohl ein feiner Herr sein, aber was er vorhabe, konnte er nicht herausfinden. Nur, dass ein Junge für ihn arbeitet und ihm alles besorgt. Wahrscheinlich bringt der ihm das Essen von Coombe Tracey."

"Danke, Barrymore. Gelegentlich sprechen wir wieder darüber."

Gedankenverloren ging ich zum Fenster. Eine böse Nacht hier drinnen - wie musste man sich da erst im Moor fühlen. Da muss schon ein tiefer Hass in einem stecken, um einen Mann in dieser Jahreszeit an einem solchen Ort zu halten. In jener Hütte im Moor scheint mir der Kern des Problems zu liegen. Ich schwöre, dass ich all meine Kraft einsetzen werde, diesem Geheimnis auf den Grund zu kommen.

 

 

 

13. Die düstere Hütte

Ab dem 18. Oktober näherten sich die seltsamen Ereignisse schnell ihrem schrecklichen Ende. Nach den Ermittlungen der vergangenen Tage müsste es mir schon an Entschlossenheit oder Verstand fehlen, wenn ich nicht einen Ausweg aus diesem finsteren Durcheinander finden würde.

Weil Dr. Mortimer bis lange in die Nacht hinein beim Baronet verweilte, konnte ich Sir Henry erst am nächsten Morgen von meiner Entdeckung berichten. Ich fragte ihn, ob er mit wolle nach Coombe Tracey. Nach reiflicher Überlegung kam er zu dem Schluss, dass es unauffälliger wäre, wenn ich alleine fuhr. So verließ ich Sir Henry schlechten Gewissens und fuhr dem neuen Abenteuer entgegen.

In Coombe Tracey befahl ich Perkins, die Pferde einzustellen. Dann suchte ich nach Mrs. Lyons. Es war nicht schwer, ihre Wohnung ausfindig zu machen, denn sie lag mitten in dem kleinen Ort. Die Wohnung war hübsch eingerichtet und das Dienstmädchen ließ mich ohne weitere Fragen ins Wohnzimmer. Mrs. Lyons saß vor einer Remington-Schreibmaschine und sprang erfreut auf, als Besuch eintrat. Doch ihr freundlicher Gesichtsausdruck verschwand, als sie einen Unbekannten erblickte.

Mrs. Lyons war von außerordentlicher Schönheit. Sie fragte nach dem Grund meines Besuches. Mein erster Eindruck war wie gesagt, dass sie unglaublich schön war. Auf den zweiten Blick jedoch lag in ihrem Gesicht irgendetwas Unangenehmes, eine gewisse Gewöhnlichkeit - kurz, ihre Züge waren nicht vollkommen. Nun empfand ich meine Aufgabe als sehr heikel.

Nach einem holprigen Einstieg ins Gespräch kam ich gleich zum Punkt: "Mein Besuch bei Ihnen betrifft den verstorbenen Sir Charles Baskerville."

Mrs. Lyons errötete und blickte mich abwartend an. Ich fragte sie, in welcher Beziehung sie zu Sir Charles gestanden hätte? Zuerst leugnete sie jegliche Verbundenheit, später dann, gab sie zu, dass sie mehrmals an Sir Charles geschrieben hatte - Dankesbriefe. Nachdem ich die Dame unter Druck gesetzt habe, gab sie zu, am Todestag von Sir Charles sich mit ihm verabredet zu haben. Sie wäre jedoch nicht zu diesem Zeitpunkt an besagtem Ort erschienen.

Ich bat sie, mir ihr Anliegen genauer zu beschreiben. Nach erhöhtem Drängen erklärte sie: "Sie kennen bestimmt die Geschichte meiner freudlosen Ehe. Ich werde immer noch unaufhörlich von meinem Ehemann, den ich verachte, verfolgt. Er will mich zwingen, wieder zu ihm zurückzukommen. Sir Charles wollte ich um eine Summe Geld bitten, die mir dazu verhelfen konnte, meine Freiheit wieder zu erlangen - ich hatte da von einer Möglichkeit erfahren. Dies hätte Glück und Selbstachtung für mich bedeutet. Und weil ich dann von anderer Seite Hilfe erhielt, bin ich zu dem Treffen mit Sir Charles gar nicht erst hingegangen."

Ich wog die neuen Informationen ab. Es wäre unlogisch, wenn sie lediglich behaupten würde, nicht in Baskerville Hall gewesen zu sein. Hätte sie doch einen Wagen dazu gebraucht, was sicher aufgefallen wäre. Also sprach sie vermutlich die Wahrheit. So verließ ich Coombe Tracey enttäuscht und entmutigt.

Je mehr ich allerdings an Mrs. Lyons dachte, an ihr Benehmen und ihr Gesicht, desto mehr war ich mir sicher, dass sie mir Informationen vorenthalten hatte. Weshalb war sie so bleich geworden? Warum war sie so wortkarg und zur Zeit des Verbrechens so schweigsam geblieben? Sie wollte mir dies auf eine unschuldige Art und Weise erklären, die mir nicht einleuchten will.

Im Moment konnte ich meine Ermittlungen nicht in dieser Richtung weiterführen sondern musste mich auf die Steinhütten konzentrieren. Meine Nachforschungen mussten an der Stelle beginnen, an der ich den unbekannten Mann beobachtet hatte. Falls ich ihn an dieser Stelle wieder treffen sollte, würde ich ihn mit vorgehaltenem Revolver zwingen, seine Identität preiszugeben; mir zu sagen, woher er kam und wer er sei. Das wäre ein großer Triumph für mich, denn immerhin war dieser Mann in London sogar Sherlock Holmes entwischt.

Unterwegs traf ich auf Mr. Frankland, der mit roten Wangen vor seiner Gartentür stand, als ich vorüberfuhr. Er grüßte mich ungewöhnlich gut gelaunt und lud mich auf ein Glas Wein ein. Ich mochte ihn nicht besonders, vor allem seit ich wusste, wie er mit seiner Tochter umgegangen war. Trotzdem war es mir eine willkommene Möglichkeit, Perkins mit dem Wagen nach Hause zu schicken. "Richten Sie Sir Henry aus, dass ich rechtzeitig zum Abendessen da sein werde", rief ich ihm nach. Dann folgte ich Frankland ins Haus.

Er erzählte mir, dass er einen neuen Sieg vor Gericht erlangt hätte und dies gelte es jetzt, zu feiern. Auch wenn er angeblich keinen eigenen Vorteil aus diesem Sieg gewann, hätte er hiermit sein Pflichtgefühl gegenüber der öffentlichen Gemeinschaft zu erkennen gegeben. Wir plauderten eine Weile, da sagte der grauhaarige Mann mit verschmitztem Gesicht: "Ich könnte Ihnen was sagen, das sie zu gern wüssten; aber mich wird nichts dazu bringen, diesen Halunken zu helfen."

Eigentlich wäre ich diesem Geschwätz gerne entgangen, doch andererseits empfand ich Neugierde. Inzwischen kannte ich die widerborstige Art des alten Frankland gut genug, um zu wissen, dass ich mit Interesse nicht weiterkam. Deshalb legte ich eine gelangweilte Gleichgültigkeit an den Tag, die den alten Mann reizte. Und tatsächlich ließ sein Redefluss nicht lange auf sich warten.

Er erzählte von dem Jungen, den er ständig beobachte. Der würde bestimmt dem Sträfling Nahrung ins Moor bringen. Die Polizei hielt er für einfältig, weil sie die Spur nie verfolgt hätten. Aber er, er beobachte den Jungen täglich, wie er aufs Moor ging

Immer wenn ich Mr. Frankland widersprach, rückte er mit neuen Informationen raus. Während wir so diskutierten, blickten wir aufs Moor und der Alte sah tatsächlich den Jungen. Schnell zeigte er mir die zerlumpte Gestalt durch das Fernrohr. Der Bursche blickte schüchtern um sich, als hätte er Angst, verfolgt zu werden. Dann verschwand er jenseits des Hügels.

Mr. Frankland triumphierte und verlangte wichtigtuerisch absolute Verschwiegenheit. Die versprach ich ihm natürlich. Dann verabschiedete ich mich, obwohl mein Gastgeber mich sehr drängte, die Karaffe mit ihm zu leeren.

Solange ich mich von ihm beobachtet fühlte, ging ich die Straße entlang. Später bog ich vom Weg ab ins Moor und ging dem Jungen nach. Ich schwor mir, dass ich keine Möglichkeit ungenutzt lassen würde. Als ich den Hügel erreichte, hinter dem der Junge verschwunden war, ging die Sonne gerade unter. Auf den Abhängen zu meinen Füßen gab es keinen Laut, nichts regte sich. Auch von dem Jungen war keine Spur zu sehen. Aber unter mir entdeckte ich alte Steinhütten in einem Kreis. Und eine davon hatte noch ein Dach, das gut genug war, um Schutz gegen Regen und Wind zu bieten. Mein Herz klopfte nicht, es raste. Dies musste der Bau sein, den ich suchte.

Ich näherte mich der Hütte und stellte fest, dass sie wirklich bewohnt war. Ein Trampelpfad, kaum erkennbar, führte zum verfallenen Eingang. Drinnen war alles still. Meine Nerven waren zum Zerreißen gespannt. Mit vorgehaltenem Revolver ging ich in die Hütte hinein. Sie war leer. Aber ich war auf der richtigen Spur. Der Fremde musste hier wohnen. Eingewickelt in einen Regenmantel lagen einige Wolldecken auf einer Steinplatte. Auf dem Herd lag ein Häuflein Asche und daneben lagen einige leere Konservenbüchsen, die bewiesen, dass hier längere Zeit jemand gelebt hatte.

Mitten im Raum stand ein flacher Stein, der wohl als Tisch diente. Darauf lag dasselbe Bündel, das der Junge bei sich hatte. Es enthielt einen Laib Brot, eine Dose mit Wurst und eine andere mit eingemachten Pfirsichen. Als ich alles wieder hinlegte, entdeckte ich den Zettel, mit folgenden Worten: Dr. Watson ist nach Coombe Tracey gefahren.

Einen Moment hielt ich inne. Was hatte diese Botschaft zu bedeuten? Wurde gar ich verfolgt und nicht Sir Henry? Ich sah mich um, konnte aber keine anderen Zettel entdecken. Auch gab es sonst keine Zeichen, welche mich über die Absichten und das Wesen des Mannes, der hier lebte, aufgeklärt hätten. Eines war jedoch sicher, er hatte wenig Sinn für bequeme Häuslichkeit. Und wenn ich an die Regengüsse der vergangenen Tage dachte, dann musste dieser Mensch über eine unerschütterliche Willenskraft verfügen.

Egal, ob Feind oder Freund - ich schwor mir, die Hütte erst dann zu verlassen, wenn ich das Geheimnis des Fremden ergründet hatte. Draußen ging die Sonne unter, der westliche Himmel schimmerte Rot und Gold. Man konnte die Türme von Baskerville Hall erkennen und die schwache Rauchsäule des Ortes Grimpen. Dazwischen lag das Haus der Stapletons.

Leider fühlte meine Seele nichts von diesem Frieden der Natur, sie bebte. Mit angespannten Nerven wartete ich entschlossen auf den Bewohner dieser düsteren Hütte. Endlich hörte ich Schritte. Es war der Klang harter Tritte auf felsigem Boden. Ich verdrückte mich mit meinem Revolver in der Hand in die dunkelste Ecke; entschlossen, meine Anwesenheit erst dann zu verraten, wenn ich den Fremden erkannt hätte. Jetzt fiel sein Schatten über den Eingang.

"Ein wunderbarer Abend, lieber Watson", ertönte eine wohl bekannte Stimme. "Meinen Sie nicht, dass es sich hier draußen besser sitzen ließe als drinnen!"

 

 

 

14. Sherlock Holmes, höchstpersönlich

Sekundenlang verschlug es mir den Atem. Als ich wieder zu mir selbst fand, fiel eine drückende Last der Verantwortung von meinen Schultern. Diese ironische, kühle, schneidende Stimme konnte auf der ganzen Welt nur einem Mann gehören. Ich bückte mich, um durch den roh behauenen Türsturz heraustreten zu können.

"Holmes!", rief ich. Er saß tatsächlich vor der Hütte auf einem Stein. Seine grauen Augen funkelten vergnügt, als er mein verblüfftes Gesicht betrachtete. Abgemagert und ausgemergelt wirkte er, aber dennoch gesund und frisch. Sein scharfkantiges Gesicht war sonnengebräunt und windgegerbt. In seiner Kleidung konnte er als gewöhnlicher Moortourist durchgehen. Sein Kinn war glatt rasiert und sein Hemd so reinlich, als wäre er in seiner Wohnung in der Baker Street.

"Noch nie habe ich mich über den Anblick eines Menschen so gefreut!", rief ich und schüttelte ihm die Hand. Holmes wollte wissen, wie ich seinen kleinen Schlupfwinkel entdeckt hatte. "Hielten Sie mich wirklich für diesen Verbrecher, Watson?"

"Nein. Dennoch wusste ich nicht, wer hier hauste. Aber ich war fest entschlossen, es herauszufinden."

Holmes lobte mich. Gleichzeitig gab er zu, in der Nacht, als wir Jagd auf den Sträfling gemacht hatten, unvorsichtig gewesen zu sein. Nur deshalb hatte ich ihn im Mondlicht sehen können. Ich erklärte ihm, dass wir zudem den Jungen beobachtet hätten, der ihm Essen gebracht hatte.

Er erklärte mir, dass er diesen Boten, Cartwright, aus London mitgebracht hätte. Und natürlich hatte er bereits bemerkt, dass er durch Mr. Falklands Fernrohr beobachtet worden war. Besonders freute er sich darüber, dass ich in Coombe Tracey gewesen war, bei Mrs. Laura Lyons.

Trotzdem war ich ein wenig verschnupft darüber, dass Holmes mich nicht ins Vertrauen gezogen hatte. Das hatte ich wirklich nicht verdient. Er jedoch versicherte mir, dass ich ihm gerade deshalb unschätzbare Dienste erwiesen hätte. Außerdem hatte ihn die Erkenntnis, in welcher Gefahr ich schwebte, dazu bewogen, ins Moor zu kommen, um die Sache mit eigenen Augen zu sehen.

"Aber meine Berichte, ich hatte mir solche Mühe gegeben." Während ich das sagte, zog Holmes die zerlesenen Papiere gebündelt hervor. Er hatte sie sich nachschicken lassen und war mit nur einem Tag Verspätung immer aufs Neueste informiert. Er lobte mich noch einmal, ob meines Eifers und meiner Geschicklichkeit in diesem außerordentlich verzwickten Fall.

Dann musste ich Holmes von meinem Besuch bei Laura Lyons berichten. Es interessierte ihn so sehr, dass ich meine Ausführungen mehrmals wiederholen musste, bis er sich zufriedengab. Er erklärte: "Wissen Sie, Watson, Ihre Informationen füllen eine Lücke aus, die ich bisher nicht einordnen konnte. Vielleicht ist Ihnen bereits bekannt, dass Mrs. Lyons und Stapleton in einer innigen Vertraulichkeit zueinanderstehen?"

Ich verneinte und ließ mir von Holmes seine Erkenntnisse erzählen. Er hoffte, sein neues Wissen dazu benutzen zu können, Stapletons Frau von ihm zu lösen … Verblüfft fragte ich: "Stapletons Frau?"

"Ja, das ist Ihnen neu, nicht wahr? Die Dame, die alle hier für Stapletons Schwester halten, ist in Wirklichkeit seine Gattin."

Ich staunte nicht schlecht, und fragte sogleich, woher er das denn wissen wollte. Holmes hatte die Antwort schon parat. "Bei Ihrer ersten Begegnung hat Stapleton sich derart vergessen, dass er Ihnen eine wahre Begebenheit aus seinem Leben erzählte. Sicherlich hat er das schon oft bereut. Sie erinnern sich - er war Direktor an einer Schule in Nordengland. Es war für mich leicht, kleine Nachforschungen über ihn anzustellen. Dabei stellte sich heraus, dass seine Schule unter ungeheuerlichen Umständen zugrunde gegangen war und dass er mit seiner Frau verschwunden ist. Die Namen lauteten anders, aber die Beschreibung der beiden passte haargenau. Außerdem wurde mir berichtet, dass der flüchtige Lehrer sich besonders für Schmetterlingskunde interessierte. Da gab es keine Zweifel mehr."

"Wenn seine angebliche Schwester in Wahrheit seine Frau ist, was will er dann mit Mrs. Lyons?"

"Tja, das ist eine gute Frage. Wahrscheinlich will Mrs. Lyons sich scheiden lassen und erhofft sich, dass Stapleton - den sie für einen Junggesellen hält - sie heiraten wird."

Wir beschlossen, dass wir am nächsten Morgen als Erstes gemeinsam Mrs. Laura Lyons aufsuchen würden. Dann schickte Holmes mich zu Sir Henry. Ihn hatte ich nun wahrlich fast schon zu lange alleine gelassen.

Nächtliches Dunkel lag über dem Moor, nur wenige schwache Sterne funkelten am Himmel. Ich erhob mich. "Eine letzte Frage noch, Holmes. Wir haben doch keine Geheimnisse voreinander, oder? Was bedeutet dies alles. Welchen Zweck verfolgt der Mörder?"

Holmes flüsterte: "Es ist kaltblütiger, abgefeimter Mord. Meine Netze ziehen sich langsam um ihn herum zusammen, dank Ihrer Hilfe. Ein Tag, höchstens zwei, dann habe ich meine Ermittlungen abgeschlossen. Bis dahin müssen sie über Sir Henry wachen, wie eine Mutter bei ihrem kranken Kind. Ihr Tagwerk heute war berechtigt, trotzdem wünschte ich, Sie wären bei ihm geblieben. Hören Sie!"

 

 

 

15. Noch ein Mord"

Ein furchterregender Schrei drang aus dem schweigenden finsteren Moor herüber. Dieser fürchterliche Laut ließ mir das Blut in den Adern gefrieren. Holmes war aufgesprungen. Ich sah die dunklen Umrisse seiner athletischen Figur in der Türöffnung. Die Schulter gebeugt, den Kopf gereckt, suchte er mit scharfem Blick die Finsternis zu durchdringen.

Der Schrei war mit ungeheurer Gewalt ausgestoßen worden. Irgendwo aus der Ebene war er gekommen. Jetzt drang ein neuer Schrei zu uns herüber - er war näher und durchdringender als der Erste. Wir versuchten herauszubekommen, aus welcher Richtung er kam. Holmes, der ein Mann aus Stahl und Eisen war, war bis ins Tiefste seiner Seele erschüttert. "Wo ist es, Watson?"

Noch einmal durchbrach ein verzweifelter Schrei die Stille, lauter und näher als vorhin. Diesmal tönte ein neuer Klang mit, erst tiefes Gemurmel, dann klangvoll und trotzdem drohend, steigend und fallend wie das unablässige Brausen des Meeres. "Der Hund!", schrie Holmes. "Schnell, Watson, voran! Um Gottes Willen - wenn wir zu spät kämen!"

Wir eilten los, so schnell wir konnten. Plötzlich kam aus dem Moor ein letzter, verzweifelter Schrei, dem ein dumpfer, wuchtiger Fall folgte. Wir horchten entsetzt auf. Kein Laut durchbrach mehr die tiefe Stille.

Achtlos liefen wir durch die Nacht; wir stolperten über Felsbrocken, zwängten uns durchs Gebüsch, stürzten keuchend den Hügel hinauf und Abhänge wieder hinunter. Ständig in die Richtung, aus der wir die schrecklichen Schreie hörten. Jedes Mal, wenn wir eine Anhöhe erreicht hatten, blieb Holmes gespannt stehen und horchte.

Dann sahen wir ihn, nachdem wir ein leises Stöhnen vernommen hatten. Es war zu unserer Linken. Hier verlief ein Grat in eine steile Wand aus, die einen Abhang überragte. Auf diesem unebenen Grund sahen wir ihn liegen. Einen Mann mit abwärts gewandtem Gesicht. Sein Körper lag fürchterlich verwinkelt da. Kein Laut ging mehr von der finsteren Gestalt aus, über die wir uns beugten. Holmes entzündete ein Streichholz, dessen Schein seine blutbeschmierten Finger und die grauenvolle Blutlache unter dem zertrümmerten Schädel des Opfers zeigte. Bei näherem Hinsehen schmerzten unsere Herzen vor Kummer: die Leiche von Sir Henry Baskerville.

Es gab keinen Zweifel, denn keiner von uns hatte den sonderbaren rötlichen Tweedanzug vergessen, den Sir Henry bei unserem ersten Termin in der Baker Street getragen hatte. Holmes stöhnte; sein Antlitz schimmerte blass durch die finstere Stille. Ich schrie: "Diese Bestie! Ich werde es mir nie verzeihen, ihn seinem Schicksal überlassen zu haben."

"Oh, Watson! Wegen des Falles setzte ich das Leben meines Schützlings aufs Spiel. Dies ist der härteste Schlag meiner bisherigen Laufbahn. Doch - wer konnte ahnen, dass Sir Henry, trotz aller Warnungen, alleine aufs Moor gehen würde?"

Voll Bitterkeit im Herzen, standen wir neben dem zerschmetterten Leichnam. Als der Mond aufging, stiegen wir auf die Anhöhe, von der unser Freund herabgestürzt war. Wir blickten umher. Weit entfernt, in Richtung Grimpen, schimmerte ein gelbes Licht. Das konnte nur aus dem Haus der Stapletons kommen. Fluchend schüttelte ich die Fäuste in diese Richtung.

Dann holte uns die Vernunft ein. Uns war klar, dass dieser Kerl über alle Maßen vorsichtig und schlau war. Deshalb beließen wir es dabei und es blieb uns nur noch, unserem armen Freund die letzten Dienste zu erweisen. Wir stiegen wieder hinab; diesmal rührte der Anblick des Toten mich so sehr, dass mir die Tränen kamen.

Holmes hatte sich über den Leichnam gebeugt und gleich darauf einen Schrei ausgestoßen. Jetzt sprang er herum, lachte und schüttelte mir die Hand. Ich wunderte mich über meinen sonst ruhigen und bedachten Freund. Er rief: "Er hat einen Bart! Der Mann hat einen Bart! Es ist nicht der Baronet, wahrhaftig - es ist der Sträfling!"

Hastig drehten wir den Toten um; sein zotteliger Bart streckte sich zum Himmel, dem klaren Mondlicht entgegen. Kein Zweifel - die vorspringende Stirn, eingesunkene, tierische Augen … es war der Verbrecher Selden. Ich erinnerte mich, dass Sir Henry seine alten Anzüge Barrymore geschenkt hatte. Der wiederum hatte sie an Selden weitergegeben, für die Flucht. Es war zwar immer noch eine Tragödie - doch von Rechts wegen war dieser Mann eh zum Tode verurteilt gewesen.

Noch etwas - uns war schnell klar, dass der Bluthund auf die Kleidung von Sir Henry abgerichtet war. Wahrscheinlich auf den Schuh, der Sir Henry im Hotel in London abhandengekommen war.

Während wir überlegten, was wir mit der Leiche dieses armen Schurken machen sollten, kam jemand in unsere Richtung. Holmes rief: "Watson, was ist das? Unser Mann, höchstpersönlich. Unglaublich, das ist geradezu frech. Sie dürfen jetzt kein Wort von unserem Verdacht verlauten lassen."

Bald war Stapleton in unserer Nähe. Er hielt kurz inne, als er uns erblickte, kam dann aber rasch auf uns zu. Sogleich fragte er, was wir in dieser Finsternis auf dem Moor zu finden hofften. Dann erblickte er den Leichnam und rief: "Du lieber Himmel, das wird doch nicht unser Freund, Sir Henry sein?"

"Aber nein, es ist Selden, der entlaufene Sträfling aus Princetown."

Stapleton wurde blass und blickte mich an - im nächsten Moment hatte er mit äußerster Anstrengung seine Fassung wiedererlangt. Er schaute Holmes und mich forschend an und fragte nach, was denn geschehen sei. Wir erzählten von dem Schrei, dem wir nachgegangen waren, als wir auf einem Spaziergang im Moor verweilten.

Er antwortete: "Ich hörte den Schrei ebenfalls und kam deshalb hierher. Ich war beunruhigt, weil Sir Henry den Abend bei uns verbringen wollte und noch nicht eingetroffen war. Ich machte mir Sorgen." Dann fragte Stapleton uns, ob wir Geräusche gehört hätten, die zu den Geschichten passten, die die Bauern sich hier in der Gegend erzählten. Geräusche von einem Geisterhund oder so etwas.

"Nein, nein", beruhigte ich ihn. "Wahrscheinlich hatte dieser Schurke Angst, entdeckt zu werden, ist dabei abgestürzt und hat sich das Genick gebrochen."

Das kam Stapleton ebenfalls sehr glaubhaft vor. Daraufhin wollte er Holmes Meinung hören, der desgleichen versicherte, dass die Erklärung seines Freundes die einzig Wahre sein könne. Auf jeden Fall, so versicherte er uns, nähme er am nächsten Tag eine unerfreuliche Erinnerung mit nach London.

"Ach, Sie verlassen uns schon wieder?", fragte Stapleton.

Holmes wiederholte, dass dies seine Absicht sei und meinte: "Leider hat man nicht immer den Erfolg, den man sich anhand der Nachforschungen erhofft. Nachforschungen benötigen Tatsachen, nicht Märchen und Gerüchte. Bedauerlicherweise war dies ein unbefriedigender Fall." Mein Freund redete in seiner unverfänglichsten Tonart. Trotzdem sah Stapleton ihn mit scharfem Blick an.

Wir beschlossen, auf Anraten Stapletons, den Toten bis zum nächsten Tag mit verdecktem Gesicht liegen zu lassen und uns dann um ihn zu kümmern. Seine Einladung lehnten wir höflich ab und machten uns auf den Weg nach Baskerville Hall. Als wir uns umdrehten, beobachteten wir den Naturforscher, wie er langsam übers Moor dahinwanderte.

"Nun kommen wir zum Ende", verkündete Holmes. "Der Kerl hat vielleicht Nerven. Er hatte sich gut in der Gewalt, obwohl er sicherlich schockiert gewesen war, als er bemerkte, dass ein Falscher seinem Anschlag zum Opfer gefallen ist. Watson, noch nie hatten wir einen würdigeren Gegner."

"Schade, dass er Sie gesehen hat."

"Ja, sicher. Nun wird es spannend zu sehen, was er macht. Entweder ist er nun noch vorsichtiger als bisher oder er ist wie viele Verbrecher und überschätzt sich. Dann bildet er sich ein, uns vollständig getäuscht zu haben und wird leichtsinnig."

Trotz allem, was wir nun wussten, war uns klar, dass wir noch nichts unternehmen konnten. Kein Gericht der Welt würde uns glauben, weil uns immer noch die wirklich wichtigen Beweise fehlten. Die würden wir uns jetzt beschaffen. Dazu setzte Holmes große Hoffnungen in Laura Lyons. Er hatte sogar einen Schlachtplan parat, den er mir aber noch nicht verraten wollte. "Morgen haben wir Wichtiges zu tun; dennoch hoffe ich, dass wir den Mörder haben, ehe der Tag zu Ende geht", beschloss Mr. Holmes unser Gespräch.

Schweigend gingen wir bis zum Eingang von Baskerville Hall, wo Holmes heute Nacht ebenfalls verweilen wollte. Er bat mich, Sir Henry nichts von dem Bluthund zu erzählen. Er sollte glauben, dass Selden genau so zu Tode gekommen war, wie Stapleton es uns glauben machen wollte. Dann würde der Baronet bessere Nerven haben, um die harte Probe, die ihm morgen bevorstehe, zu ertragen. Denn am folgenden Abend sollte Sir Henry wie vereinbart bei den Stapletons speisen, allerdings alleine.

 

 

 

16. Holmes Schlachtplan

Sir Henry freute sich, Mr. Holmes zu sehen. Allerdings war er nicht sehr überrascht, denn er hatte bereits erwartet, dass die Ereignisse der letzten Tage Holmes veranlassen würden, nach Baskerville Hall zu kommen. Der Baronet wunderte sich lediglich darüber, dass sein Besuch kein Gepäck hatte und dies auch nicht erklären konnte.

Bei einem verspäteten Abendessen erzählten wir Sir Henry gerade so viel von unseren Erlebnissen, als uns nötig schien. Leider musste ich zuvor Barrymore und seiner Frau die traurige Botschaft von Seldens Tod überbringen. Barrymore schien erleichtert, seine Frau hingegen schluchzte verzweifelt auf.

Sir Henry lobte sich selbst, dass er diesen langweiligen, einsamen Tag lang sein Versprechen gehalten und das Schloss nicht verlassen hatte. Und das, obwohl Stapleton ihn überraschend gebeten hatte, den Abend mit ihm und seiner Schwester zu verbringen - was der Baronet überaus anregend gefunden hätte.

Wir erzählten ihm, dass wir ihn mit dem verunglückten Leichnam Seldens verwechselt hatten. Und dass wir den Bluthund gehört hatten auf dem Moor. Wir erwähnten auch, dass es noch einige Punkte zu klären gäbe, die aber alsbald abgehakt werden könnten.

Sir Henry meinte: "Wenn Sie diesem Hund einen Maulkorb und eine Kette anlegen können, dann ernenne ich Sie zum größten Detektiv aller Zeiten!"

"Das will ich meinen", erwiderte Holmes. "Allerdings müssen Sie mir dabei helfen und meinen Anordnungen blindlings folgen, ohne sie jemals in Frage zu stellen."

Baskerville versprach, alles zu tun, damit dieses Rätsel bald gelöst würde. Während wir so sprachen, blieb Holmes Blick an den kunstvollen Gemälden hängen, die an der gegenüberliegenden Wand hingen. Sir Henry erklärte uns die einzelnen Portraits und bleib beim einem düster blickenden Schwerenöter in schwarzem Samt hängen, dem legendären Sir Hugo Baskerville. Ihm war diese ganze Bluthund-Geschichte zu verdanken. In den Augen des Adeligen lag etwas Lauerndes, Teuflisches - obwohl er sonst ganz ruhig und wohlerzogen aussah.

Erst später, als die anderen in ihren Schlafräumen waren, ging Holmes mit mir noch einmal zu dem Portrait. Und als er auf den Stuhl stieg, um mit seiner Kerze das Bildnis zu beleuchten, erkannte ich ihn. "Himmlische Güte!", rief ich überrascht. Aus der Leinwand blickte mir Stapletons Antlitz entgegen. Holmes war stolz auf sich und meinte, dass man zur Ausforschung von Verbrechern jegliche Verkleidung durchschauen können müsse.

Nun war klar, dass dieser Kerl ein Baskerville sein musste. Und er hatte Absichten auf das Erbe. Dies war unser Beweis. Holmes wendete sich von dem Gemälde ab und brach in eines seiner seltenen Gelächter aus. Oft hatte ich ihn noch nicht gehört, aber wenn er es tat, dann bedeutete es nichts Gutes für den, dem sein Lachen galt.

Obwohl ich sehr früh aufstand, sah ich Holmes bereits die Allee heraufkommen. Er hatte bereits einen Bericht über Seldens Tod nach Grimpen geschickt. Außerdem hatte er seinen Boten, den jungen Cartwright benachrichtigt, der sich sonst bestimmt große Sorgen um seinen Herrn gemacht hätte.

Sir Henry kam hinzu und ich fragte Holmes, wie er sich den Weitergang der Ermittlungen vorgestellt hatte. Sir Henry lauschte ebenfalls aufmerksam. Holmes sagte zu Sir Henry: "Sie speisen heute Abend bei den Stapletons. Leider können wir Sie nicht begleiten, denn wir müssen dringend nach London reisen."

Ich sah Holmes entgeistert an. Was sollte das denn wieder? Trotzdem mischte ich mich nicht ein. Sir Henry wirkte enttäuscht und war sehr verwundert, als Holmes ihm Anweisung gab, den Kutscher sofort nach der Ankunft auf Merripit House wieder nach Baskerville Hall zurückzuschicken.

Weiter befahl er dem Baronet, er solle den Stapletons sagen, dass er beabsichtige, zu Fuß nach Hause zu gehen. Nun war Sir Henry ganz durcheinander. Holmes redete ihm weiter ins Gewissen, wirklich nur den geraden Weg übers Moor zu gehen, von Merripit House bis zur Straße und den für ihn kürzesten Weg nach Hause.

Auch ich war verwundert, doch es gab nichts als unbedingten Gehorsam. Also verabschiedeten wir uns von dem etwas enttäuschten Sir Henry. Auf dem Bahnsteig stand bereits Cartwright und wartete auf die neuesten Anweisungen. Holmes befahl: "Cartwright, du nimmst den nächsten Zug nach London. Nach deiner Ankunft schickst du Sir Henry ein Telegramm, in dem du ihn bittest, mir meine vergessene Brieftasche in die Baker Street nach London zu schicken. Aber jetzt gehst du zuerst zum Stationsvorsteher und siehst nach, ob ein Telegramm für mich angekommen ist."

Cartwright tat, wie ihm befohlen. Kurz darauf übergab er Holmes ein: Komme um 17.40 Uhr mit einem Haftbefehl. Lestrade. Dies war also die Reaktion der Londoner Polizei.

"Nun, Watson, dann statten wir Ihrer Freundin Mrs. Lyons einen Besuch ab." So langsam verstand ich, was ihm vorschwebte. Das Telegramm an Sir Henry sollte den Stapletons als Beweis dienen, dass wir wirklich in London seien. Tatsächlich aber würden wir gerade in dem Moment anwesend sein, wo es wichtig sein würde. Ich konnte bereits sehen, wie sich das Netz über unserer Beute zusammenzog.

Mrs. Lyons war in ihrem Büro. Sherlock Holmes begann das Gespräch sehr offen, was sie sichtlich überraschte. Schnell war er an der Stelle, wo er ihr eröffnete, dass Stapletons Schwester in Wirklichkeit seine Frau war. Mrs. Lyons war erst einmal wie vom Blitz getroffen. Sie wollte natürlich Beweise - Holmes hielt nicht zurück damit und legte ihr eine vier Jahre alte Fotografie des Ehepaares vor. Mrs. Laura Lyons war entsetzt.

"Mr. Holmes", stammelte sie, "dieser Mann hat mir die Ehe versprochen, wenn ich die Scheidung von meinem Mann durchsetzen könne. Ich glaubte, das geschehe alles meinetwegen. Aber jetzt - weshalb soll ich schweigen? Fragen Sie mich, was sie wollen. Ich werde Ihnen nichts vorenthalten. Ich schwöre Ihnen, als ich den Brief an Sir Charles schrieb, wollte ich ihm nie und nimmer etwas Böses antun."

"Natürlich, davon bin ich überzeugt", antwortete Holmes.

Dann erfuhren wir, dass Stapleton sie erst auf die Idee brachte, diesen Brief an Sir Charles zu schreiben. Er selbst diktierte ihn sogar. Dann aber, auf einmal änderte er seine Meinung, wollte den Scheidungsprozess selbst bezahlen und brachte sie dazu, nicht zu der Verabredung an jenem düsteren Abend zu fahren. Von Sir Charles Tod hatte sie erst aus der Zeitung erfahren. Und Stapleton - er ließ sie schwören, nichts von der Verabredung zu sagen, damit kein Verdacht auf sie fiele. Mrs. Lyons hatte Angst und schwieg.

Nun war uns allen klar, dass Mrs. Laura Lyons in letzter Zeit sehr gefährlich gelebt hatte. Wir verabschiedeten uns von ihr und versprachen, sehr bald wieder von uns hören zu lassen.

Der Fall nahm langsam Formen an. Holmes frohlockte. Immerhin würde er bald einen der eigenartigsten und beispiellosesten Verbrechen unserer Zeit zusammenhängend aufklären und darstellen können.

Inzwischen waren wir am Bahnhof und warteten auf die Ankunft des Schnellzuges. Holmes sagte selbstzufrieden: "Es sollte mich nicht wundern, wenn bis heute Abend alles vollständig aufgeklärt ist."

In dem Moment kam der Schnellzug angebraust und ein kleiner, schlanker Mann mit einem Bulldoggengesicht sprang aus einem Abteil erster Klasse. Lestrade blickte meinen Freund Holmes ehrfürchtig an, dann schüttelte er uns beiden die Hände. "Gibt es etwas Gutes für mich?", fragte er.

Holmes pries diesen Fall als den Großartigsten seit Jahren. "In zwei Stunden geht es los. Am besten essen wir erst etwas und dann, Lestrade, lassen wir Sie echte Nachtluft von Dartmoor einatmen. Das wird Ihnen den Londoner Nebel aus dem Rachen treiben. Sie waren noch nie hier, stimmts? Na, dann werden Sie Ihren ersten Besuch hier niemals vergessen."

 

 

 

17. Der Bluthund

Eine von Sherlock Holmes Untugenden - wenn es überhaupt eine ist - war sein Widerwille, jemandem etwas von seinen Absichten anzuvertrauen, bevor der Moment des Handelns gekommen war. Dies geschah teils aus der Absicht, seine Umgebung mit großer Überlegenheit zu verblüffen, teils aus beruflicher Achtsamkeit. Er wollte eben nichts dem Zufall überlassen. Für seine Mithelfer war dies sehr aufreibend.

Die große Endrunde stand unmittelbar bevor. Meine Nerven flatterten vor Spannung. Jeder Schritt der Pferde, jede Umdrehung der Räder brachte uns dem Schluss unseres Abenteuers näher. Wegen des Kutschers konnten wir uns lediglich über belanglose Dinge unterhalten.

Wir ließen den Wagen nicht vor dem Eingang des Schlosses vorfahren, sondern stiegen in der Allee aus. Der Kutscher bekam seinen Lohn und wir machten uns zu Fuß auf den Weg nach Merripit House. Lestrade war mit einem Revolver bewaffnet, ich ebenfalls. Überhaupt waren wir auf alle Eventualitäten vorbereitet. Lestrade bemerkte, dass dies hier keine gemütliche Gegend sei. Er fröstelte und blickte misstrauisch über den vernebelten Grimpensumpf.

Bald sahen wir die Lichter von Merripit House, unserem Ziel. Leise pirschten wir uns zum Haus und klärten, welche Räume beleuchtet waren. Ich schlich den Pfad entlang, um durchs offene Fenster hineinsehen zu können.

Sir Henry und Stapleton saßen einander gegenüber am Tisch, sodass ich sie beide von der Seite sehen konnte. Sie rauchten Zigarren und vor ihnen standen Kaffeetassen und Weingläser. Stapleton redete auf den Baronet ein, der aber verhielt sich zerstreut, wortkarg und schien blass. Womöglich bedrückte ihn der Gedanke an den düsteren Heimweg übers Moor.

Vorsichtig schlich ich zu meinen Freunden zurück und berichtete. Holmes fragte: "Sie sagen, dass Mrs. Stapleton nicht im Zimmer war?" Ich verneinte.

Der dicke, weiße Nebel, der über dem Grimpensumpf lag, bewegte sich immer mehr auf uns zu. Er staute sich neben uns auf, wie eine niedrige, dichte Mauer. Vom Mond beschienen, glich sie einer schimmernden Eisfläche, aus der Felsspitzen hervorlugten. Holmes fürchtete, dass diese Nebelwand unsere Pläne schlimm durchkreuzen könnte, und hoffte, dass Sir Henry rechtzeitig das Haus verließe.

Wir beobachteten weiter. Plötzlich erlosch das Licht, das wir der Küche zugeordnet hatten. Wahrscheinlich hatte der Dienstbote es gelöscht, denn im Speisezimmer, wo die zwei Männer saßen, blieb die Lampe an. Bei dem Gedanken, dass der mordlüsterne Hausherr und sein ahnungsloser Gast da drinnen plauderten

Holmes schlug wütend mit der flachen Hand auf den Felsen und stampfte ungeduldig auf. "Binnen einer Viertelstunde wird der Pfad vom Nebel verschlungen sein und in einer halben Stunde können wir die Hand nicht mehr vor den Augen sehen! Wenn er jetzt nicht bald rauskommt …"

Wir gingen den Pfad ein wenig zurück, weichend vor der Nebelwand. Zum Glück hörten wir alsbald Schritte. Zwischen den Felsen hockend starrten wir angespannt in den Nebel. Die Schritte wurden lauter und schon trat der Mann, den wir erwarteten, aus dem nebligen Grau hervor. Erstaunt blickte er an den sternenklaren Himmel und eilte schnellen Schrittes den Pfad entlang. Er bemerkte uns nicht. Immer wieder blickte er über die Schulter zurück, wie jemand, der sich ängstigt.

Holmes hatte seinen Revolver gespannt. Er flüsterte: "Aufgepasst - er kommt!" Da hörten wir schnelles Getrappel. Wir starrten alle drei auf die Nebelwand, in ängstlicher Erwartung des Furchtbaren, das aus ihr offenbar werden würde. Holmes Gesicht war blass, jedoch funkelten seine Augen aufgeregt.

Plötzlich stierte er entgeistert nach vorne. Sein Mund öffnete sich vor Entsetzen. Lestrade schrie bestürzt auf und fiel mit dem Gesicht nach unten auf den Boden. Ich umklammerte mit zitternder Hand meinen Revolver, sprang auf - halb ohnmächtig, ob des Anblicks dieses grausigen Geschöpfes.

Ein Bluthund - ein riesiger, pechschwarzer Bluthund, wie ihn nie zuvor ein Mensch erblickt hat. Aus seinem offenen Schlund sprühte Feuer, seine Augen glühten, Lefzen und Wampen waren von leuchtenden Flämmchen umloht. Kein Fiebertraum könnte ein wilderes, grauenhafteres und höllischeres Ungeheuer hervorbringen, als der Nebel es hier ausgespuckt hatte. Das schwarze Untier bewegte sich in schnellen Sätzen den Pfad entlang; die Nase dicht über der Erde verfolgte es die Fußspuren unseres Freundes.

Als wir wieder zur Besinnung kamen, feuerten Holmes und ich gleichzeitig los. Der Hund heulte grauenhaft - der Beweis, dass wenigstens eine Kugel ihn getroffen hatte. Er jagte trotzdem weiter und in einiger Entfernung sahen wir den entsetzten Sir Henry stehen, der mit kreidebleichem Gesicht und hilflos erhobenen Händen zu der Bestie blickte.

Holmes rannte an diesem Abend so schnell, wie ich noch nie zuvor einen Mann habe rennen sehen. Wir hörten die Angstschreie des Baronets und das tiefe Grollen des Bluthundes. Ich sah noch, wie das Untier auf Sir Henry zusprang, ihn zu Boden warf und nach seiner Kehle schnappte. Zeitgleich feuerte Holmes die restlichen fünf Kugeln ab. Mit Todesgeheul biss der Hund noch einmal wild um sich, rollte auf den Rücken und fiel nach wenigen Zuckungen auf die Seite. Die Bestie war tot.

Sir Henry lag bewusstlos am Boden. Wir rissen seinen Kragen auf und bemerkten erleichtert, dass er nicht verwundet war. Als seine Augenlider zuckten, hielt Lestrade ihm seine Whiskyflasche zwischen die Lippen. "Bei Gott, was war das?" röchelte Sir Henry entsetzt.

"Was auch immer es war, wir haben diesem Familiengespenst den Garaus gemacht!", beruhigte ihn Holmes. Dieses furchtbare Tier war weder ein reinrassiger Bluthund noch eine reine Dogge - eher eine Mischung aus den beiden. Er war zottig und dürr, wie eine kleine Löwin. Selbst in der Todesstarre leuchtete das Ungeheuer noch. Ich berührte mit meiner Hand den flammenden Kiefer. Als ich sie dann emporhielt, glühten meine Finger in der Dunkelheit auf.

"Ja, das ist ein Phosphorpräparat. Sehr schlau benutzt; eine duftlose Lösung, damit der Geruchssinn des Tieres nicht gestört ist", bestätigte Holmes.

Nachdem wir den Baronet beruhigt hatten, ließen wir ihn am nächsten Granitblock sitzen und versprachen ihm, ihn bald zum Schloss zurückzubegleiten. Holmes erklärte: "Unser Auftrag ist noch nicht ganz beendet. Wir haben nur das Verbrechen aufgeklärt, den Verbrecher müssen wir noch stellen!"

 

 

 

18. Der Mörder

Zu dritt gingen wir zum Merripit House, obwohl wir uns fast sicher waren, Stapleton hier nicht mehr anzutreffen. Und tatsächlich - die Haustüre stand weit offen. Wir stürmten hinein und durchsuchten jeden Winkel des Hauses. Im ersten Stock trafen wir auf einen verschlossenen Raum. Wir hörten, dass jemand drin war; es raschelte. Holmes sprengte mit einem Fußtritt die Türe auf.

Einen Augenblick lang waren wir sprachlos. Dieses Zimmer glich mit den vielen Glaskästen, die mit Schmetterlingen und Käfern bestückt waren, einem Museum. In der Mitte des Raumes befand sich ein Pfeiler, an dem eine Gestalt gefesselt war. Von Bett- und Handtüchern vermummt, konnten wir sie nicht erkennen. Aber im Nu hatten wir den Knebel weggerissen und Mrs. Stapleton sank vor unseren Augen zusammen. An ihrem Hals konnte ich die scharfe rote Spur einer Reitpeitsche erkennen. "Diese Bestie!", rief Holmes.

Mrs. Stapleton öffnete bald darauf die Augen und fragte, ob Sir Henry entkommen wäre. Sie erkundigte sich auch nach dem Hund und war erleichtert, dass er tot war. "Gott sei Dank! Zum Glück! Oh dieser Schurke! Er hat mich misshandelt, meine Seele gequält. Ich wollte es aus Liebe ertragen, bis ich merkte, dass er mich auch hierin hintergangen hatte." Sie schluchze herzzerreißend.

Mrs. Stapleton begriff schnell, dass sie einiges gutmachen konnte, wenn sie uns jetzt weiterhalf. Bereitwillig verriet sie uns den Ort, den sie für den einzigen Zufluchtsort ihres Mannes hielt: Auf einer Insel inmitten des Sumpfs sei eine alte Zinngrube. An diesem Ort hielt er üblicherweise seinen Hund versteckt. Nur dorthin konnte er geflohen sein.

Der Nebel lag dick über dem Moor und wir sahen ein, dass wir heute nicht mehr aufs Moor hinaus konnten. Mrs. Stapletons Augen funkelten in wilder Freude, als sie uns begreiflich machte, dass ihr Gatte vielleicht den Weg hinein ins Moor finden würde, jedoch niemals wieder den Weg hinaus - bei diesem Nebel. Sie rief: "Heute ist es unmöglich, die Wegweiser zu sehen. Wir haben die Markierungen gemeinsam eingesetzt, um den schmalen Pfad durch das Moor zu kennzeichnen.

Lestrade blieb bei Mrs. Stapleton in Merripit House, Holmes und ich gingen mit dem Baronet nach Baskerville Hall zurück. Als er die Wahrheit über die Stapletons erfuhr, verhielt er sich tapfer, obwohl er so Hässliches über die Frau erfuhr, die er liebte.

Nun aber komme ich schnell zum Ende dieser eigentümlichen Geschichte, in deren Verlauf ich mich bemüht habe, dem Leser diese finsteren Angstgefühle und verschwommenen Befürchtungen zu beschreiben, die unser Dasein so lange beschatteten.

Am Morgen nach dem Tode des Bluthundes war der Nebel verschwunden. Mrs. Stapleton führte uns zum Ausgangspunkt des vom Naturforscher entdeckten Weges durch den Sumpf. Immer mehr wurde uns bewusst, welche Höllenqualen diese Frau an der Seite ihres Mannes durchlitten hatte; sie half uns mit Eifer und wilder Freude auf seine Spur.

Sie ging mit uns bis zu dem letzten Ausläufer festen Bodens, der sich in den Sumpf hinein erstreckte. Ab und zu kennzeichnete ein dünnes Stöckchen den Weg, der von einem Moorinselchen zum nächsten führte. Um uns herum lag ein dumpfer Verwesungsgeruch und mehr als einmal sanken wir knietief in das dunkle Moor, das meterweit um uns bebte. Wir fühlten, wie sich die feuchte Masse an unseren Absätzen festsog, als ob eine tückische Hand uns in diese widerliche Tiefe hinabziehen wollte.

Endlich sahen wir, dass jemand vor uns diesen gefährlichen Pfad begangen hatte. Auf einem Grasbüschel lag ein dunkler Gegenstand. Als Holmes nach ihm griff, versank er bis an die Hüften. Wären wir nicht da gewesen, so hätte er wohl nie mehr einen Fuß auf festen Boden gesetzt.

Er hielt einen alten schwarzen Schuh empor, auf dessen Innenleder ein Stempel lautete: "Meyers, Toronto, Kanada". Es war Sir Henrys verlorener Schuh, den Stapleton wahrscheinlich auf seiner Flucht weggeworfen hatte. Holmes schlussfolgerte: "Mit diesem Schuh hat er vermutlich den Hund auf Sir Henrys Fährte gehetzt. Als er bemerkte, dass er dieses Spiel verloren hatte, flüchtete er und warf den Schuh hier weg. Wenigstens wissen wir jetzt, wie weit er gekommen ist."

Da es aber unmöglich war, im Moor Spuren zu finden - weil der Schlamm sie zu schnell bedeckte - gelangten wir nie zu vollkommener Sicherheit, was genau Stapleton in seinen letzten Stunden erlebt hatte. Wenn der blanke Boden uns die Wahrheit sagte, hat Stapleton seine Rettungsinsel niemals erreicht. Irgendwo im Grimpensumpf musste dieser grausige, kaltherzige Verbrecher sein ewiges Grab gefunden haben.

Trotzdem untersuchten wir die Insel und fanden zahlreiche Beweise, dass Stapleton oft dort gewesen sein musste. Holmes sagte: "Nun haben wir wahrscheinlich die meisten Geheimnisse dieses Ortes ergründet. Seinen Hund konnte er hier wohl verbergen, aber das Heulen konnte er ihm nicht verbieten; daher kamen diese grausligen Töne, die selbst bei Tage nicht erfreulich anzuhören waren. Im Notfall konnte er das Tier in Merripit House unterbringen, was er vermutlich immer nur am letzten Tag getan hat, als er sein Ziel erreicht zu haben glaubte. Dies war immerhin sehr gewagt. Und diese Paste hier ist zweifellos die Phosphorlösung, mit der er die Bestie eingerieben hat."

Es war kein Wunder, dass dieses Untier Sir Charles zu Tode erschreckt hat und der arme Teufel von einem Sträfling wie von Sinnen davongerannt war. Der Plan war besonders schlau ausgeheckt.

"Ich sagte es Ihnen bereits in London, Watson. Noch nie haben wir es mit einem raffinierteren und gefährlicheren Verbrecher zu tun gehabt, wie mit dem, der im Moor begraben liegt." Damit zeigte Holmes mit seinem Arm auf die Weite des grün gefleckten Sumpfes, die am Horizont in die rötlichen Abhänge des Moors überging.

 

 

 

19. Das Baskerville-Geheimnis

An einem rauen und trüben Novemberabend saßen Holmes und ich vor dem Kamin unseres Wohnzimmers in der Baker Street. Seit den tragischen Ereignissen auf Baskerville Hall hatte Holmes sich mit zwei neuen, ausnehmend wichtigen Fällen beschäftigt. Er war zufrieden und in angeregtester Laune, ob der glücklichen Lösung dieser rasch aufeinander folgenden Fälle.

Geduldig hatte ich auf eine Gelegenheit gewartet, bei der mein Freund nachträglich die Details des Baskerville-Geheimnisses mit mir erörtern würde. Holmes verweilte nach der Lösung eines Falles nie in der Vergangenheit. Auch ließ er sich nie durch Erinnerung an frühere Fälle von dem, den er gerade löste, ablenken.

Jedoch ergab es sich, dass Sir Henry und Dr. Mortimer vor Beginn ihrer langen Reise, die Sir Henry zur Genesung seiner erschütterten Nerven empfohlen worden war, in London weilten. Sie hatten uns an diesem Nachmittag besucht und so begab es sich ganz natürlich, dass wir auf den Fall Baskerville zu sprechen kamen.

"Die Folge der Ereignisse war aus Stapletons Sicht gerade und natürlich", begann Holmes. "Inzwischen habe ich zweimal mit Mrs. Stapleton gesprochen. Deshalb ist der Fall für uns nun restlos aufgeklärt."

"Wäre es möglich, dass Sie mir den Gang der Ereignisse zusammenfassen?"

"Gerne, obwohl es mir ohne meine Notizen schwer fällt. Jeder meiner Fälle verdrängt den Vorangegangenen - so sind meine Erinnerungen an Baskerville Hall etwas verschwommen. Dennoch, meine Nachforschungen haben ergeben, dass dieser Schurke, namens Stapleton, tatsächlich ein Baskerville war. Er war der Sohn von Rodger Baskerville, Sir Charles' jüngstem Bruder, der nach Südamerika floh, einen überaus schlechten Ruf genoss und angeblich unverheiratet starb."

Holmes erzählte mir im Laufe dieses Abends, dass dieser Sohn Baskervilles aber doch verheiratet war und einen Sohn hatte. Dieser heiratete Beryl Garcia, eines der schönsten Mädchen von Costa Rica. Nachdem er große Summen öffentlicher Gelder veruntreut hatte, kehrte er nach England zurück - unter dem Namen Vandeleur. Hier eröffnete er im Norden eine Schule. Auf der Überfahrt hatte er die Bekanntschaft eines Lehrers gemacht, der bereits etwas kränklich schien und dessen Begabung im von großem Nutzen war. Als dieser Lehrer dann starb, war der anfänglich sehr gute Ruf dieser Schule gefährdet und wurde immer schlechter, bis sie geschlossen wurde.

Nun änderten die Vandeleurs ihren Namen noch einmal und nannten sich von nun an Stapleton. Sie zogen mit dem Rest ihres Vermögens nach Südengland um, mit dem Plan, dass Stapleton künftig seiner Liebhaberei für Naturforschung nachginge. Im British Museum galt er als eine anerkannte Autorität in Schmetterlingskunde.

Im Laufe der Zeit hatte Stapleton herausgefunden, dass nur zwei Menschen zwischen ihm und einem großen Grundbesitz standen. Anfänglich hatte er vermutlich noch keinen großen Plan gefasst, aber Übles hatte er schon damals im Sinn. Nur deshalb musste seine Frau sich als seine Schwester ausgeben. Vermutlich hatte er schon eine vage Vorahnung, dass er sie noch als Lockvogel benutzen wollte.

Sein erster Schritt war, sich mit Sir Charles und allen übrigen Nachbarn anzufreunden. Ab dem Moment, als der Baronet ihm die Geschichte des Familiengespenstes erzählte, befand sich dieser in Todesgefahr. Stapleton wusste, dass der alte Mann ein schwaches Herz hatte. Außerdem war es kein Geheimnis, dass Sir Charles diese böse Familienlegende sehr ernst nahm. Damit begannen die Vorbereitungen auf jenes üble Verbrechen.

Als Erstes kaufte Stapleton sich einen Hund. Es war der bösartigste und kräftigste Hund, den die Tierhandlung besaß. Damit niemand ihn sah, machte Stapleton zu Fuß einen großen Umweg über das Moor. Im Laufe seiner Ausflüge aufs Moor hatte er den Pfad im Grimpensumpf entdeckt und damit ein sicheres Versteck für sein böses Tier gefunden.

Da der alte Mann sich jedoch strikt weigerte, sein Schloss des Nachts zu verlassen, musste Stapleton in seine Trickkiste greifen. Erst versuchte er es über seine Frau, die aber nicht dazu zu bewegen war, bei dem alten Herrn Gefühle hervorzurufen, um ihn dann in die Hände des Bösen zu geben. Sie widerstand allen Drohungen und Misshandlungen, sodass Stapleton viel Zeit verlor.

Der Ausweg bot sich ihm mit Mrs. Laura Lyons. Die unglückselige Geschichte dieser Frau, die glaubte, dass Stapleton sie nach der Scheidung von ihrem Mann heiraten würde. Als Stapleton erfuhr, dass Sir Charles auf Anraten von Dr. Mortimer sein Schloss für einige Zeit verlassen wollte, musste er schnell handeln. Er überredete Mrs. Lyons, diesen Brief zu schreiben, gab ihr hinterher einen Grund, doch nicht zu dem vereinbarten Treffen zu gehen. So bekam er die Gelegenheit, auf die er so lange gewartet hatte.

Gegen Abend kehrte er aus Coombe House zurück und die Zeit reichte noch, seine Bestie mit dieser Höllentinktur einzureiben. Er führte sie zur Pforte, und als der alte Sir Charles das leuchtende Ungeheuer erblickte, nahm das Unglück seinen Lauf. Er lief schreiend die Eibenallee hinunter, auf dem Weg, der Hund jagte hinter ihm her, auf dem Rasen. Deshalb gab es keine Spuren. Nur einen Fußtritt hatte Dr. Mortimer erkannt, da musste sich der Bluthund dem am Boden liegenden Sir Charles genähert haben. Stapleton pfiff seinen Hund zurück und versteckte ihn wieder im Moor.

Stapletons Frau und auch Mrs. Laura Lyons schöpften ab diesem Abend Verdacht. Beide Frauen standen jedoch unter seinem überaus großen Einfluss, deshalb fürchtete er von dieser Seite nichts.

Dann erfuhr Stapleton durch Dr. Mortimer von der Ankunft Sir Henry Baskervilles. Vermutlich wusste er bis dahin noch nichts von einem weiteren Erben. Er hatte vor, diesen Störenfried noch vor seiner Ankunft in Devonshire aus dem Weg zu schaffen. Deshalb reiste er nach London, seine Frau nahm er vorsichtshalber mit, da sie sich zu sehr gegen ihn aufgelehnt hatte.

In London verkleidete er sich mit dem Bart und beschattete uns. Als er merkte, dass wir beide ins Spiel kamen, änderte er seine Pläne. Er beschaffte sich einen Schuh, um seinen Hund auf die Fährte hetzen zu können. Leider ging dies beim ersten Mal schief, weil der Schuh noch unbenutzt war. Deshalb beschaffte er sich noch den getragenen Stiefel und gab den Neuen zurück. Dieser Zwischenfall war für mich sehr lehrreich und er überzeugte mich davon, dass wir es mit einem richtigen Bluthund zu tun hatten. Außerdem ist meine Methode die: Je absonderlicher ein Zwischenfall scheint, desto genauer muss ich den Spuren nachgehen.

Stapleton war ein gefährlicher und vor nichts zurückschreckender Mann. Vermutlich hatte er bereits verbrecherische Erfahrung. Nicht umsonst besaß er die Frechheit, mir durch den Kutscher meinen eigenen Namen zurückzuschicken.

Ich fragte zwischendurch: "Und wer kümmerte sich um seinen Hund, während er sich mit seiner Gattin in London aufhielt?"

Auch hierfür hatte Holmes eine Erklärung. In Merripit House lebte ein alter Diener namens Anthony. Er war bereits seit vielen Jahren im Dienst der Stapletons und hatte sie schon von Nordengland in den Süden begleitet. Er musste die Vorgeschichte der Stapletons kennen und Holmes hatte diesen Mann einmal beobachtet, wie er den Fußweg über den Sumpf genommen hat. Daher war anzunehmen, dass er sich in Stapletons Abwesenheit des Tieres angenommen hatte; vermutlich, ohne zu wissen, zu welchem Zweck dieser Bluthund dort gehalten wurde.

Holmes erklärte mir seine damaligen ersten Eindrücke zu dem Fall. Er erinnerte sich an den Bogen Papier, mit den aufgeklebten Worten. Ihm war aufgefallen, als er das Papier genauer untersuchte, dass es nach Jasmin duftete, ganz schwach. Von nun an hatte er die Stapletons in Verdacht.

Stolz verkündete er: "Ich hatte also bereits Gewissheit über die Anwesenheit dieses Hundes und Verdachtsgründe gegen den mutmaßlichen Mörder, ehe ich nach Devonshire ging. Deshalb musste ich Stapleton beobachten, was ich natürlich nicht von Baskerville Hall aus tun konnte. Nur aus diesem Grund musste ich alle täuschen - Sie inbegriffen. Cartwright war mir dabei eine große Hilfe. Ich beobachtete Stapleton und Cartwright beobachtete Sie, während er mich mit Essen und reiner Wäsche versorgte. So hatte ich alle Fäden in der Hand.

Leider stifteten das Ausbrechen des Sträflings und der Zusammenhang mit den Barrymores Verwirrung. Aber das haben Sie ja restlos aufgeklärt. Allerdings fehlten uns trotz der gehäuften Vorkommnisse immer noch handfeste Beweise. Deshalb mussten wir Stapleton auf frischer Tat ertappen. Dazu mussten wir den armen Sir Henry größter Gefahr aussetzen. Doch um den Preis eines schweren Nervenschocks, den unser Klient erlitten hat, konnten wir Stapleton zu seinem Ende bringen. Dr. Mortimer versicherte mir, dass die bevorstehende lange Reise alles wieder gutmachen würde."

Nun hatte Holmes alles Wichtige erwähnt. Trotzdem hatte ich noch eine Frage: "Wie hätte Stapleton denn wohl die Erbschaft einfordern wollen, ohne Verdacht zu erregen?"

"Dazu habe ich seine Frau befragt. Sie meinte, dass er dazu drei Möglichkeiten in Erwägung gezogen hätte. Er konnte nach Südamerika fahren, von dort aus seine Erbansprüche anmelden, seine Identität von den englischen Behörden feststellen lassen und sich den Besitz des Vermögens aneignen, ohne jemals wieder englischen Boden betreten zu haben. Oder, er hätte sich während eines Aufenthaltes in London verkleidet; oder, er hätte einem Komplizen die notwendigen Papiere übergeben, damit der die Geschäfte für ihn abwickeln konnte. Nach dem, was wir von ihm wissen, hätte er zweifellos einen Ausweg gefunden.

Und nun, mein lieber Watson, haben wir einige arbeitsame, aufregende Wochen hinter uns. Meinen Sie nicht auch, dass wir eine Erholung verdient haben? Deshalb habe ich für uns eine Loge im Theater reservieren lassen. Darf ich Sie einladen, in einer halben Stunde bereit zu sein - speisen können wir unterwegs bei Marcini."