Pidder Lüng

  • Autor: Autor Unbekannt

Auch wenn man es sich vielleicht gar nicht mehr vorstellen kann, so gut wie es den Bewohnern der Insel Sylt heute geht, so war es sicherlich nicht immer. Es gab nämlich Zeiten, in denen beispielsweise die Hörnumer Bürger nicht einmal heiraten konnten, weil sie weder ordentliche Wohnungen noch Möbel noch irgendein Auskommen hatten. Ja, sie waren zwar Fischer, doch das brachte nicht wirklich viel ein, und so ging es ihnen mehr schlecht als recht.

Nur einer war damals eine Ausnahme und trug den Namen Jakob Lüng. Er hatte ein ordentliches Haus und von seinem Vater sogar ein altes, aber immer noch seetüchtiges Schiff geerbt und war im Laufe der Jahre zu so viel Geld gekommen, dass er in Notzeiten den übrigen Hörnumern immer wieder einmal unter die Arme greifen konnte.

Jakob Lüng war aber deshalb kein Angeber, sondern lebte mit seiner Frau still und zurückgezogen, sprach wenig und verließ sein Dorf nur selten. Eines Tages schenkte ihm seine Frau einen kleinen Sohn, den Vater und Mutter Peter nannten. Doch bald schon wurde Peter Lüng nur noch Pidder gerufen, so wie es auf der Insel eben vom Wortlaut her üblich ist.

Auf Sylt lebte zur gleichen Zeit auch ein Pfarrer in dem kleinen Ort Rantum, der kaum jemals etwas zu tun bekam. Trauungen und Kindstaufen gab es nicht und wenn mal jemand starb, dann setzte man seinen Leichnam entweder in aller Stille auf einem abgelegenen Kirchhof bei oder bestattete den Toten gleich auf See. So hatte der Pfarrer kaum Einkünfte und auch ansonsten achteten die Menschen ihn besonders gut, denn sie hielten nicht viel von Heiligenverehrung, vom Fegefeuer oder der Hölle.

Da half werden Bitten noch Betteln, die Inselbewohner blieben stur. Der Pfarrer konnte weder etwas mit Bannflüchen noch mit guten Worten erreichen. Und selbst als er den Syltern anbot, dass sie ihm statt Geld auch einen Teil ihrer Fische als Entlohnung geben könnten, reagierten sie nicht.

Doch eigentlich stimmt das nicht ganz. Eines Tages nämlich klopfte ein Fischer an die Tür des Pfarrers und sagte, dass er den Pfarrern von seinen Hörnumer Kollegen grüßen solle. Auf dem Rücken trug der Mann einen großen, schweren Sack. Mit den Worten, er solle dem Herrn Pfarrer einen Teil des Rochenfangs aushändigen, überreichte der Fischer seine Last und verschwand.

Nun freute sich der Pfarrer schon sehr auf seinen Anteil an dem Fang! Wie staunte er aber, als er den Sack öffnete und darin nur lauter „Rochelprotter“ fand, jene Giftstacheln von Giftrochen, die damals im Meer um Sylt herum häufig anzutreffen waren. Da ärgerte es den Pfarrer sogleich sehr, dass er dem Überbringen dieser „Gabe“ auch noch ein Trinkgeld gegeben hatte.

Die Wut des Pfarrers steigerte sich zusehends, je mehr er über diesen Frevel der Hörnumer nachdachte. Und weil er endlich einsah, dass weder die eine, noch die andere Methode zum Erfolg führte, so wandte er sich an die Obrigkeit, sie möge doch Vögte nach Sylt entsenden, um die halsstarrigen Fischer zur Vernunft zu bringen. Und so geschah es dann auch, doch die Fischer hielten nicht viel von diesen feinen Leuten.

Unterdessen war der Sohn von Jakob Lüng herangewachsen. Die Fischer trieben immer wieder mal ihre Späße mit dem Kind, um sich so ein wenig ihre lange Zeit zu vertreiben. Und wenn Pidder bemerkte, dass sie ihn wieder einmal nur „hoch“ genommen hatten, dann wurde er traurig und missmutig. Bald schon vertraute das Kind niemandem mehr – mit Ausnahme seiner Eltern.

Auch wenn Pidder mit anderen Kindern zu tun hatte, mit denen er hin und wieder auch mal ein wenig in Streit geriet, aber nie besonders doll, dann ärgerte ihn das hinterher noch mehr, vor allen Dingen dann, wenn es ein Mädchen gewesen war, mit dem er gestritten hatte. So wurde Pidder Lüng mit den Jahren eigensinnig und misstrauisch, widerspenstig und hartnäckig.

Natürlich half er seinem Vater beim Fischfang, sobald Pidder Lüng den Kinderschuhen entwachsen war. Eines Abends hatte der junge Mann ein unheimliches Erlebnis. Er war zu dem Ort gegangen, an dem einst das Haus seines Großvaters gestanden hatte. Gerade zu dieser Zeit waren die ersten Vögte auf Veranlassung des Pfarrers auf die Insel gekommen. Als Pidder nun so über das Grundstück seines Großvaters schaute, da entdeckte er eine Gestalt im Dunkeln. Je genauer er dieses Wesen anschaute, desto deutlicher konnte Pidder es erkennen.

„Wer bist du?“, fragte er nach einer ganzen Weile. Das Wesen antwortete: „Ich bin die Stavenhüterin. Dort wo einst rechtschaffene und freie Menschen lebten, da bewache ich die Stätte ihres Wirkens, damit der Ort nicht durch Lug und Betrug, durch Unrecht und Unterdrückung entweiht wird.“ Und nach einer Weile fügte die Stavenhüterin hinzu: „Wenn doch nur Jens Lüng noch leben würde!“

Da horchte Pidder Lüng auf: „Jens Lüng? Das war mein Großvater“, sagte er. „Wie schön wäre es“, antwortete da die Stavenhüterin, „wenn du wie dein Großvater Friesland vor der immer näher kommenden Verwüstung, vor allen Ärgernissen retten könntest! Wenn du eintreten würdest für Tugend und Freiheit! Und wenn du dein Leben geben würdest für die gute Sache, so wie es schon deine Vorväter getan haben. Lewwer duad üs Slaaw – lieber tot als Sklave, sagten diese Männer einst.“ Pidder Lüng war tief erschüttert und schwor, sein Leben in den Dienst der Freiheit der Friesen zu stellen. Nach diesem Schwur verschwand die Stavenhüterin ganz plötzlich.

Mehr und mehr Jahre gingen ins Land. An der Situation auf Sylt aber änderte sich nichts. Doch dann kam jener Tag, der das Leben der Inselbewohner drastisch ändern sollte. Pidder Lüng hatte an jenem Morgen für seine Mutter Grünkohl aus Westerland geholt, weil dieser Kohl auf der Erde in Hörnum nicht besonders gut wuchs. Vater und Mutter Lüng liebten Grünkohl über alle Maßen und deshalb hatte es dem Sohn, der inzwischen schon 26 Jahre alt war, nichts ausgemacht, die schwere Last den weiten Weg zu tragen.

Am nächsten Tag kochte die Mutter das Kraut und abends saß man gemütlich beisammen, um sich das Mahl schmecken zu lassen. Plötzlich öffnete sich ohne vorheriges Klopfen die Tür zur Stube und ein junger Mann in kostbarer Kleidung trat ein. Begleitet wurde er von jenem Pfarrer, dem die Fischer einst so übel mitgespielt hatten, dem Landvogt von Hörnum und dem Strandvogt von Rantum.

Der gut gekleidete Mann polterte gleich los: „Wohnt hier jenes Gesindel, dass sich Gott und den Oberen nicht unterwerfen möchte?“ Daraufhin ließ Peters Mutter vor lauter Schreck den Löffel in den Grünkohl fallen und Pidder zerbrach seinen vor lauter Wut. Doch er sagte nichts. Nur sein Vater antwortete: „Wir sind kein Gesindel, sondern gottesfürchtige Fischer. Wer aber seid Ihr, der es wagt, in das Haus eines freien Friesen ohne Aufforderung einzudringen?“

Da staunte der gut gekleidete Jüngling nicht schlecht. „So, so. Ihr wollt also wissen, wer ich bin?“, entgegnete er höhnisch. „Ich bin der Sohn des Amtmanns Henning Pogwisch in Tondern und bin hier, um Euch Gehorsam beizubringen und Euch für Euer rebellisches Verhalten zu strafen. Es kann ja wohl nicht angehen, dass Leute wie Ihr dem Pfarrer zur Entlohnung giftige Rochenstachel zukommen lasst!“

Kaum hatte der Sohn des Amtmanns seine Worte gesprochen, da kroch ein Husten in seiner Kehle empor, der ihn stark röcheln ließ. Umm sich zu befreien, aber auch, um seinem Ärger Luft zu machen, spuckte er aus voller Seele in den Kohltopf der Familie Lüng.

Das war zu viel für Pidder Lüng! Glühend und zitternd vor Zorn stand er auf, packte den Amtmannsohn und stülpte ihn kopfüber in die Kohlschüssel. Dabei sprach er unbeirrt die Wort: „Wer in den Kohl spuckt, der soll ihn auch fressen!“ Klar, dass der junge Pogwisch dieses Attentat nicht überlebte!

Seine Begleiter verließen sofort das Haus, nur diejenigen, die draußen gewartet und es sich dort schon einmal so richtig „gemütlich“ gemacht hatten, kamen nun in Aufruhr. Jene unleidigen Gesellen wie Henker, Fußknechte und Diener hatten nämlich längst damit begonnen, die Plätze, an denen normalerweise die Fische nach dem Fang getrocknet wurden, für ihre eigene „Beute“ vorzubereiten. „Hier hängen wir die Strandräuber“, riefen sie immer wieder.

Doch da hatten die Herren die Rechnung ohne die Fischer gemacht! Denn die waren längst noch nicht gefangen und hatten auch gar nicht vor, sich von diesen Gesellen des Amtmanns fangen zu lassen. „Abgaben wollt Ihr von uns haben?“, riefen sie aufgebracht. „Wir wollen Euch gut entlohnen!“ Und dann ergriffen die Fischer die Schwänze der Giftrochen und hieben damit auf die Knechte des Amtmanns und seiner ganzen Gefolgschaft ein.

Nun meinte auch der Pfarrer, seinen Beitrag leisten zu müssen. „Ich verfluche euch“, rief er immer wieder. „Fahrt zur Hölle, ihr Heiden!“ Mit seinem Geschrei erreichte der Pfarrer aber nicht mehr, als dass er die aufgebrachten Fischer erst recht auf sich aufmerksam machte. Und weil sie eine ungeheure Wut auf den Pfarrer hatten, bekam er es natürlich erst recht mit den giftigen Stacheln ab. So stark, dass ihm zum Schluss die Haut nur noch in Fetzen am Körper hing und er wenige Tage nach dem Vorfall starb.

Pidder Lüng und die anderen Männer aber tauchten unter. Pidder selbst bestieg das Boot seines Vaters und flüchtete über das Meer. Jahrelang soll er sich nicht mehr nach Hörnum gewagt haben. So erzählte man zumindest.

Als der Amtmann vom gewaltsamen Tod seines Sohnes auf Sylt erfuhr, schickte er Männer aus, um die Verantwortlichen strafen zu lassen. Doch auf ganz Sylt lebten nur noch Alte und Kinder, alle anderen hatten die Insel verlassen. Auch Jakob Lüng und seiner Frau hatte man die Flucht nahe gelegt, denn immerhin war es ihr Sohn gewesen, der für den Tod des jungen Mannes verantwortlich gemacht werden konnte.

Jakob Lüng konnte sich allerdings keinen Grund vorstellen, warum er die Insel verlassen sollte. So suchte seine Frau schließlich heimlich Hilfe bei einem Nachbarn. Und der stand der Frau bei. In der Nacht schickte er, so wie er es mit ihr verabredet hatte, einige merkwürdige Gestalten zum Haus der Lüngs. Dort hatte Frau Lüng unterdessen alles für die Flucht vorbereitet. Heimlich natürlich.

Nun ließ sich Jakob Lüng auch ohne großen Widerstand festnehmen und abführen. Schweigend ging man in die Nacht hinaus, durch die Dünen und dann am westlichen Strand Richtung Norden. Drei Stunden Fußweg lag hinter der merkwürdigen Gruppe, als sie an ein halb vom Sand verwehtes Häuschen kam, das in einer Gegend stand, in der sich Jakob Lüng rein gar nicht auskannte. Die Tür wurde auf ein Klopfzeichen hin geöffnet – und das Ehepaar Lüng war gerettet.

Die Häscher des Amtmanns aus Tondern fanden schließlich nur noch ein leeres Haus in Hörnum vor. Das Haus der Familie Lüng plünderten sie nun so wie alle anderen Häuser im Ort auch. Außerdem forderten sie alle wohlgesinnten Sylter auf, sich ihnen anzuschließen. Doch „wohlgesinnte“ Sylter gab es nicht! Ganz im Gegenteil. Bald waren alle Bewohner der Insel dazu bereit, die Rochenschwänze in die Hand zu nehmen, um es den Hörnumer Fischern gleich zu tun!

Für den Amtmann und seine Mannen kam es aber noch viel schlimmer. Denn nachdem sie in und um Tondern herum den Bauern ebenfalls die letzten Dukaten aus der Tasche gezogen hatten, waren auch diese bereit zum Aufstand. Davon aber bekam zur rechten Zeit die Regierung Wind und ließ den Amtmann absetzen und aus dem Reich vertreiben.