Vom Anfang der Welt

  • Autor: Autor Unbekannt

Es hat tatsächlich einmal eine Zeit gegeben, da gab es nichts in diesem Universum. Weder Sand noch See, weder Meer noch die Erde, keinen Himmel und erst recht keine Sterne. Ganz am Anfang allen Werdens gab es lediglich Ginnungagap, das gähnende, lautlose Nichts.

Doch eines Tages erschien der Geist des Allvaters, jenem, dem wir heute alles zu verdanken haben. Er schuf das Sein und zwei sehr gegensätzliche Bereiche: Im Süden entstand das Land Muspelheim, das Land der Glut und des heißen Feuers. Im Norden dagegen schuf Allvater Niflheim, das Land der Nebel, der Kälte und der Finsternis. Im Norden entsprangen auch zwölf Flüsse aus einer einzigen tosenden Quelle.

Und diese Flüsse stürzten in den Abgrund und erstarrten auf der Grenze zwischen dem Reich im Süden und dem im Norden zu Eis. Im Süden aber stoben die Funken durch die Luft und bald flogen sie auf das Eis, das zu schmelzen begann.

So entstand neues Leben, denn das Eis gab den Riesen Ymir frei und eine riesige Kuh namens Audhumbla. Und das es außer diesen beiden noch immer kein anderes Lebewesen gab, ernährte die Milch der Kuh den Riesen redlich. Doch die Milch schien besondere Kräfte in sich zu tragen, denn eines Tages, der Riese hatte sich zum Schlafen hingelegt, wuchsen doch tatsächlich aus seiner Achselhöhle zwei Riesenwesen – ein Mann und eine Frau! Diese beiden Wesen sind übrigens der Urvater und die Urmutter der Frost- und Reifriesen.

Aber noch immer gab es nicht mehr als Feuer, Wasser und Eis in den beiden Reichen, und so blieb der Kuh Audhumbla gar nichts anderes übrig, als sich vom Eis zu ernähren, das sie geduldig schleckte, denn Gras gab es ja nicht zu fressen. Nachdem die Kuh nun drei Tage lang Eis geschleckt hatte, stand plötzlich ein Mann vor ihr, den sie durch ihr fleißiges Schlecken aus dem kalten Eis befreit hatte. Er nannte sich Buri und brachte es fertig, aus eigener Kraft einen Sohn zu zeugen – obwohl er gar keine Frau an seiner Seite hatte.

Diesen Sohn nannte er Börs, und als dieses Kind endlich erwachsen war, nahm er Bestla, die Tochter des Riesen Blöthorn zur Frau. Die beiden waren sehr glücklich miteinander und hatten gemeinsam wiederum drei Söhne: Odin, Wili und We. Diese drei waren dazu auserkoren, das Göttergeschlecht der Asen zu begründen!

Die Jahre gingen ins Land und eines Tages starb der Riese Ymir. Die drei Brüder Odin, Wili und We nahmen den toten Körper und warfen ihn in den Abgrund, der sich nach und nach zwischen den beiden Reichen Muspelheim und Niflheim gebildet hatte. Und siehe da: Aus dem Körper des toten Riesen entstand die Erde so wie wir sie heute kennen. Sein Blut wurde zum Wasser der Flüsse, Seen und Meere, seine Knochen und Zähne bildeten die Berge und Felsen und aus seinem Schädel wurde schließlich die wunderschöne Himmelswölbung.

Ganz zum Schluss ihrer Arbeit nahmen die drei Götter Odin, Wili und We das Hirn des Riesen Ymir und warfen es in die Luft. Und siehe da, es bildete die vielen kleinen und großen Wolken, die tagein, tagaus ihre Bahnen am Himmelszelt ziehen. Die Haare des Riesen dagegen wurden zu Bäumen, seine Augenbrauen bildeten einen Wall, den man Midgard nannte, und das Land der Menschen gegen das der Riesen abtrennen sollte.

Und weil die drei Asen so mächtig waren, gelang es ihnen, aus Funken, die aus dem Südreich zu ihnen hinüber wehten, Sterne zu bilden, denen sie sogar Namen und eine feste Umlaufbahn gaben. Bald schon hatten die drei ihr Werk getan: die Erde wurde trocken, das Meer umspülte das Land und bald schon begann es überall zu grünen und zu blühen.

Eines Tages wanderten Odin und seine Brüder am Strand des Meeres entlang, als sie zwei Bäume entdeckten: eine Esche und eine Ulme. Da kam es ihnen in den Sinn, die ersten Menschen zu formen, einen Mann und eine Frau. Odin nahm sich der Esche an und machte aus ihm den Mann, aus der Ulme aber formte er danach das Weib. Er hauchte ihnen Leben und Geist ein, Wili tat ein Übriges und gab ihnen Verstand und Gefühl und We sorgte schließlich dafür, dass Mann und Frau die Sinne des Gesichts sowie ihr Gehör und die Sprache benutzen konnten.

Doch damit hatten die drei Götter noch immer nicht genug getan. Alsbald erschufen sie neun Reiche in der Welt, drei unterirdische, drei irdische und drei himmlische. Ganz tief unten lag dabei das Land, das wir schon kennen: Niflheim, das Land des Eises und des Todes. Hierhin kamen all jene, die in ihrem Leben nicht gut und nach den Gesetzen gelebt hatten, die zu Verbrecher wurden und Meineide schworen.

Ein anderes Reich nannte sich Schwarzalfenheim, und es war das Land der Nachtzwerge. Hässliche Geschöpfe seien dies, so erzählte man sich damals. So hässlich und abgrundtief verwachsen, dass man sie kaum beschreiben könne. Ob sie gut oder böse waren, kann man selbst heute nicht einmal genau von ihnen sagen. Auf der einen Seite schmiedeten sie wundervollen Schmuck, scharfe Waffen und Schwerter. Aber des Nachts quälten und ärgerten sie die Menschen, waren aber dagegen ausgesprochen dankbar, wenn ihnen jemand aus der Patsche half oder sich auf andere gütige Weise ihrer annahm.

Im irdischen Bereich befanden sich das Land Midgard, das von den Menschen bewohnt wurde, und das Riesenland, jenes Reich, das den Frost- und Reifriesen gehörte. Außerdem gab es Wanenheim, das Land der Erd- und Wassergötter, die man Wanen nannte.

Im himmlischen Bereich befand sich Muspelheim, das Feuerland. Und es gab dort zudem Lichtalfenheim, wo die Lichtzwerge lebten, die immer schön anzusehen und fröhlich waren. Sie erwiesen sich im Laufe der Jahrhunderte als wahre Freunde der Menschen.

Natürlich gab es im Himmel auch einen Bereich, der den Göttern Odin, Wili und We vorbehalten war. Dieses Reich der Asen wurde Asgard genannt, das heilige Land der Asen. Mächtige zwölf Schlösser hatten sich die Götter hier gebaut. Über eine Regenbogenbrücke gelangt man vom himmlischen Reich ins irdische Reich, doch diese Brücke können nur Götter überschreiten. Überdies wird die Brücke bewacht: Brückenwärter ist Heimdall, der extra ein Horn bei sich trägt, um für den Tag der Tage, den Tag der Götterdämmerung bestens gerüstet zu sein. Denn an jedem Tag wird Heimdall die Götter mit seinem Horn zum Kampfe rufen

So ist es geschehen vor vielen vielen Jahrhunderten. Die Götter selbst haben die Geschichte überliefert.

Der höchste aller Götter war damals übrigens Odin, den manche auch unter dem Namen Wodan kennen. Er lebte in Walhalla, der größten von den Göttern erschaffenen Halle und war Herrscher über die ganze Welt und die Menschen. Seine besten Weggefährten waren zwei Raben: Hugin und Munin. Hugin, der Gedanke, und Munin, das Gedächtnis, waren Odin treu ergeben. Jeden tag schickte er die Raben in die Welt hinaus und sie berichteten ihm alles, was sie gesehen und gehört hatten, sehr ausführlich.

Manchmal aber machte sich Odin selbst auf den Weg zu den Menschen. Natürlich in einer Verkleidung, denn sonst hätten sich die Menschen doch wohl vor ihm versteckt. Auf einem weißen Pferde ritt er vom Himmel hinab zur Erde, nahm menschliche Gestalt an. Oft trug er dabei einen blauen, mit Sternen besäten Mantel um die Schultern und einen Hut mit einer breiten Krempe. Sah er irgendwo Trauer, so tröstete er, sah er Notleidende, so half er.

Doch auch dem Kampf wich Odin nicht aus. In strahlender Rüstung, mit Gungnir, seinem mächtigen Speer, zog er aus, kämpfte aber selbst nie aktiv mit, sondern zeichnete mit seinem Speer jenen Männern ein Zeichen ins Antlitz, die in diesem Gefecht sterben sollten. Begleitet wurde Odin dabei von den Walküren, jenen wunderschönen Schlachtenjungfrauen, die die Toten schließlich auf ihren feurigen Pferden nach Walhalla brachten, wo sie ewige Ruhe fanden.

Odin hatte auch einen Sohn, dem er den Namen Thor gegeben hatte. Er war der Donnergott – und manche nannten ihn auch Donar. Er half Menschen und Göttern und stand vor allen Dingen den Schwachen und Bedürftigen bei. Und Thor war mächtig: Er beherrschte den Wind und die Wellen, Blitz und Donnern und wusste alles zu gegebener Zeit richtig einzusetzen.

In einem rollenden Wagen, der von Böcken gezogen wurde, fuhr Thor über die Wolken. In der rechten Hand hielt er stets einen Hammer, der Mjölnir genannt wurde und die Gabe besaß, nach einem Wurf stets von selbst zu Thor zurückkehren zu können. Verehrt wurde er schon damals nicht in Tempeln, so wie alle anderen Götter ebenfalls nicht in gemauerten Häusern verehrt wurden, sondern in der Natur, in den Wäldern und Hainen. Thors heiliger Baum war die mächtige Eiche.

Königin der Götter und Menschen war Frigga, Odins Frau, die mit dem Walvater zusammen den Götterthron bestiegen hatte. Man verehrte die heilige Frau wegen ihrer Güte, als Beschützerin der Ehe und der häuslichen Arbeit. Und natürlich sorgte auch sie für reichlichen Kindersegen im Haus der Menschen. Auch sie schritt nicht zu Fuß durch die Welt, sondern reiste in einem Wagen, der von Katzen gezogen wurde. Aber auch andere Tiere waren der Göttin heilig. Zum Beispiel der Kuckuck, die Schwalbe und der Storch.

In die Reihe der Götter reihte sich damals auch Baldur ein, der Gott der Frühlingssonne, der stets für das Gute und Gerechtigkeit kämpfte. Dann gab es noch Hädur, den Gott des Winters, der blind und der Bruder Baldurs war. Ihm standen die Finsternis und die Kälte nahe. Niemand mochte ihn und überall, wo er herrschte, erstarb in kurzer Zeit einfach alles.

Odins Bruder Loki war der Gott des Feuers. Er war tückisch und wankelmütig und verbrannte mit seinen Flammen die Toten. Mal verbündete er sich mit den Göttern, mal mit den Riesen. Niemand wusste genau, woran er mit Loki war. Zudem hatte Loki zwei grauenvolle Kinder: den Fenriswolf und die Midgardschlange.

Das Schreckliche dabei war, dass es in einer alten Weissagung hieß, der Wolf Fenris würde den Göttern einst den Untergang bringen. Natürlich fürchteten sich die Götter vor dem Wolf und banden ihn schließlich mit Stricken und Seilen an einen Felsen im Meer. Das Maul sperrten sie ihm mit einem Schwert auf und der Wolf heute fürchterlich vor lauter Wut und Schmerz. Aber jeder ahnt es: Am Tag der Götterdämmerung wird sich der Wolf Fenris aus seiner Gefangenschaft befreien und gegen die Asen kämpfen.

Und ihm zur Seite wird die Midgardschlange stehen, die auf dem Grunde des Meeres ruht und die ganze Erde mit ihrem langen Leib umfasst hält.

In der Mitte des Himmelsreichs der Götter stand Yggdrasil, eine immergrüne, mächtige Weltesche, die mit ihrer riesigen Baumkrone über das Himmelsgewölbe hinausragte und ihre Äste weit über die ganze Welt breitete. Ihre Wurzeln standen im Reich des Gewesenen, das man Hel nannte. Die Esche stand am Urdbrunnen, an dem auch die Nornen wohnten, die Urd, Werdandi und Skuld hießen. Sie wussten über alle Götter und Menschen genau Bescheid und kannten das Schicksal eines jeden – auch für die Zukunft. Und dieses Wissen trugen ausschließlich die Nornen in sich, niemand anders, nicht einmal Odin, der Göttervater.

Doch eines Tages würde Yggdrasil nicht mehr grün sein, den Nidhogg, ein mächtiger Drache, nagte an den Wurzeln der großen Weltesche. Eines Tages wird die Esche zu welken beginnen. Und das wird der Tag sein, vor dem sich alle fürchten. Der Tag der Götterdämmerung. Ragnarök. An diesem tag wird sich der Fenriswolf aus seinen Fesseln befreien, die Midgardschlange wird sich aus dem Meer erheben, die Riesen werden kommen – und die Götter und Helden sich zu ihrem letzten Kampfe sammeln.

Das wird das Ende der Welt sein. Dann werden Asgard und Midgard vergehen und alles Leben erlöschen!