Toms Kindheit

  • Autor: Twain, Mark

Einige Jahre später - Tom lebte in der Nähe der London Bridge, der alten Brücke über die Themse. London hatte derzeit etwa hunderttausend Einwohner und die Straßen waren eng und verdreckt, vor allem in der Wohngegend von Tom.

Die meisten Häuser waren aus Holz gebaut und mit Mörtel verputzt. Das unterste Stockwerk war am schmalsten, das erste Stockwerk ragte ein wenig über das Erdgeschoss hinaus und je höher das Haus wurde, desto breiter ragte es hinaus. Den ansprechenden Charme verdankten die Häuser ihren kleinen Fenstern mit den in Blei gefassten Butzenscheiben und den roten, blauen oder schwarzen Holzbalken im Gemäuer.

Toms Eltern bewohnten ein Haus im Kehrrichthof. Ein kleines, verfallenes Haus, randvoll mit bettelarmen Leuten in der schmuddeligen Gegend nahe der Pudding Lane. Toms Familie hauste in einem Zimmer im dritten Stock. Das Elternbett stand in einer Ecke, Tom und seine zwei Schwestern Nan und Bet und die Großmutter durften auf dem Fußboden schlafen, wo sie gerade wollten. Zudem lagen in dem Raum noch ein Bündel fauliges Stroh und einige schäbige Decken. Morgens schob man alles in eine Ecke, damit am Abend jeder wegholen konnte, was er brauchte.

Die Zwillinge Bet und Nan waren fünfzehn Jahre alt und waren das Leben in Lumpen gewohnt. Sie waren ungebildet, wie ihre Mutter, aber ebenso gutmütig. Die bösartigen Geister der Familie bildeten der Vater und die Großmutter. John Canty war ein Dieb und seine Mutter eine Bettlerin. Sie betranken sich, fluchten oder lästerten den ganzen Tag, wenn sie sich nicht gerade mit jemandem prügelten.

Trotz ihrer Bemühungen, die Kinder zum Betteln zu zwingen, war es ihnen nicht möglich, Diebe aus ihnen zu machen. Dafür sorgte schon der alte Priester, der zwischen all dem Gesindel im Kehrrichthof lebte. Father Andrew wurde einst vom König aus seinem Amt gejagt und wann immer es sich anbot, lehrte er die Kinder den Unterschied zwischen Gut und Böse. Tom lernte bei ihm sogar Lesen und Schreiben und ein wenig Latein.

Die Begebenheiten im Hause Canty waren nichts Besonderes. Zank und Suff waren an der Tagesordnung und ebenso normal wie Hunger und Armut. Tom war nicht unglücklich dort. Er hatte es zwar schwer, bemerkte es aber gar nicht, weil es ja allen so erging wie ihm und er nichts anderes kannte. Wenn ihn abends sein Vater prügelte, weil er wieder einmal mit leeren Taschen heimkam, setzte die Großmutter gleich noch Schläge dazu. Aber wenn nachts alle schliefen, dann steckte ihm die Mutter Brot zu, das sie sich vom Mund abgespart hatte.

Tom war ganz zufrieden, vor allem im Sommer. Er bettelte gerade so lange, bis es ausreichte, um den Prügeln des Vaters zu entgehen. Bettelei war in jener Zeit strengstens untersagt und wurde ungnädig bestraft. Möglichst häufig ging er heimlich zum Priester und ließ sich von ihm Geschichten von Riesen, Feen, Zwergen, Zaubergeschöpfen, verwunschenen Schlössern und edelmütigen Prinzen und Königen erzählen. Und mehr als einmal träumte er sich nachts in eine andere, feinere Welt davon, während er in Wirklichkeit auf einem stinkenden Strohballen lag. Und bald verfolgte ihn nur noch ein Wunsch: Endlich einmal wollte er einen wahrhaftigen Prinzen treffen - mit eigenen Augen!

Stunden verbrachte er damit, in den alten Büchern des Priesters zu lesen. Was er nicht verstand, fragte er nach und bald führte seine Wissbegier, das Lesen und die Träumerei dazu, dass Toms Wesen sich langsam veränderte. Weil seine Fantasiegefährten von vornehmer Herkunft waren, begann er bald, sich seiner lumpigen Kleidung zu schämen. Öfter wünschte er sich, sauberer und besser gekleidet zu sein. Natürlich spielte er immer noch in den Gassen und er badete auch mit Freude in der Themse. Doch nicht mehr nur aus Spaß sondern auch, weil er bemerkt hatte, dass er und seine Kleider dabei sauber wurden.

Die Fantasterei und die Bücher von Königen und Prinzen übten auf Tom einen derartigen Einfluss aus, dass er sich manchmal - ohne es zu bemerken - wie ein Prinz benahm. Natürlich fanden das seine Spielkameraden lustig und verwunderlich, wenn sein Benehmen auf einmal gekünstelt und höfisch wurde. Trotzdem imponierte er dem jungen Straßenvolk immer mehr.

Das sprach sich mit der Zeit herum und man hielt Tom für einen überaus begabten Jungen. Immer häufiger kamen erwachsene Leute zu ihm, um seinen Rat zu holen. Und alle hielten ihn mit der Zeit für eine Art Wunderkind, außer seine Eltern. Die konnten so gar nichts Besonderes an ihm feststellen.

Im Kehrrichthof hatte Tom nach einiger Zeit unter den Jugendlichen so eine Art Hofstaat aufgebaut. Er fungierte als Prinz und seine Freunde mimten den Hofstaat. Toms Sehnsucht, einmal im Leben einen leibhaftigen Prinzen zu treffen wuchs beinahe ins Unermessliche.

Trotzdem bettelte er täglich ein wenig. Abends ließ er sich daheim rumschubsen und schikanieren und später träumte er auf seinem Strohballen von Prinzen und Königen, bis er einschlief. Kam er am nächsten Morgen nach einer verträumten Nacht voller edelsteingeschmückter Prinzen und grandiosen Palästen wieder zu sich, wurde ihm sein Elend noch mehr bewusst und er weinte verzweifelt.