Eine Mutter kämpft

  • Autor: Beecher Stowe, Harriet

Man konnte sich kaum ein verlasseneres und hilfloseres Menschkind vorstellen als Elisa, als sie Onkel Toms Hütte den Rücken gekehrt hatte. Ihr Mann fand sich in Verzweiflung und Not, ihr Kind in höchster Gefahr und sie selbst auf der Flucht - nie hätte sie sich träumen lassen, dass es so weit kommen würde. Mit eiligen Schritten ließ sie alles hinter sich, was ihr vertraut und lieb war, die Farm mit ihren Menschen, die Bäume und Büsche, die Tiere. Ohne zu zögernd schritt sie aus, das Kind in den Armen, sein Gewicht kaum wahrnehmend. Harry war erschöpft eingeschlafen, nachdem Elisa ihm versichert hatte, dass er in Sicherheit sei. Nun fühlte sie seine warmen Ärmchen und seinen sanften Atem an ihrem Hals. Kraft durchströmte sie und zeigte, wie gewaltig die Herrschaft des Geistes über den Körper sein kann. Ohne Pause wanderte sie bis zum Morgengrauen.

Als sich die Straße langsam belebte, wurde ihr klar, dass sie mit ihrer Hast und Eile Verdacht erregen könnte. Sie weckte Harry und nahm ihn an die Hand. Um dennoch schnell weiter zu kommen, nahm sie aus ihrem Bündel einen Apfel und rollte ihn vor dem Kind her. Harry jauchzte und rannte dem Apfel hinterher. So schafften sie manche halbe Meile. Als sie einem klaren Bach vorbeikamen, kletterten Elisa und Harry über einen Zaun und setzten sich hinter einem großen Stein ins Gras. Dort waren sie vor den Blicken anderer Reisenden geschützt. Harry hatte Hunger und Durst und so legte Elisa mit ihm eine kleine Rast ein. Kaum hatte Harry aufgegessen, eilte Elisa mit dem Kind weiter. Die Gegend, in der sie persönlich bekannt war, lag nun weit hinter ihr und Elisa dankte Gott, dass sie selbst und auch ihr Kind von so heller Hautfarbe waren. Nur ein wirklich kritischer Blick hätte den Verdacht aufkommen lassen, dass hier eine Sklavin auf der Flucht war. Mutig wanderte Elisa weiter und kaufte schließlich bei einem kleinen Farmhaus für sich und den Kleinen etwas zu essen.

Sie waren den ganzen Tag unterwegs und erreichten kurz vor Sonnenuntergang endlich das Dorf T. am Ohio. Elisa war todmüde und hatte wunde Füße, aber sie war bereit, weiter um ihr Kind zu kämpfen. Der Ohio strömte wie der Jordan zwischen Elisa und dem gelobten Land der Freiheit dahin. Es war Vorfrühling und schwere Eisschollen schwammen träge auf dem grünen Gewässer. Elisa betrachtete den Fluss mit großer Sorge. Würde eine Fähre übersetzen können?

In einem kleinen Wirtshaus kehrte Elisa ein und erkundigte sich, ob eine Fähre hinüber fahren würde. Die Wirtin, die Harry niedlich fand, war sehr freundlich, machte Elisa aber wenig Hoffnung, dass sie auf die andere Seite gelangen könne. "Aber es gibt da einen Mann, der will weiter unten heute mit Stückgut übersetzen. Er kommt zum Nachtmahl hier vorbei. Am Besten setzen sie sich und warten auf ihn. Und das Kind bringen wir ins Bett. Es scheint sehr erschöpft zu sein." Elisa nickte dankbar und die Wirtin legte Harry in einem kleinen Schlafzimmer in ein bequemes Bett und deckte ihn fest zu. Elisa saß an seinem Bett und hielt seine Hand, fand aber selber keine Ruhe, zu sehr fürchtete sie die Verfolger, die sicherlich längst schon hinter ihr jagten. An dieser Stelle verlassen wir Elisa und sehen uns nach ihren Verfolgern um.

Mrs. Shelby hatte dem Händler versprochen, dass die Köchin das Essen so schnell wie möglich auf den Tisch bringen würde. Es stellte sich bald heraus, dass zu jedem Handel zwei gehören und Tante Chloe keineswegs dazu bereit war, von ihrer umständlichen Routine abzuweichen. So rührte sie in Töpfen, schmeckte hier ab, gab da noch einen Befehl und alles dauerte unendlich lange. Dazu kam, dass jedes Missgeschick, das überhaupt passieren kann, passierte und sich das Essen so noch mehr verschob. Da fiel einer mit der Soße hin und Tante Chloe musste eine neue Soße anrühren, da fiel ein anderer mit dem Wasserkrug auf die Nase und musste erst neues Wasser vom Brunnen holen. Haley konnte sich bald vor Ungeduld nicht mehr halten, was immer triumphierend in der Küche gemeldet wurde.

"Das geschieht ihm Recht!", sagte Tante Chloe. "Wenn erst der Herrgott nach ihm schickt, dann wird er ein ganz anderes Gesicht machen. Er hat viele Herzen gebrochen. Wisst ihr noch, was der junge Herr aus der Offenbarung vorgelesen hat? Die Seelen schreien vor dem Altar. Sie schreien um Rache. Ich bin sicher, dass der Herr sie einst erhören wird." "Wird er ewig in der Finsternis schmachten?", fragte Andy ängstlich. "Das würde ich gerne sehen.", rief der kleine kecke Jack. Da ließ sich eine tiefe Stimme vernehmen. "Sagt so etwas nicht, Kinder. Ewig ist ein wirklich schreckliches Wort. Das darf man keinem menschlichen Geschöpf wünschen." Tom stand plötzlich in der Küche und blickte in die Runde. "Aber er ist doch ein Seelenverkäufer.", begehrte Andy auf. "Er ist wirklich gottlos." Tante Chloe nickte unter Tränen. "Er reißt den Säugling von der Mutterbrust. Und er reißt Mann und Frau auseinander. Er bricht uns das Herz, ohne sich darum zu kümmern. Nein, er trinkt und raucht und ist guter Dinge. Wozu ist der Teufel nütze, wenn er nicht Menschen wie diesen Haley holt?" Tante Chloe weinte und wischte sich das Gesicht mit der Schürze ab. Tom legte ihr die Hand auf die Schulter. "Du musst für jene beten, auch wenn du glaubst, es nicht zu können. Die Natur ist stark, aber Gottes Gnade ist stärker. Was haben solche Menschen für eine Seele, wenn sie diese Dinge tun? Danke Gott, dass du nicht bist wie diese Menschen. Ich lasse mich lieber verkaufen, als das zu verantworten, was dieser Mann auf dem Gewissen hat." Tom sah seine Frau an. "Ich bin froh, dass der Herr nicht weg geritten ist, wie er es erst vorhatte. Das hätte mich sehr enttäuscht. Ich kenne ihn von Kindesbeinen an. Ich hätte mich im Stich gelassen gefühlt und das wäre schwerer gewesen als alles Verkaufen. Aber nun konnte ich mit ihm sprechen. Ich habe mich mit Gottes Willen ausgesöhnt. Den Herrn trifft keine Schuld. Er hatte einfach keine andere Wahl. Aber was wird hier werden, wenn ich fort bin? Der Herr kann nicht überall seine Augen haben, so wie ich es konnte. Und die Jungen sind nicht schlecht, aber doch sehr leichtsinnig. Ich fürchte, hier geht alles drunter und drüber, wenn ich fort muss." Die Klingel ertönte und Tom wurde nach oben gerufen.

Herr Shelby trat zu Tom und sagte: "Tom, dies hier ist Mr. Haley, der Mann, dem du nun gehörst. Er muss heute noch anderen Geschäften nachgehen und du hast den Tag für dich. Ich habe mich aber mit tausend Dollar diesem Herrn verpfändet, falls du nicht da sein solltest, wenn er dich holen kommt. Ich finde, das solltest du wissen." Haley nickte. "Und dass du deinem alten Herrn nicht einen von euren üblen Sklavenstreichen spielst. Wenn du nicht da bist, muss er zahlen. Bis auf den letzten Cent." Herr Shelby sah Tom an. "Geh du nur." Haley schüttelte den Kopf. "Ich würde keinem von denen trauen. Die sind doch glatt wie die Aale." Tom richtete sich bei den hässlichen Worten des Händlers auf. "Gnädiger Herr, ich war acht Jahre alt, als man mir sagte, dass ihr nun mein neuer Herr seid, auf den ich aufzupassen habe. Ihr wart noch kein Jahr und ich habe euch seitdem nie belogen oder betrogen. Ich habe nie mein Wort gebrochen." Herrn Shelby standen Tränen in den Augen als er antwortete: "Du hast Recht Tom. Du bist eine treue Seele. Ich wünschte, es stände in meiner Macht, dich zu behalten und dafür zu sorgen, dass dich keine Menschenseele mehr kauft." Frau Shelby fügte hinzu: "Wenn wir über die nötigen Mittel verfügen, dann werden wir dich auslösen. Haley wird sich merken, an wen du verkaufst wirst." Der Händler lachte schmierig und sagte vertraulich: "Gern will ich dann wieder ein Geschäft mit ihnen machen. Und übers Jahr wird er noch nicht so abgenutzt sein. Ob stromauf oder stromab, solange es nur ein guter Handel bleibt. Ich will ja schließlich auch nur leben."

Nach dem Mittagessen brachten Sam und Andy die Pferde. "Wir nehmen den direkten Weg zum Fluss.", ordnete Haley an. Sam blinzelte Andy verschmitzt zu. "Das ist eine gute Idee, Herr. Aber es gibt zwei Wege zum Fluss. Den Dreckweg und die Landstraße. Welchen Weg will der Herr einschlagen?" Haley sah die beiden zweifelnd an. "Wenn ihr nur nicht so verdammte Lügner wärt.", murmelte er. "Der Dreckweg ist zu einsam.", sagte Andy zu Sam. "Sie wird den glatten Weg gegangen sein." Sam schüttelte den Kopf. "Die Weiber sind seltsam. Die versteht man nie. Aber der Dreckweg ist wirklich einsam." Er blinzelte Andy erneut zu. Haley überlegte. "Sie wird natürlich den einsamen Weg gegangen sein. Den nehmen wir auch. Auf die Pferde." Sam hob abwehrend die Hände. "Ach Herr, lasst uns lieber den glatten Weg gehen. Lizzy hat sicher nicht den Dreckweg genommen. Der ist einsam und Lizzy hat viel Angst. Außerdem kenne ich den Weg gar nicht genau. Ich bin ihn nie zu Ende gegangen und vielleicht verirren wir uns und wissen nicht, wo wir heraus kommen. Ich möchte doch lieber die Landstraße nehmen." Haley sah Sam an. "Papperlapapp! Wir reiten diesen Weg und damit basta!" Sam versuchte erneut, Haley vermeintlich von diesem Weg abzubringen und sagte: "Aber dort soll es viele Zäune geben, Herr." Haley hörte ihm gar nicht mehr zu. Er nahm an, dass Sam den Dreckweg nur versehentlich erwähnt hatte und nun versuchen wollte, das Missgeschick wieder auszubügeln. Haley war sicher, dass Sam Elisa schützen wollte und nahm aus diesem Grunde nun den alten Weg, den so genannten Dreckweg.

Früher war dieser Weg die Verbindung zum Fluss gewesen. Seid die neue Straße gebaut war, benutzte aber kaum jemand diesen Weg, der ungefähr eine Stunde lang offen verlief, dann aber von vielen Zäunen und Farmgattern versperrt wurde. Sam wusste davon, im Gegensatz zu Andy, der den Weg nicht kannte. Sam ritt unterwürfig neben Haley her und beschwerte sich nur manchmal und sehr leise über den schlechten Weg und wies darauf hin, dass Jerry einen verletzten Huf gehabt habe. "Halt den Mund!", fuhr Haley ihn an. "Ihr werdet mich von diesem Weg nicht abbringen." Sam nickte demütig. "Der Herr muss seinem eigenen Willen folgen." Dabei warf er Andy einen triumphierenden Blick zu. Die ganze Zeit tat er so, als würde er auf der Lauer liegen - er glaubte Lizzy hinter einem Gebüsch zu sehen oder am Gipfel eines Hügels eine Mädchenhaube erspäht zu haben. Immer waren diese Zwischenfälle an besonders holperigen Wegstellen und die Beschleunigung des Tempos war für alle anstrengend und aufreibend. Nach einer Stunde etwa endete der Weg an einer großen Scheune, die zu einer Farm gehört. Keine Menschenseele war zu sehen, alle waren auf den Feldern. Die Reise auf diesem Weg war offenkundig zu Ende. "Du Schurke.", schrie Haley. "Das hast du gewusst." Sam schaute den Händler unschuldig an. "Ich habe doch die ganze Zeit gesagt, dass wie diesen Weg besser nicht nehmen sollten. Andy hat es gehört." Andy nickte genauso unschuldig und der gefoppte Händler musste einsehen, dass er den beiden in die Falle gegangen war. Er konnte nichts tun, außer seinen Ärger hinunter zu schlucken, kehrt zu machen und den Weg zur Landstraße zu suchen.

Trotz aller Bemühungen von Sam und Andy erreichten die drei Männer das Wirthaus, in dem sich Elisa mit Harry aufhielt nur drei Viertelstunden später, nachdem Elisa Harry zum Schlafen niedergelegt hatte. Sam ritt voraus und sein schnelles Auge erkannte Elisa, die am Fenster des Wirtshaus stand und nach dem Mann Ausschau hielt, der über den Fluss wollte. In diesem gefährlichen Moment ließ Sam sich den Hut vom Kopf wehen und stieß daraufhin einen furchtbaren Schrei aus, so dass Haley und Andy zusammenzuckten und Elisa sich blitzschnell zurückzog. Aufmerksam sah sie aus sicherer Entfernung durch das Fenster und erkannte ihre Verfolger.

Sie riss Harry aus dem Bett und wandte sich zu der Seitentür des Zimmers, die direkt zum Fluss führte. Sie öffnete die Tür und jagte die Böschung hinab zum Fluss, als Haley sie entdeckte. Mit einem Schrei warf er sich vom Pferd und rief nach Sam und Andy. Elisa schien zu fliegen und war innerhalb weniger Sekunden am Wasser, aber Haley blieb ihr auf den Fersen. Da sprang Elisa mit der Kraft, die Gott nur den Verzweifelten verleiht mit einem lauten Schrei und einem gewaltigem Satz über das trübe Wasser auf eine treibende Eisscholle. Das Eis krachte und schwankte, aber Elisa schien das alles nicht zu kümmern. Fest presste sie Harry an ihre Brust und setze ihren Weg über die Eisschollen fort - stolpernd, fallend und sich immer wieder aufraffend. Sie verlor ihre Schuhe und zerriss sich die Strümpfe. Blut färbte das Eis rot. Elisa lief weiter, bis sie schließlich auf der anderen Ohioseite einen Mann sah; einen Mann, den sie kannte, denn er besaß eine Farm in der Nähe ihrer alten Heimat. "Mr. Symmes. Oh, Mr. Symmes rettet mich. Bitte, rettet mich." Der Farmer eilte zum Ufer und half ihr an Land. "Nanu? Ist das nicht die Elisa von den Shelbys?" Elisa brach zusammen und schluchzte: "Versteckt mich! Seht ihr den Mann dort drüben? Er hat meinen Harry gekauft. Der Herr konnte nichts dafür, er musste es tun. Aber ich konnte das nicht zulassen. Oh, bitte, verbergt mich." Sie schluchzte und weinte. "Mr. Symmes, ihr habt doch selbst einen kleinen Sohn!" Der Farmer sah Elisa mitleidig an und nickte. "Das ist wahr. Aber nun lasst euch erst mal die Uferböschung hinauf helfen." Als sie oben angekommen waren, sagte der Farmer: "Ich würde dir zwar gerne helfen, aber ich kann dich nicht verstecken. Siehst du dort vorne das große weiße Haus? Dort geh' hin. Sie kennen sich mit Problemen wie dem deinen aus. Mehr kann ich nicht tun für dich und ich hoffe, Shelby nimmt es mir nicht übel. Aber sollte er je eines meiner Mädchen in so einer Situation finden, dann kann er's mir vergelten. Außerdem will ich für niemanden den Jäger spielen." Er verabschiedete sich von Elisa, die auf das weiße Haus zulief.

Haley, Sam und Andy standen immer noch wie vom Donner gerührt auf der anderen Seite des Flusses. Zu aufregend war Elisas Flucht über die Eisschollen gewesen. "Das Mädchen muss den Teufel im Leib haben. Sie sprang ja wie eine wilde Katze!", sagte Haley. Sam kratzte sich hinter dem Ohr. "Ich hoffe, wir müssen ihr nicht auf diesem Weg nacheilen. Ich glaube kaum, dass ich mir das zutraue. Und doch sah es so komisch aus, wie sie sprang und hüpfte; bautz, kracks, platsch." Er und Andy brachen in helles Gelächter aus, froh darüber, dass Elisa für den Augenblick entwischt war. Haley wurde rot vor Zorn. "Ihr sollt auf der anderen Seite eures Gesichtes lachen!", schrie er und zückte seine Peitsche, um die beiden zu versohlen. Andy und Sam rannten kreischend davon und sprangen auf die Pferde, ehe Haley sie erreichen konnte. "Wir empfehlen uns. Wir werden daheim erwartet und können hier ja doch nichts mehr tun. Über Lizzys Brücke können wir kaum reiten." In vollem Galopp ritten sie davon und ihr Gelächter verhallte im Wind.