Der Prinz und der Einsiedler

  • Autor: Twain, Mark

Der kleine König rannte so lange, bis er an einen Waldrand kam. Als er zurückblickte, erkannte er undeutlich in weiter Ferne zwei Gestalten. Ängstlich verzog er sich ins Dunkle des Waldes. Die feierliche Stille bedrückte ihn. Es war, als irrten Geister von Verstorbenen umher und gäben Klagelaute von sich. Bei diesen gespenstischen Geräuschen schauderte der kleine König. Er wusste nicht, was er schlimmer fand, die Stille oder die Geräusche.

Eigentlich wollte der kleine König sich im Dickicht verkriechen und einige Stunden schlafen. Doch da er jämmerlich fror, wanderte er weiter geradeaus. Entgegen seiner Hoffnung einen Pfad zu finden, gelangte er immer tiefer in den dunklen Wald. Er war umgeben von Dornenbüschen und stolperte über Wurzeln.

Plötzlich erkannte er ein Licht. Erfreut schlich er in Richtung der dürftigen Hütte, deren Fenster nicht einmal verglast waren. Der König lauschte dem Gemurmel, das herausdrang und erkannte, dass hier jemand betete. Deshalb traute er sich, heimlich durchs Fenster zu blicken. Der Raum war einfach und das Inventar kümmerlich. Im Kamin glommen die Reste eines Feuers.

Der in Schaffell gekleidete hagere Alte kauerte vor einem beleuchteten Reliquienschrein. Neben ihm war eine Holzkiste auf der ein Buch und ein Totenschädel lagen. Der kleine Könige meinte, dass er es schlimmer hätte treffen können, als einem frommen Einsiedler zu begegnen. Als der Einzelgänger sein Gebet beendet hatte, klopfte der König.

Der Mann rief mit tiefer Stimme: "Tritt ein", "doch hier stehst du auf geheiligtem Boden; deshalb lass die Sünde draußen!"

Der König blieb abwartend unter der Tür stehen, bis er gefragt wurde, wer er sei. "Ich bin der König!" erklärte er.

Der Einsiedler hieß ihn herzlich willkommen und nahm ihn gastfreundlich auf. Er betrachtete den Fremden und begrüßte ihn: "Schon einige Menschen suchten bei mir Zuflucht. Doch nie war einer würdiger, als ein König, der in Lumpen gekleidet auf Krone und edlen Prunk verzichtet. Du sollst hier Frieden finden bis zum Ende deiner Tage!"

Der kleine König kam gar nicht dazu, die beherzte Rede zu unterbrechen. Der Einsiedler ereiferte sich über die Eitelkeiten und Verlockungen der Welt und die Erhabenheit des Jenseits. Überhaupt schien er ein komischer Kauz zu sein, der davon überzeugt war, man könne von Kräutern und trocken Brot leben und als Kleidung wären Tierfelle ausreichend.

Während der Mann wieder in sein Murmeln verfiel, wollte Edward seine Lage erklären. Doch der Alte schien ihn nicht zu beachten. Auf einmal kam er zu ihm und flüsterte ihm ins Ohr: "Ich sage dir nun mein Geheimnis! Ich bin ein Erzengel!" Schnell vergewisserte er sich, ob ihm auch niemand durchs unverglaste Fenster zugehört hatte.

Der kleine König erschrak und wünschte sich fast, bei den Landstreichern geblieben zu sein. Der Einsiedler wurde ihm unheimlich. Womöglich war er sogar verrückt!

Doch der Mann ließ sich nicht abhalten, den Rest der Geschichte loszuwerden. "Vor zwanzig Jahren hatte ich einen Traum. Der Himmel offenbarte ihn mir. Ich wäre Papst geworden, doch der König hat mein Kloster geschlossen und meine Brüder und mich in die Welt gestoßen. Nun bin ich ein armer, unbekannter Mönch." Dann bejammerte er sich selbst und ließ gelegentlich eher unheilige Flüche los.

Beinahe eine Stunde lang verweilte der kleine König in Todesangst. Danach wurde der Einsiedler sanfter. Er verwandelte sich wieder in den Erzengel und versorgte die abgeschürfte Haut Edwards, dass dieser dem eigenartigen Alten beinahe wieder zutraulich gesinnt war.

Nach einer gemeinsamen Mahlzeit und einem Abendgebet brachte der Mann den Knaben zu Bett, fürsorglich wie eine Mutter. Danach kreisten jedoch seine Gedanken um seinen neuen Gast. Plötzlich sprang er auf und ging noch einmal ins Nebenzimmer. "Welcher König bist du?", fragte er den schlafenden König.

"Der König von England."

"Von England? Aber dann ist Heinrich ja tot!"

"Ja - und ich bin sein Sohn."

Da wandelte sich die Stimmung schlagartig. Mit wutverzerrtem Gesicht starrte der Einsiedler auf den schlafenden Jungen herab. "Dein Vater raubte uns das Dach überm Kopf, weißt du das überhaupt?"

Doch der kleine König schlief tief und fest. Er lächelte während des Schlafs, was den Alten noch grantiger machte. Am liebsten hätte er ihn erstochen. Doch was, wenn er erwachte und schrie. Draußen rauschte der Wind heulend um die Bäume. Der Alte sinnierte über sein unbequemes Leben, das er alleine dem alten König zu verdanken hatte. Ihm war nach Rache.

Schließlich wusste er, was zu tun war. Mit einem Strick kehrte er ans Bett zurück und fesselte den schlafenden Knaben. Edward erwachte nicht, nur als der Alte ihm die Hände zusammenbinden wollte, zog er immer wieder eine Hand weg. Dem eingebildeten Erzengel perlte bereits der Schweiß auf der Stirn. Doch irgendwann faltete der König die Hände im Schlaf und es war ein Leichtes, sie zusammenzuknoten.