Der Prinz und sein Beschützer

  • Autor: Twain, Mark

Bald waren der Prinz und Miles Hendon dem zornigen Gesindel entkommen. Sie schlugen sich zu Fuß durch die dunkelsten Gässchen Londons und erst als sie in der Nähe der London Bridge waren, kamen wieder größere Menschenmengen auf sie zu.

Inzwischen hatte sich die Neuigkeit vom Tod des Königs verbreitet. Hendon hielt den neuen König fest an der Hand. Überall hörte man "Der König ist tot!"

Der kleine Prinz war traurig. Denn so grausam und tyrannisch der König auch gewesen war, ihm war er stets ein liebevoller Vater gewesen. Er fühlte sich so einsam und verlassen, dass ihm Tränen über die Wangen kullerten. Doch gleichzeitig ließen die Rufe "Lang lebe König Edward VI.!" seine Augen vor Stolz aufleuchten. Insgeheim fand er es großartig, nun König zu sein.

Auf der London Bridge herrschte reges Treiben. Sie war sechshundert Jahre alt und einzigartig. Auf ihr standen Häuser, Läden und Gasthäuser - ja sogar eine Kirche. Sie war wie eine kleine Stadt für sich. Manche wurden auf der Brücke geboren und setzten nie einen Fuß von der Brücke. Sie galt als ärmliche, einfache Wohngegend. Die beiden Freunde kamen nur langsam voran. Hendons Ziel war der kleine Gasthof auf der Brücke, in dem er wohnte.

Kurz vor der Herberge wurden Hendon und sein Schützling von einer derben Stimme aufgeschreckt: "Da steckst du, Bürschchen. Noch einmal entwischst du mir nicht, das kannst du mir glauben. Und wenn ich dich grün und blau schlagen muss!" John Canty wollte den Jungen am Arm packen, doch Miles Hendon stellte sich vor ihn.

"Aber mein Freund, nicht so eilig!", sagte er.

"Mischt euch nicht ein. Der Junge ist mein Sohn", blaffte Canty zurück.

Der kleine König rief beherzt: "Er lügt! Das ist nicht wahr!"

Hendon glaubte dem Jungen, ob er nun verrückt war oder nicht. Doch dieser ekelhafte Kerl sollte ihn auf keinen Fall in seine Gewalt bekommen. Er fragte Edward, ob er bei ihm bleiben wolle.

"Oh ja. Das will ich. Ich kenne den Mann gar nicht und möchte lieber tot sein, als mit ihm gehen."

John Canty ließ nicht locker. Er wollte sich mit Gewalt seinen Jungen holen. Doch Hendon rief beherzt: "Rührt ihn nicht an! Ihr seid ein schnaufendes Stück Dreck und ich werde euch wie eine Weihnachtsgans aufspießen, wenn Ihr ihn berührt!" Dann stellte er sich vor den kleinen König und jagte mit wüsten Beschimpfungen den Vater Canty davon.

Fluchtend drehte sich John Canty um und tauchte in der Menge unter. Hendon bestellte beim Wirt eine warme Mahlzeit und begab sich mit seinem Schützling in seine Kammer hinauf. Der kleine König war erschöpft und fiel sofort aufs Bett. "Weckt mich, wenn die Tafel gerichtet ist", konnte er gerade noch murmeln, bevor er einschlief.

Hendon lächelte und gleichzeitig verwunderte es ihn, dass der kleine Junge mit einem Selbstverständnis sein Bett und seine Kammer einnahm, als würde alles ihm gehören. Ihm musste übel mitgespielt worden sein, so tapfer hält der arme Kerl seine Rolle durch. In seinem Wahn nannte er sich immer noch Prinz von Wales. Aber es war auch so, dass irgendetwas nicht zu den Lumpen passte. Seltsam, dass ich mich von Beginn an so zu ihm hingezogen fühlte, dachte Hendon bei sich. Ich werde ihn nicht im Stich lassen, schwor er sich im Stillen. Er ist ein so tapferer und mutiger kleiner Junge, ich will ihn behandeln wie einen Bruder, ihm Unterricht geben und ihn bei mir behalten.

Fürsorglich deckte er den Jungen mangels einer Decke mit seinem Wams zu. Ihm setzte die Kälte nicht so schnell zu wie dem Kind. Um sich warm zu halten, wanderte er im Zimmer auf und ab.

In Gedanken ging er die Situation noch einmal durch. Sein verwirrter Geist wird ihm übel mitspielen, dachte Hendon. Er glaubt, er sei der Prinz von Wales, der Arme. Er wird nicht begreifen, dass er sich inzwischen König nennen sollte. Und ich, ich war seit sieben Jahren nicht mehr daheim. Falls mein Vater noch lebt, wird er den Jungen bestimmt gerne aufnehmen. Auch Arthur wird ihn freundlich begrüßen. Doch mein anderer Bruder, Hugh, dieser hinterlistige Fuchs … überlegte Hendon … aber wenn der sich einmischt, dann schlage ich ihm den Schädel ein. Ich reise nach Hendon Hall und zwar gleich!

Seine Gedanken wurden durch den Hausknecht unterbrochen. Er servierte die Mahlzeit. Man merkte ihm sofort an, dass er diese Gäste unter seiner Würde hielt und es war nicht verwunderlich, dass er beim Hinausgehen die Türe laut ins Schloss fallen ließ. Da wachte der Junge natürlich auf.

Als er den Wams sah, bedankte er sich überschwänglich: "Ihr seid so überaus gut zu mir", meinte er. Dann gab er ihn zurück und stand auf. Abwartend stand er vor dem Waschtisch. "Ich möchte mich waschen, mein Herr", sagte er abwartend zu Hendon. Der lachte laut auf und meinte, dass dazu niemand eine Genehmigung bräuchte. Doch als der Junge sagte, er solle das Wasser nun endlich in die Waschschüssel leeren, da konnte Hendon nur mit größter Mühe ein Lachen unterdrücken.

Um den verwirrten Geist des Jungen nicht zu stören, beschloss er, den majestätischen Anwandlungen nachzugeben und spielte den Diener. Gerade als sich Hendon in Gegenwart des Jungen an den Tisch setzen wollte, sagte dieser: "Aber Sie wollen doch nicht in Gegenwart des Königs Platz nehmen, Sire."

Hendon wollte den verwirrten Jungen bei Laune halten und bewirtete ihn von vorne bis hinten. Nach dem zweiten Glas Wein wurde der König zugänglicher und fragte Hendon nach seiner Herkunft.

"Da gibt es nicht viel zu erzählen. Wir gehören zum niederen Adel. Mein Vater ist Freiherr, Sir Richard Hendon von Hendon Hall. Das liegt in der Grafschaft Kent. Er ist ein toleranter Mensch und sehr begütert. Meine Mutter starb, als ich noch klein war. Mein älterer Bruder Arthur gleicht meinem Vater. Mein zweiter Bruder, Hugh, ist jünger als ich. Er ist bösartig, habsüchtig und verräterisch seit seiner Geburt. Zuletzt sah ich ihn, als er neunzehn Jahre alt war. Meine Cousine Lady Edith war sechzehn, als ich ging. Auch sie lebte in meinem Elternhaus. Die hübsche sanftmütige Tochter eines Grafen war zugleich Alleinerbin eines ansehnlichen Vermögens. Mein Vater war ihr Vormund.

Lady Edith und ich, wir liebten uns. Aber sie war von Kindheit an für Arthur bestimmt. Mein Vater hätte einer Entlobung niemals zugestimmt. Arthur liebte jedoch auch eine andere und wir ermutigten uns gegenseitig, dass eines Tages unsere Wünsche sicher erfüllt würden.

Hugh dagegen liebte das Vermögen von Lady Edith, auch wenn er alle glauben machen wollte, er liebte seine Cousine. Sie schenkte ihm keinen Glauben, doch mein Vater ließ sich von ihm täuschen. Ihm war er immer mehr zugetan als mir und Arthur vertraute seinem jüngsten Bruder blind. Es war schon immer so, dass Eltern ihre Sorgenkinder mehr liebten als die anderen. Und Hugh war Meister im Lügen.

Ich selbst war ein wilder unangepasster Junge. Doch meine Streiche schadeten niemandem; sie waren unschuldig und harmlos und sie machten meiner Familie keine Schande.

Doch Hugh wusste, wie er meine Fehler ausnutzen konnte. Er wollte unbedingt Erbe von Hendon Hall werden. Mit Arthurs Gesundheit stand es nicht zum besten. Und so musste er es nur noch schaffen, mich aus dem Weg zu räumen. So verdrehte er meine unschuldigen Streiche derart, dass alle glauben mussten, ich hätte böse hinterhältige Beweggründe und einen gemeinen Charakter. Er trieb es so weit, dass mein Vater mich für drei Jahre in die Verbannung schickte. Hugh versteckte in meinem Zimmer eine Strickleiter und mit Hilfe einiger bestochener Bediensteten schaffte er es, meinen Vater und die anderen Glauben zu machen, ich hätte Edith entführen wollen, um sie gegen den ausdrücklichen Wunsch meines Vaters zu heiraten.

Nach dieser Zeit kämpfte ich in verschiedenen Kriegen überall auf dem Kontinent. Ich führte ein abenteuerliches Leben, das viel Not und Entbehrungen mit sich brachte. Bei der letzten Schlacht wurde ich gefangen genommen. Inzwischen war ich sieben Jahre nicht mehr auf Hendon Hall. Dies ist meine trostlose Geschichte, hoher Herr."

Der kleine König fühlte mit ihm. "Man hat Euch übel mitgespielt. Ich will Euch zu eurem Recht verhelfen, das schwöre ich, so war ich der König bin!"

Durch die traurige Geschichte seines Retters inspiriert erzählte Edward nun seine Geschichte. Miles staunte nicht schlecht, mit welcher Fantasie dieser Junge eine derart abenteuerliche Fabel aus dem Nichts zusammenspinnen konnte. Ein armer kranker Kerl, dachte er bei sich und beschloss, dass der Junge fortan als sein kleiner Bruder bei ihm bleiben sollte. Hendon sah den Tag kommen, an dem der Junge geheilt sein würde und dann könnte er voller Stolz sagen: "Das ist mein Junge! Als zerlumpter Bettelknabe nahm ich ihn auf und dann merkte ich, was in ihm steckte."

Der König unterbrach Miles Gedanken und sprach: "Ihr habt mich vor Schimpf und Schande bewahrt. Ihr habt einen Wunsch frei. Wenn irgend möglich, werde ich ihn gewähren."

Miles überlegte kurz und beschloss, die Gelegenheit zu nutzen: "Ich fasse mir ein Herz und wünsche mir. Bitte gewährt mir die große Gunst, dass ich und meine Nachkommen in Eurer Gegenwart sitzen dürfen!"

Feierlich gewährte der kleine König Edward diesen Wunsch. Hendon ließ sich daraufhin schnellstens auf einen Schemel plumpsen. Er war stolz auf sich und seinen Einfall. Die Beine schmerzten und er hätte nicht gewusst, wie er die nächsten Wochen, bis zu Genesung des Jungen, im Stehen hätte verbringen sollen. Das hätte er nicht ausgehalten.

"Es ist ja nur ein Hirngespinst", murmelte er vor sich hin, "aber ich darf nicht lachen. Für den Jungen ist es Wirklichkeit. Und sein Verhalten, auch wenn sein Geist verwirrt ist, zeugt von der liebevollen Großmütigkeit seines Wesens."