Die letzte Nacht - Teil 2

  • Autor: Stevenson, Robert Louis

Sie einigten sich, das gemeinsam zu tun. "Egal was dabei herauskommt", sagte Utterson, "ich sorge dafür, dass Ihnen kein Nachteil daraus entsteht." So holten die beiden eine Axt aus der Küche.

"Ihnen ist die Gefahr bewusst, Poole", sagte der Anwalt, während er das schwere Gerät in der Hand wog.

"Wohl war, Sir", gab der Butler zurück.

"Nun gut, dann gilt es jetzt, ehrlich zu sein. Sie haben die Gestalt erkannt, die Ihnen da begegnet ist?", fragte der Anwalt. "Wir beide denken mehr, als wir gesprochen haben."

"Tja, es ging alles sehr schnell, Sir. Doch ich glaube, es war dieser Mister Hyde. Das Wesen hatte dieselbe Größe, denselben schnellen Gang und wer sonst hätte ins Labor hineingehen können. Zur Zeit des Mordes hatte er nämlich noch den Schlüssel bei sich", sagte Poole. "Doch das ist noch nicht alles. Sind Sie Mister Hyde schon einmal begegnet?", frage der Diener.

"Ja, einmal habe ich mit ihm geredet", sagte der Anwalt.

"Dann wissen Sie, wovon ich rede; irgendetwas an diesem Herrn war nicht ganz geheuer, etwas ließ einen erzittern, ging einem kalt durch Mark und Bein!"

Utterson bestätigte das. Auch wenn die Geschichte von Poole noch kein Beweis war, hatte er Befürchtungen in dieselbe Richtung. "Ja, ich glaube Ihnen. Der arme Henry ist ermordet worden. Und weshalb auch immer, ist sein Mörder noch im Zimmer des Opfers. Es ist an uns, Jekyll zu rächen. Rufen Sie Bradshaw", sagte Utterson.

Aufgeregt und blass kam der Bedienstete, doch Utterson wies ihn zurecht. "Reißen Sie sich zusammen", sagte er und erklärte ihm, was sie vor hatten. "Poole und ich werden uns Zutritt zum Arbeitszimmer verschaffen. Falls etwas nicht stimmt, oder ein Halunke durch die Hintertür entkommen will, müssen Sie mit kräftigen Stöcken bewaffnet dagegen gehen. In zehn Minuten stehen Sie auf Ihrem Posten an der Labortür", befahl Utterson.

Sie verglichen die Uhren. Poole und Utterson begaben sich mit Knüppeln ausgestattet in den Hof. Inzwischen hatten sich Wolken vor den Mond geschoben. Es war stockfinster. Der Wind ließ das Kerzenlicht flackern. Im Hörsaal angelangt, setzten sie sich schweigend nieder. Aus der Ferne waren Großstadtgeräusche zu hören, in der Nähe lag Stille über dem Dunkel, nur die Schritte aus dem Arbeitszimmer waren zu hören.

"So geht es Tag für Tag", wisperte Poole, "nur wenn ein neues Mittel ankommt, kehrt kurz Ruhe ein. Er muss ein schlechtes Gewissen haben, Sir. Blut hängt an jedem dieser Schritte. Und nun, Mister Utterson, hören Sie genau hin: Sind das die Schritte von Doktor Jekyll?"

Und in der Tat, waren die Schritte leicht und unregelmäßig und wiesen in der Tat einen großen Unterschied zum großen, gewichtigen Schritt von Henry Jekyll auf. "Ist das immer so?", fragte Utterson.

"Ja, nur einmal hörte ich es weinen, wie eine Frau - oder wie eine verlorene Seele. Am liebsten hätte ich selber mit geweint", sagte Poole.

Utterson überkam eisiger Frost. Die zehn Minuten waren vorüber. Mit der Axt in der Hand und verhaltenem Atem näherten sie sich dem Platz. "Jekyll", rief Utterson resolut, "Ich muss dich sehen!" Er machte eine kurze Pause. "Sei gewarnt. Wir sind voller Bedenken und müssen und werden dich sehen. Wenn du dem nicht zustimmst, kommen wir mit rüder Gewalt."

"Um Himmels Willen, sei gnädig", wimmerte es aus dem Zimmer.

"Das ist nicht Jekylls Stimme", rief Utterson, "das ist Hyde. Poole, weg mit der Tür!"

Mit einem Schlag, der das Gebäude erzittern ließ, hieb Poole auf die Tür ein. Ein Gekreisch wie von tierischer Furcht kam aus dem Raum. Nach dem fünften Schlag, brach das Schloss und die Tür fiel nach innen. Erschrocken traten Poole und Utterson einen Schritt zurück. Das Arbeitszimmer lag vor ihnen, in ruhigem Licht. Im Kamin knisterte ein angenehmes Feuer, der Teekessel knatterte, zwei Schubladen standen am Schreibtisch offen und Papiere lagen sorgfältig geordnet drauf. Abgesehen von den vielfältigen Chemikalien, die in die Vitrinen gestopft waren, lag vor ihnen ein gemütlich erscheinendes Zimmer.

Doch mitten im Raum lag schmerzverkrümmt, mit zuckendem Körper ein Mann. Auf leisen Sohlen schlichen sie näher, drehten den Körper auf den Rücken und blickten direkt in das Gesicht von Edward Hyde. Er trug einen Anzug des Doktors, der ihm viel zu weit war. Seine Gesichtsmuskeln zuckten noch, doch das Leben schien bereits vom Antlitz gewichen. In der Luft hing starker Geruch nach Bittermandel und Blausäure, in Hydes Hand war eine zerbrochene Phiole, so wusste Utterson, dass vor ihm der Leichnam eines Selbstmörders lag.

"Wir sind zu spät", sagte er ernsthaft, "zu spät zu retten und zu spät zu strafen. Hyde ist bei seinem Richter; uns bleibt jetzt nur noch, den Leib Ihres Herrn zu suchen", sagte Utterson.

Sie begannen, das überaus geräumige Haus zu durchsuchen. Die Kammern waren leer und nach dem Staub vor den Türen zu schließen, lange Zeit nicht geöffnet worden. Das Gerümpel im Keller war überwiegend noch von Jekylls Vorgänger, dem Chirurgen. Bereits beim Öffnen der Tür war ihnen klar, hier nichts finden zu können. Der Vorhang von Spinnennetzen war dicht und musste viele Jahre den Eingang versiegelt haben. Von Jekyll keine Spur.

Im Flur pochte Poole mit dem Fuß auf die Bodenfliesen. "Hier muss er liegen", sagte er, dem hohlen Klang lauschend.

"Oder er ist auf der Flucht", sagte Utterson. Doch die Tür zur Seitenstraße war verschlossen und der verrostet Schlüssel deutete nicht auf eine Nutzung hin. "Das ist nicht nach Gebrauch aus", sagte Utterson.

"Das sieht nicht nach Gebrauch aus", sagte Poole. "Sehen Sie nicht, Sir, dass er aussieht, als wäre ein Mensch auf ihm herum gestampft?"

"Ja", sagte Utterson, "und die Bruchstellen sind rostig. Das verstehe ich nicht". Sie gingen ins Arbeitszimmer zurück, mit einem zuweilen scheuen Seitenblick auf den toten Körper durchstöberten sie das Zimmer. Sie bemerkten Spuren von chemischer Arbeit, verschiedene abgemessene Portionen eines weißen Pulvers standen auf Tellern da, wie zum Versuch hergerichtet, an dessen Verwirklichung der unglückselige Mann gehindert worden war.

"Dieses Pulver musste ich ihm bringen", sagte Poole. Just in diesem Augenblick kochte der Teekessel mit pfeifendem Geräusch über und erschreckte die Beiden zutiefst. Sie gingen zum bereits angerichteten Teeservice, selbst der Zucker war in der Tasse bereit gelegt. Daneben lag aufgeschlagen ein religiöses Buch, von dem Utterson wusste, dass Jekyll es sehr verehrt hatte und von Hand hineingeschrieben hatte.

Ihr Weg führte sie zum Drehspiegel, in den sie mit Schauder blickten. "Dieses Glas hat sicher seltsame Geschehnisse gesehen", sagte Poole; den Beiden jedoch zeigte er lediglich die rötliche Glut, die sich an der Decke spiegelte und ihre eigenen, ängstlichen Gesichter.

"Wozu hat Jekyll ihn wohl gebraucht?", fragte Utterson. Sie wandten sich dem Arbeitstisch zu. Zuoberst lag ein großer Briefumschlag, der den Namen von Mister Utterson trug. Der Anwalt entsiegelte ihn, der Inhalt flatterte auf den Boden. Das erste Papier war dasselbe Testament, das Jekyll vor Monaten bei ihm hinterlegt hatte. Es sollte im Falle seines Todes oder Verschwindens als Geschenkurkunde für Edward Hyde dienen; verblüfft las der Anwalt jedoch auf diesem Papier seinen Namen eingetragen: Gabriel John Utterson. Ratlos blickte er zu Poole, auf das Testament und dann auf den auf dem Teppich liegenden toten Verbrecher.

"Mir dreht sich alles", sagte Utterson. "Da haust er seit Tagen hier, muss sich selbst enterbt sehen, er muss voller Wut gewesen sein und doch hat er das nicht vernichtet".

Der nächste Brief war ein kurzes Schriftstück des Doktors mit Datum. "Oh, Poole. Der Doktor hat heute noch gelebt", rief der Anwalt. "In so kurzer Zeit kann er nicht verschwunden sein. Er muss noch leben. Vielleicht ist er entflohen. Aber weshalb und wie? Und wenn, wie kam es dann zu diesem Selbstmord. Oh, ich fürchte, wir verstricken Ihren Herrn noch in eine fürchterliche Katastrophe."

"Weshalb lesen Sie den Brief nicht?", fragte Poole.

"Weil ich mich fürchte", erwiderte der Anwalt. "Hoffen wir, dass es grundlos ist". Er hob das Papier vors Gesicht und las:

"Lieber Utterson! Wenn du diesen Brief in Händen hältst, werde ich verschwunden sein. Ich kann noch nicht voraussehen, unter welchen Umständen. Doch mein Gespür und alle Feinheiten meiner unbeschreiblichen Situation sagen mir das sichere Ende voraus. Lies zuerst den Bericht, den Lanyon, wie er drohte, dir anvertraut hat. Wenn du danach noch mehr hören magst, dann lies die Enthüllung deines unglücklichen und unredlichen Freundes Henry Jekyll."

"Da war doch noch ein drittes Schriftstück?", fragte Utterson. Poole bückte sich nach dem Teil, das aus dem Umschlag geflattert war. Ein umfangreiches, mit vielen Siegeln verschlossenes Paket.

Utterson steckte es ein. "Über dieses Papier wollen wir schweigen", sagte er zu Poole. "Ist Ihr Herr geflohen oder tot, dann können wir wenigstens versuchen, seinen Ruf zu retten. Ich gehe nun nach Hause, dieses Papier in Ruhe zu lesen. Vor Mitternacht komme ich zurück. Dann rufen wir die Polizei".

Sie verschlossen die Tür des Hörsaals hinter sich. Mühsam schleppte sich Utterson nach Hause, in sein Büro, die Berichte zu lesen, die die Rechtfertigung für dieses Geheimnis bergen sollten. Die Dienstboten blieben ums Kaminfeuer sitzend in der Eingangshalle zurück.