Der Tod

  • Autor: Beecher Stowe, Harriet

Laute Ausrufe der Entrüstungen drangen aus Miss Ophelias Zimmer. Sie war gerade von einer Besorgung zurückgekehrt und hatte Topsy eingeschlossen und ihr einen Choral zum Auswendiglernen gegeben. Nun zerrte Miss Ophelia Topsy hinter sich her durch das Treppenhaus, hinunter zu St. Clare. "Ich habe es satt, mit diesem Kind. Es hat meinen Haubenputz in Stücke geschnitten, um daraus Puppenkleider zu machen. So was habe ich noch nie erlebt." "Ich habe doch gesagt, dass man bei diesen Leuten nur mit Strenge vorankommt.", erklärte Marie. "Lass' sie gründlich auspeitschen, das wird sie sich merken." Miss Ophelia schüttelte den Kopf. "Ich will nicht, dass man sie so behandelt. Aber ich weiß auch nicht mehr, was ich noch machen soll."

Eva hatte der Szenen schweigend beigewohnt. Nun nahm sie Topsy an der Hand und führte sie hinaus. Miss Ophelia sah St. Clare fragend an. Der aber zuckte mit Schultern. Schließlich erhob er sich und schlich den beiden Kindern hinterher. Sie hatten sich auf den Holzfußboden der Veranda gesetzt.

"Warum benimmst du dich so grässlich? Hast du niemanden lieb?", fragte Eva.

"Ich liebe Bonbons und so... mich hat keiner lieb. Miss Ophelia auch nicht. Sie findet mich schrecklich, weil ich schwarz bin. Aber das ist mir egal." Eva umarmte Topsy. "Aber ich hab' dich lieb. Kannst du nicht mir zuliebe ein bisschen netter sein? Dann kommst du auch in den Himmel und kannst zu den glänzenden Engeln gehören. Willst du das?" Topsy nickte aufgeregt. "Oh, liebes Fräulein Eva. Ich will mir Mühe geben. Bisher war mir alles egal, aber jetzt will ich es versuchen."

Das war das letzte Mal, dass Eva unbeschwert im Haus herumgelaufen war. Ihre Kräfte schwanden und bald ruhte sie meistens auf einer kleinen Liegestatt am offenen Fenster. Topsy brachte Eva jeden Tag frische Blumen. Eines Abends, als ihre Mutter bei ihr war, sagte sie: "Mama, ich möchte mir einen Teil meines Haares abschneiden lassen. Ich möchte jedem meiner Freunde eine Locke schenken, solange ich es noch selber kann." "Kind, du hast aber auch immer Einfälle!", sagte Marie, aber sie erlaubte es. Miss Ophelia kam und schnitt die Locken ab. Dann ließ Eva die Dienerschaft rufen.

"Ich habe euch rufen lassen, meine lieben Freunde, weil ich euch verlassen werde.", begann Eva mit klarer Stimme, als alle um ihr Bett versammelt waren. "Ich habe euch lieb und ich will von Eurer Seele sprechen. Denkt nicht nur an diese Welt. Denkt auch an die schöne Welt, in der Jesus wohnt. Ich gehe dorthin und werde auf euch warten. Ihr dürft nicht faul oder leichtsinnig sein. Ihr müsst immer daran denken, dass jeder von euch ein Engel werden kann." Die Männer und Frauen um Evas Bett waren sehr gerührt und einigen liefen die Tränen über das Gesicht. Als Eva alle Locken verschenkt hatte, glitt ein glückliches Lächeln über ihr Gesicht. Sie sank in ihre Kissen zurück, während alle wieder an die Arbeit gingen.

Von nun an wurde Eva täglich schwächer. Es gab keine Hoffnung mehr für eine Besserung. Ihr Zimmer wurde zur Krankenstube. Miss Ophelia war die beste Krankenpflegerin, die man sich vorstellen konnte. St. Clare war oft bei Eva und auch Tom durfte Eva oft besuchen. Er trug sie auf seinen Armen durch das Zimmer oder - wenn das Wetter es erlaubte - auch durch den Garten. Er begann, auf der Veranda vor ihrem Zimmer zu schlafen. Dann - eines Nachmittags - schien es Eva besser zu gehen. Ihre Stimme klang frischer und sie setzte sich im Bett auf, um all' ihre kleinen Schätze zu ordnen und Freunde zu benennen, die sie erhalten sollten. St. Clare besuchte Eva. Später meinte er zu Miss Ophelia: "Vielleicht dürfen wir doch noch hoffen und sie behalten. Es geht ihr heute so viel besser."

Aber schon in derselben Nacht trat die gefürchtete Veränderung ein. Miss Ophelia bemerkte es sofort und rief nach Tom, der auf der Veranda schlief. Sie schickte ihn zum Doktor und weckte St. Clare. Er kam mit sorgenvoller Stirn in Evas Zimmer und beugte sich über seine Tochter. Eva schlief, aber ihr Gesicht hatte sich verändert. Es war blass und still. Der Doktor trat ein und sah sofort, dass Eva im Sterben lag. Allmählich erwachten auch Marie und Mammy und all die anderen. Schließlich standen alle auf der Veranda oder in Evas Zimmer. St. Clare sah und hörte nichts. Er hatte nur Augen für sein sterbendes Kind. Er hauchte in ihr Ohr: "Eva. Liebling!" Die blauen Augen öffneten sich und ein Lächeln huschte über Evas Gesicht. "Lieber Papa!" Sie wollte die Arme um seinen Hals schlingen aber sie fielen kraftlos zurück. Eva rang nach Atem. "Oh, wie ist dies furchtbar.", weinte St. Clare und griff nach Toms Händen. "Ich kann es kaum ertragen." Tom hielt die Hände seines Herrn, während ihm die Tränen die Wangen hinunter liefen. Eva lag schwer atmend in den Kissen, die Augen weit aufgerissen, aber feierlich und voll triumphierendem Glanz. "Eva, was siehst du?", beugte sich St. Clare noch einmal zu seiner Tochter hinunter. Ein Lächeln glitt erneut über Evas Gesicht. "Ach - Liebe, Freude und Frieden." , seufzte sie und starb.