Über den Jenissei

  • Autor: Verne, Jules

Am Abend des 25. August kam Krasnojarsk in Sicht. Die Fahrt von Tomsk bis hierher hatte acht Tage gedauert.

Glücklicherweise war von den Tataren immer noch nichts zu hören oder zu sehen. Nikolaus hatte vor, sich hier eine neue Stelle als Beamter zu suchen und Michael wollte sich mit Nadja auf den Weg zum Gouverneur machen.

Es war sieben Uhr abends und Michael saß in der Kibitka und versuchte die Eindrücke aufzunehmen, die er ohne seine Augen erfassen konnte.

"Ist die Stadt eingeschlafen?", fragte er schließlich. "Ich höre überhaupt nichts."

"Und ich sehe nichts", antwortete Nadja. "Kein Licht - nicht einmal Rauch aus den Schornsteinen."

"Sonderbare Stadt, wo die Leute so früh zu Bett gehen", meinte Nikolaus.

In Michael Strogoff stiegen böse Vorahnungen auf. Zehn Minuten später waren sie mitten im Zentrum. Der Ort war ausgestorben. Kein Atemzug dieser sonst so lebendigen Stadt.

Das letzte Telegramm aus dem Kabinett des Zaren vor der Unterbrechung der Funkverbindung hatte die Evakuierung von Krasnojarsk angeordnet. Die russische Regierung wollte ein breites Band Wüste zwischen den Tataren und Irkutsk legen.

"Du lieber Gott", jammerte Nikolaus, "wie soll ich hier eine Arbeit finden?"

"Sie werden mit uns nach Irkutsk fahren müssen, mein lieber Freund", redete ihm Nadja gut zu.

Sie betraten ein leeres Haus und schlugen dort ihr Nachtlager auf. Am folgenden Tag, dem 26. August fuhr die Kibitka durch eine Birkenallee hinunter zum Ufer des Flusses Jenissei.

Michael Strogoff macht sich Sorgen. Wie sollte man über den Fluss kommen? Sicherlich hatte man keine Fähre und kein Boot für die Tataren zurückgelassen.

"Ihr müsst genau hinsehen", wies er Nadja und Nikolaus an. "Die Ufer hinauf und hinunter, so weit ihr könnt. Irgendein Boot und sei es ein Kanu aus einer Baumrinde."

Aber nirgendwo war etwas zu sehen. Das Überqueren des Flusses schien unmöglich zu sein. Sie gaben nicht auf, und suchten weiter. Da stieß Michael auf weiche, längliche Gegenstände und rief nach Nikolaus und Nadja.

"Was ist das hier?"

"Das sind Schläuche", stelle Nikolaus fest. "Sechs mit Kumyss gefüllte Schläuche. Die können wir als Proviant gut gebrauchen."

Kumyss ist ein aus Stuten- und Kamelmilch zubereitetes Getränk. Nikolaus freute sich über die Erweiterung seines Speisezettels.

"Einen nehmen wir mit, die anderen leeren wir aus und füllen sie mit Luft. Sie werden unsere Kibitka über den Jenissei tragen", ordnete Michael an.

Zwei der Schläuche wurden dem Pferd umgebunden, zwei weitere zwischen Sitzkasten und Räder geflochten. Die Arbeit war bald getan. Das Ufer hier war ziemlich flach. So zog das Pferd die schwimmende Kutsche ganz leicht ins Wasser und bald glitten Pferd, Wagen und Passagiere dahin. Der Hund Serko schwamm lustig bellend nebenher.

So hätte man den Jenissei ohne besondere Schwierigkeiten überqueren können, wenn die Strömung gleichmäßig geblieben wäre. Unglücklicherweise jedoch gingen auf dem schäumenden Wasser verschiedene Wirbel ineinander über.

Die Kibitka fing auf einmal an, sich zu drehen. Das Pferd konnte kaum den Kopf über Wasser halten und lief Gefahr im Strudel zu ersticken. Auch Serko klammerte sich an die Kibitka. Michel Strogoff spürte genau, was vorging. Er sprach kein Wort.

Auch Nadja schwieg. Sie krallte sich ins Gestänge des Wagendaches, um nicht ins Wasser zu fallen.

Da warf Michael plötzlich seine Kleider ab und stürzte sich in den Fluss. Mit eiserner Faust griff er dem halb wild gewordenen Pferd in die Zügel und riss es so kraftvoll an sich, dass es sich aus dem Sog herausstrampeln konnte.

Die Kibitka entferne sich rasch der todbringenden Stelle.

"Bravo!", rief Nikolaus.

Den breiten Flussarm hatten sie nun geschafft und kamen auf einer Insel an Land. Dort fuhren sie unter prachtvollen Birken quer über die Insel zum schmaleren Arm des Jenissei. Hier war es leichter überzusetzen. Vor allem gab es keine Wirbel und Strudel.

Als sie den Strom endgültig überquert hatten, meinte der Kurier des Zaren: "Für uns war es schon schwierig genug, ich bin sicher, für die Tataren ist es ziemlich unmöglich!"

Jetzt konnte er endlich glauben, dass die Straße bis Irkutsk frei ist. Sicher hatte er die bei Tomsk aufgehaltenen Soldaten weit überholt. Zum ersten Mal seit der üblen Begegnung mit Iwan Ogareff in Omsk fühlte sich der Kurier des Zaren etwas erleichtert und durfte hoffen, dass er sein Ziel erreichte.

Die Kibitka rollte nun in südöstlicher Richtung auf der großen Steppenstraße, die in gutem Zustand war. Das Wetter blieb schön und die Reisebedingungen konnten nicht besser sein. Michael Strogoff hatte es sogar geschafft, dass Nikolaus sein Pferd eine schnellere Gangart angewöhnte und so schaffte man zehn bis zwölf Kilometer pro Stunde.

Die Orte, die sie durchquerten, waren genauso menschenleer wie Krasnojarsk. Als sie das Städtchen Kamsk hinter sich ließen, wurde Michael Strogoff klar, dass nur noch Nishny-Udinsk vor Irkutsk lag. Sollte diese Stadt ebenfalls verlassen sein, würde ihnen Nikolaus bis zum Ziel erhalten bleiben.

So kamen sie etappenweise immer ein Stückchen weiter nach Osten. Kurz vor Nishny-Udinsk veränderte sich plötzlich die Landschaft. Die Wälder trugen Spuren von Feuer, die Wiesen waren zertrampelt. Es war nicht zu übersehen, dass eine riesige Armee vorbeigezogen sein musste.

Man kann sich leicht vorstellen, dass Michael Strogoff mehr als beunruhigt war. Was waren das für Truppen? Es konnten unmöglich Teile der Armee des Emirs sein.

Am 8. September hielt die Kibitka mit einem plötzlichen Ruck an. Das Pferd scheute und Serko jaulte.

"Was ist los?", fragte der Kurier.

"Hier liegt eine Leiche!", antwortete Nikolaus und kletterte vom Wagen. Er bekreuzigte sich und schleppte zusammen mit Michael den Körper auf die Seite. Er wollte den Toten ordentlich begraben, aber der Kurier trieb ihn zur Eile an.

"Wir dürfen uns hier nicht aufhalten."

Hätte Nikolaus alle Toten, die sie von nun an fanden, bestatten wollen, so wäre er nicht mehr vom Fleck gekommen. Als die Stadt in Sicht kam, erkannten sie, dass dort alles lichterloh brannte.

Michael Strogoff wollte gerade den Vorschlag machen, von der Straße abzubiegen und um Nishny-Udinsk herumzufahren, da krachte aus den Büschen ein Schuss.

Eine Kugel pfiff, das Pferd brach tödlich getroffen zusammen. Im selben Moment sprengten ein Dutzend Reiter heran und umzingelten den Wagen. Die drei waren, ehe sie recht zur Besinnung kamen, gefangen.

Sie wurden sofort nach Nishny-Udinsk gebracht. Der Kurier hatte die Nerven behalten und war sich im Klaren, dass er blind wie er war, nichts tun konnte. Am Dialekt der Reiter erkannte er, dass es tatsächlich Tataren waren.

Er hörte aus den Gesprächen heraus, dass sie zu einem dritten Trupp gehörten, der sich mit der Armee des Feofar-Khan vor Irkutsk vereinigen wollte. Der Generalangriff auf Irkutsk, und die Eroberung der Stadt konnte demnach nur noch eine Frage der Zeit sein.

Das alles waren schlechte Nachrichten für Michael Strogoff. Aber er dachte nicht daran aufzugeben: "Ich werde durchkommen!", sagte er zu sich selbst.

Als die Tataren merkten, dass sie es mit einem Blinden zu tun hatten, trieben sie ihre bösartigen Späße mit ihm und setzten ihn auf ein ebenfalls blindes Pferd. Natürlich konnte es von seinem Reiter nicht geführt werden und stieß überall an.

Michael Strogoff ließ alles widerstandslos über sich ergehen. Einmal konnte Nikolaus sich nicht beherrschen und wollte seinem Freund zu Hilfe kommen. Aber da packten ihn die Tataren und prügelten auf ihn ein.

Eines Nachts wurde Nadja, die bisher wie durch ein Wunder von den Soldaten anständig behandelt worden war, von einem der Reiter belästigt. Michael Strogoff konnte das nicht sehen, wohl aber Nikolaus.

Er ging ganz ruhig zu dem Burschen, zog dessen Pistole aus der Satteltasche und ehe der reagieren konnte, fiel der Soldat getroffen zu Boden. Der Offizier hörte den Knall und kam herbei. Nikolaus wurde auf seinen Befehl gefesselt und über den Rücken eines Pferdes geschnürt.

Nadja und Michael waren mit einem Strick an eines der Pferde gefesselt. Der betrunkenen Reiter merkte nicht, dass beim Aufbäumen seines Tieres die halb durchgescheuerten Fesseln rissen, und sprengte mit seiner Abteilung davon.

So standen Michael und Nadja wieder allein auf der Straße.