Das Opfer

  • Autor: Twain, Mark

Miles hatte die Gefängniszelle bald satt. Da erschien ihm selbst der Gang zur Gerichtsverhandlung eine Abwechslung. Er glaubte, fast jedes Urteil akzeptieren zu können, wenn er nur nicht mehr in den Kerker zurück müsste. Er wurde dann aber doch zornig, weil der Richter ihm zwei Stunden Pranger abverlangte.

Man nannte ihn einen "kraftvollen Landstreicher", der zu faul zum Arbeiten sei. Außerdem wurde ihm angekreidet, Hugh Hendon angegriffen zu haben. Als Miles erklären wollte, dass er selbst der rechtmäßige Erbe von Hendon Hall sei, winkte der Richter mit einer abweisenden Geste ab.

Natürlich wehrte sich Miles auf dem Weg zum Pranger, was ihm zusätzliche Hiebe einbrachte. Der kleine König musste am Ende der langen Prozession gehen. Er hatte bei der Urteilsverkündung Glück gehabt und kam mit einer Belehrung und einer Verwarnung davon, angesichts seines kindlichen Alters.

Fieberhaft probierte er, zwischen den Leuten hindurchzuschlüpfen, was ihm einige List abforderte. Dann musste er erkennen, dass das Volk seinen armen Ritter verspottete, ihn gar verhöhnte - den Diener des Königs von England! Edward hatte bislang nicht realisiert, was dieses Urteil wirklich bedeutet.

Erst als ein Ei an Hendons Wange zerplatzte, stieg Zorn in ihm hoch. Das schmutzige Pack kreischte vor Freude. Der kleine König rannte zum Gerichtsbüttel und rief: "Lasst diesen Mann frei! Schande über Euch, der Mann ist mein Diener. Ich bin …"

Hendon rief, er möge still sein und dem Büttel rief er zu, dass sein Mündel wahnsinnig sei. Doch der Gerichtsdiener nahm den kleinen König sowieso nicht ernst. Hugh, der gerade dazu kam, verordnete, dem kleinen König einige Hiebe zu verpassen. Im Gedanken an diese ungeheuerliche Schmach, die ihm drohte, konnte er sich nicht einmal wehren. Es gab keine Hilfe mehr - ein König, der Schläge hinnehmen musste!

"Lasst den Jungen los und schlagt mich dafür!", schrie Hendon im letzten Moment. "Er ist so zart und jung …"

Hugh nahm das Angebot hämisch grinsend an. Als der kleine König sich wehren wollte, um seinen Freund zu schützen, rief Hugh: "Halt den Mund. Für jedes Wort, das dir über die Lippen kommt, gibt es für deinen Freund sechs Schläge mehr."

Mit entblößtem Rücken wurde Hendon aus dem Block geholt und auf den Platz gestellt. Die Peitsche hieb derart auf ihn nieder, dass der kleine König das Gesicht abwandte. Majestätische Tränen rannen über seine Wangen. Niemals würde er diesen Treuebeweis vergessen können. Ebenso wenig würde er die Gräueltaten des Pöbels vergessen.

Schweigend ließ Miles Hendon die Peitschenhiebe über sich ergehen. Sein selbstloser Einsatz für den Knaben hatte ihm beim Volk bereits zu Achtung verholfen. Jetzt, da er seine Schmach würdevoll hinnahm, verstummte der Spott der Leute vollends. Als man ihn wieder in den Block sperrte, herrschte respektvolle Stille auf dem Platz.

Der kleine König trat zu ihm und flüsterte: "Niemand kann den Adel der Seele verleihen. Der Allmächtige hat Euch reich damit beschenkt. Nur ein König auf Erden mag eure Würde bestätigen können." Edward hob die Peitsche auf und berührte vorsichtig Hendons blutende Schulter: "Der König von England ernennt Euch zum Grafen."

Gerührt blickte Hendon auf seinen Freund nieder. Gleichzeitig musste er sich ein Lächeln verkneifen, ob dieser skurrilen Situation. Da stand er halb nackt und blutend am Pranger und wurde von einem verwirrten kleinen Jungen zum Grafen ernannt. Eine wahre Komödie, dachte er. Doch wusste er sie zu schätzen, die von Herzen kommende Ehrerweisung.

Die Menge teilte sich schweigend, als der tyrannische Sir Hugh davonritt. Danach schloss sich der Reigen um den Pranger wieder schweigend, bis Miles Strafzeit vorbei war. Er wurde aufgefordert, die Grafschaft sofort zu verlassen und nie wieder hier aufzutauchen. Seine Habseligkeiten bekam er ausgehändigt. So ritt er, gefolgt vom kleinen König auf die Leute zu. Auch ihm machten sie respektvoll Platz.

Miles ritt langsam vor sich hin, gänzlich in Gedanken versunken. Er überlegte, was er machen sollte. Er würde die Hilfe eines einflussreichen Menschen brauchen, wenn er sein Erbe nicht verlieren wollte. Ihm fielen wieder die Informationen Andrews ein, der die Menschenfreundlichkeiten des jungen und gütigen Königs lobte. Wenn er zu ihm vorgelassen würde, vielleicht würde er ihm zu Gerechtigkeit verhelfen.

Immer mehr hielt er sich an dieser Hoffnung fest. Aber er hatte ja noch Zeit, denn erst mussten sie einmal nach London reiten. Ein alter Freund seines Vaters war Aufseher oder so was Ähnliches bei Hofe gewesen, vielleicht könnte er den um Hilfe bitten. Mal sehen - wie hieß er doch gleich - Humphrey, Sir Humphrey Marlow. Ihn musste er finden.

Nun, da Miles wieder ein Ziel vor Augen hatte, wich seine Mutlosigkeit. Das Dorf war inzwischen weit weg. Mit frischer Energie wandte er sich zum kleinen König um, der gedankenverloren vor sich hinritt. Miles verspürte Zweifel, ob der Junge wirklich in die Stadt zurückwollte, in der ihm so übel mitgespielt wurde.

"Majestät, ich warte auf eure Befehle", unterbrach Miles die Stille, "wohin soll unser Weg führen?"

"Nach London!"

Überrascht, dennoch zufrieden lächelnd, ritt Hendon weiter. Ihre Reise nach London verlief ohne größere Erschwernisse. Lediglich die Ankunft in London verlief turbulent. Am Abend des 19. Februars kamen sie so gegen zehn Uhr auf der London Bridge an, auf der eine laut kreischende, fröhliche Menschenmenge verweilte. Wieder einmal schien ganz London zu feiern.

Es war der Vorabend der Krönungsfeier. Die Menschen feierten ausgelassen im Schein der Fackeln. Berauscht und ausgelassen schwärmten sie umher. Voll von Bier und erfüllt von Vaterlandsliebe stritten sie und prügelten sich. Es dauerte nicht lange, da hatten sich Miles Hendon und der kleine König verloren im Tumult.