Ein Vorabenteuer

  • Autor: Poe, Edgar Allan

Ich heiße Arthur Gordon Pym. Mein Vater war ein ehrenwerter Seewarenhändler in Nantucket, wo ich geboren wurde. Mein Großvater mütterlicherseits war ein bekannter Rechtsanwalt. Er spekulierte erfolgreich und so konnte er eine anständige Summe Geld zurücklegen. Da er mich sehr mochte, herzlicher als einen anderen Menschen auf der Welt, wurde ich allgemein als sein Erbe angesehen.

Im Alter von sechs Jahren schickte er mich zum alten Herrn Ricketts in die Schule. Ein alter, einarmiger Mann mit exzentrischen Manieren, den jeder in New Bedford kennen dürfte. Bis zu meinem siebzehnten Jahre blieb ich unter seiner Obhut. Anschließend besuchte ich die Akademie des Herrn Ronald, die auf der Höhe der Stadt lag.

Hier freundete ich mich mit dem Sohne des Herrn Barnard an, eines Kapitäns, der im Auftrag der Firma Vredenburgh fuhr. Er ist in New Bedford ebenfalls gut bekannt und hat viele Verwandte in Edgarton. Sein Sohn August war fast zwei Jahre älter als ich und war bereits einmal mit seinem Vater auf der Walfischjagd gewesen. Er konnte nicht genug von seinen Seeabenteuern erzählen, manchmal die ganze Nacht hindurch. Ich verbrachte viel Zeit bei ihm. Wir schliefen oft in demselben Bett und er erzählte häufig bis zum Tagesanbruch von den Eingeborenen der Insel Tinian und von anderen Orten, die er besucht hatte.

Mit der Zeit wünschte ich mir nichts sehnlicher, als selbst Seemann zu werden. Ich kaufte mir für fünfundsiebzig Dollar ein kleines Segelboot namens "Ariel". Es hatte ein Halbverdeck und konnte ohne Überlastung bestimmt zehn Personen aufnehmen. Mit diesem Boot wagten wir die tollsten Streiche, die je gemacht worden sind; und wenn ich mich jetzt daran erinnere, wundere ich mich, dass ich noch am Leben bin.

Eines dieser Abenteuer möchte ich meiner längeren und wichtigeren Erzählung als Einleitung vorausschicken. Eines Abends gab Herr Barnard eine Gesellschaft, auf der sowohl Augustus als ich ziemlich angetrunken waren. Deshalb teilte ich, anstatt nach Hause zu gehen, meines Freundes Lager.

Wir mochten uns gerade eine halbe Stunde zur Ruhe gebettet haben, als Augustus fluchend in die Höhe schoss und schwor, dass er keinem Arthur Gordon Pym zuliebe im Bett verweilen würde, wenn eine so herrliche Brise aus Südwest wehe. Erstaunt überlegte ich, ob ihn die Weine und Liköre um den Verstand gebracht hätten. Doch er sprach ganz ruhig und vermittelte den Eindruck, nie so nüchtern gewesen zu sein wie jetzt.

Wir befanden uns gegen Ende Oktober und es war stürmisch draußen und sehr kalt. Trotzdem sprang ich erregt aus dem Bett und schrie, dass ich ebenso tapfer sei, wie er und auch willig, einen außergewöhnlichen Streich zu wagen, wie ein Augustus Barnard in Nantucket.

Die Ariel lag an der alten Werft nahe dem Holzhofe von Pankey & Co. Augustus stieg ins Boot und schöpfte es aus; es war zur Hälfte voll mit Wasser. Als dies getan war, hissten wir die Segel und steuerten mutig aufs Meer hinaus.

Die Nacht war außerordentlich kalt und klar. Augustus steuerte und ich stand auf Deck am Segel. In raschem Tempo flogen wir schweigend dahin. Ich fragte meinen Gefährten, wohin er denn eigentlich steuern wolle und wann wir wieder zurückreisen würden. Nachdem er eine Weile vor sich hingepfiffen hatte, antwortete er widerborstig: "Ich fahre aufs Meer hinaus; du kannst ja nach Hause gehen, wenn du willst." In diesem Moment erkannte ich, dass irgendetwas nicht in Ordnung war. Sein Gesicht war bleicher als Marmor und seine Hand zitterte stark.

Ernste Besorgnis befiel mich. Da ich damals nicht viel von der Führung eines Bootes verstand, war ich vollkommen auf die Geschicklichkeit meines Freundes angewiesen. Dazu bemerkte ich, dass der Wind heftiger wurde. Da ich mich schämte, meine Furcht zu zeigen, schwieg ich noch eine weitere halbe Stunde lang. Endlich konnte ich mich nicht mehr zurückhalten und äußerte zu Augustus, es wäre wohl an der Zeit umzukehren.

Wieder dauerte es einige Minuten, bis er Notiz von mir nahm. Dann folgte undefinierbares Gestammel, er sprach wirres Zeug und in seinem Ton lag etwas, das mich mit unaussprechlichem Schrecken erfüllte. "Um Himmels willen, Augustus", rief ich, "was ist los?" Er stammelte weiter, schien verwundert und ließ das Steuer los, um nach vorne auf den Schiffsboden zu fallen.

Nun erkannte ich die fürchterliche Wahrheit. Er war betrunken … vollkommen betrunken, sodass er weder stehen noch sitzen konnte. Ich riss ihn vom Boden hoch, doch er hatte offenbar während des Abends viel mehr getrunken, als ich gedacht hatte. So stürzte er wie ein Klotz zurück in das auf dem Bootsgrund angesammelte Wasser, aus dem ich ihn gerade noch gezogen hatte. Die kalte Nachtluft hatte die Trunkenheit wohl erst recht zum Ausbruch gebracht. Er war nun vollkommen unzurechnungsfähig und konnte voraussichtlich erst in mehreren Stunden wieder zu Besinnung gelangen.

Es ist kaum möglich, sich eine Vorstellung von meinem grenzenlosen Entsetzen zu machen. Der letzte Rest des Weins in mir war verdunstet und ich fühlte mich doppelt unfähig, einen Entschluss zu fassen. Wir hatten keinen Kompass und keine Nahrungsmittel. Hinter uns nahm der Sturm zu und jedes Mal, wenn das Schiff von einem Absturz nach vorne wieder in die Höhe schnellte, schlugen die Wellen über dem hinteren Teil zusammen und durchnässten uns.

Ich war erstarrt von der Eiseskälte. Da raffte ich mich verzweifelt zu einer letzten Anstrengung auf und löste das Hauptsegel vom Mast. Es flog sofort über Bord und zog - wie ich erwartet hatte - den Mast mit sich fort und rettete uns damit vor dem sofortigen Untergang. Ich atmete ein wenig freier, da ich mich von der unmittelbaren Todesgefahr befreit sah.

Augustus lag noch besinnungslos am Boden, das Gesicht im Wasser. Damit er nicht ertrinken konnte, richtete ich ihn auf und band ihn mit einem Tau an einem Ring auf dem Halbdeck fest. Nachdem ich nun alles, so gut es möglich war, hergerichtet hatte, empfahl ich mich Gott, fest entschlossen die nun folgenden Geschehnisse mit heldenhaft zu ertragen.

Kaum hatte ich diesen Gedanken zu Ende gedacht, als plötzlich ein lautes und langes Geschrei, welches aus den Kehlen von tausend Teufeln zu kreischen schien, die Luft erfüllte. Nie in meinem Leben werde ich das Entsetzen vergessen, das ich in dem Moment empfand. Mein Haar sträubte sich und das Blut gefror in meinen Adern. Mein Herz stockte. Ohne erkennen zu können, woher die schauerlichen Töne kamen, fiel ich kopfüber und bewusstlos auf den Körper meines Gefährten.

In der Kajüte eines großen Walfischfängers kam ich wieder zu mir. Es war der "Penguin", der nach Nantucket segelte. Mehrere Fremde standen bei mir, und ein leichenblasser Augustus, der mir eifrig die Hände rieb. Seine Freude über meine Auferstehung war übergroß.

Das Geheimnis unserer Rettung war schnell aufgeklärt. Der Walfischfänger hatte uns überrannt, obwohl mehrere Leute vorne ausspähten. Es waren ihre Warnrufe, die mir jene fürchterliche Angst eingeflößt hatten. Da von Bord unserer Schaluppe kein Ton zu hören war, ging der Kapitän der Penguin davon aus, dass es sich nur um ein treibendes Wrack handle. Er hatte bereits Befehl zur Fortsetzung der Fahrt gegeben, als zwei Mann sich gegen ihn durchsetzen konnten. Sie waren sich nicht sicher und wollten das treibende Boot genauer untersuchen.

Henderson, der Obersteuermann, gab entgegen dem Willen des Kapitäns das Kommando: "Hart am Lee!" Die Leute eilten auf ihre Posten und so konnten Augustus und ich tatsächlich noch gerettet werden. Das Meer, nur vom Mondlicht beschienen, wogte stürmisch und wild.

Es war ein gefährliches Wagnis, aber Henderson sah, dass ein menschlicher Körper in eigentümlicher Art an dem glatten Schiffsboden hing und mit jeder Bewegung gegen die Planken donnerte. Nach mehreren Versuchen befreiten mich die Männer aus dieser gefahrvollen Lage. An Bord erkannten sie, dass ein Nagel den Kragen meiner grünleinenen Jacke und meinen Nacken durchbohrt hatte. Er hatte sich zwischen zwei Sehnen durchgedrängt und war hinter dem linken Ohr wieder hervorgekommen.

Sie legten mich in ein Bett, obwohl das Leben aus mir geschwunden schien. Es befand sich kein Arzt an Bord. So nahm sich der Kapitän meiner an - wahrscheinlich wollte er seine vorangegangene Herzlosigkeit ein wenig abschwächen.

In der Zwischenzeit war Henderson wieder zu den Trümmern unseres Bootes gefahren, obwohl der Wind orkanartig übers Meer tobte. Wie durch ein Wunder entdeckte er gerade noch rechtzeitig Augustus. Allein die Tatsache, dass ich ihn festgebunden hatte, rettete wohl sein Leben. Er nüchterte innerhalb einer Stunde aus. Was mich betrifft, so wurde ich erst Stunden später durch eine Abreibung mit in heißem Öl getränktem Flanell gerettet. Die Wunde am Hals sah zwar schrecklich aus, verheilte aber bald.

Morgens um neun lief der "Penguin" in den Hafen ein, nachdem er noch gegen einen rasenden Sturm zu kämpfen hatte, wie man ihn nur selten an unserer Küste antrifft. Zum Glück hatte Herr Barnard ein wenig länger geschlafen, so kamen Augustus und ich gerade noch pünktlich zum Frühstück. Ich denke, dass bei Tisch erfreulicherweise alle zu müde waren, unsere bleichen Gesichter zu bemerken.

Im Übrigen können Schulbuben sich wunderbar verstellen. So brachte in Nantucket keiner unserer Freunde die Geschichte mit uns in Verbindung, die sich einige Seeleute in der Stadt erzählten - sie hätten ein Schiff überrannt und es wären wohl einige arme Teufel dabei umgekommen.

Wir beide haben seitdem öfters von der Begebenheit gesprochen, jedoch nie ohne Grauen. Einmal gestand mir Augustus ganz offen, dass er nie zuvor in seinem Leben eine derart qualvolle Verzweiflung empfunden habe, als in dem Moment, da er an Bord des "Ariel" erkannte, dass er vollkommen betrunken war und zudem im Begriff, die Besinnung zu verlieren.